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       # taz.de -- Frans Hals in der Gemäldegalerie Berlin: Zärtlichkeit für Randexistenzen
       
       > Die Berliner Gemäldegalerie feiert den niederländischen Porträtmaler
       > Frans Hals. Die Bilder des „Meisters des Augenblicks“ wirken ungeahnt
       > zeitlos.
       
   IMG Bild: Frans Hals, „Catharina Hooft mit ihrer Amme“, Detail, um 1619/20
       
       Verschmitzt blickt das Baby aus dem Bild, mit feinem Lächeln auf den Lippen
       und einem Blick, so wissend und nachsichtig, als könnte es in die Zukunft
       blicken. Als hätte es die Winzigkeit des Menschen in Zeit und Raum erkannt
       und würde sich milde amüsieren über die vielen Finger der Betrachtenden,
       die seit mehr als 400 Jahren auf es zeigen und meinen, die eigenen Kinder,
       Nichten und Enkelinnen in ihm zu erkennen.
       
       Ausstaffiert mit einem goldbestickten Brokatkleid, das Gesicht umrahmt von
       filigraner Klöppelspitze, wird das Kind vor dunklem Hintergrund von einer
       schlicht gekleideten Frau mit sanftem Ausdruck gehalten. Sie bietet ihm
       eine Birne an.
       
       Doch ist es weder die Mutter Maria mit dem Jesusbaby noch überhaupt eine
       Mutter oder zumindest nicht die des abgebildeten Kindes, welche der
       Niederländer Frans Hals hier im Jahr 1620 auf die Leinwand bannte, sondern
       die Amme. Im Arm hält sie die junge Catharina Hooft. Die Vertrautheit
       zwischen Kind und Frau ist so greifbar, dass der Standesunterschied
       lediglich durch die Kleidung markiert ist.
       
       Die ungewöhnlich gleichberechtigte Darstellung der Bediensteten macht das
       Gemälde zu einer Seltenheit im 17. Jahrhundert und steht damit doch
       exemplarisch für das Gesamtwerk des 1580 in Antwerpen geborenen Malers, der
       nicht nur für seinen ungestümen Strich und allzu menschliche Ausdrücke
       bekannt wurde, sondern auch für die Darstellungen der Nebenfiguren, der
       Underdogs und Randexistenzen der Gesellschaft seiner Zeit.
       
       Erste große Retrospektive seit Jahrzehnten 
       
       Nun sind mehr als siebzig seiner Arbeiten in der [1][Gemäldegalerie] zu
       sehen. Es ist die erste große Retrospektive seit mehreren Jahrzehnten, die
       hier gemeinsam mit der National Gallery London und dem Amsterdamer
       Rijksmuseum realisiert wurde. Vielleicht war es die internationale
       Kooperation, welche die Schau für die Verhältnisse Berliner Museen
       erstaunlich weltgewandt und komplex kontextualisiert, vielleicht die eigene
       große Sammlung des Hauses mit Werken des Künstlers.
       
       Klar im Zentrum steht das Bildnis einer weiteren Außenseiterin des
       Hals’schen Werkkörpers, Barbara Claes, die „Malle Babbe“ – eine geistig
       beeinträchtigte Insassin des Harleemer „werkhuis“, einer Mischung aus
       Zucht-, Armen- und Irrenhaus, in das Jahre nach Entstehen des Bildes auch
       zwei der zehn Kinder des Malers zeitweilig aufgenommen wurden.
       
       Wie auch schon beim „Bildnis der Catharina Hooft mit ihrer Amme“ handelt es
       sich hier um eine Mischung aus naturalistischem Porträt und Genrebild. Die
       Haltung der Frau und der kühne Strich, der nur im Gesicht zu dichterer
       Modellierung findet, betonen diesen Umstand.
       
       Seit 1874 in der Sammlung der Gemäldegalerie, stellte die Arbeit stets ein
       Kernstück des Berliner Hauses dar – haben sich doch unzählige spätere
       Künstler von ihr begeistern und inspirieren lassen. Unter ihnen auch Jan
       Steen und Gustave Courbet, deren Arbeiten sich ebenfalls in der Ausstellung
       finden. Gleich neben einigen Fälschungen, die teilweise jahrzehntelang dem
       Künstler zugerechnet wurden.
       
       Auch Fälschungen ausgestellt 
       
       Das gleichberechtigte Ausstellen der Fälschungen fällt auf – und ist nicht
       nur höchst interessant, sondern in Anbetracht der Hals’schen Zärtlichkeit
       für halbseidene Randexistenzen auch durchaus konsequent. Als solche
       entlarvt, fallen sie trotzdem auf.
       
       So wirkt die New Yorker „Malle Babbe“ aus der Sammlung des MoMA, die
       mittlerweile nur noch als „im Stil von Frans Hals“ bezeichnet wird,
       statisch und missproportioniert im Verhältnis zum Original. Zu plump ist
       der abgebildete Körper, zu ausformuliert der Pinselstrich.
       
       Es fehlt die Verve, die Hals teils auch bei Auftragsarbeiten der gehobenen
       Amsterdamer Gesellschaft durchblitzen ließ, wie der linke Ärmel auf dem
       „Bildnis des Pieter van den Broecke“ oder die rechte Schulter vom „Bildnis
       des Jasper Schade“ beweisen: Details, bei denen es nur einleuchtet, dass
       [2][Lovis Corinth] in sympathischer Hybris empfand, Frans Hals male genauso
       wie er selbst – auch wenn es wohl eher Corinth war, der wie Hals malte.
       
       Obsessiv realistische Details 
       
       Hat man in den Gemäldegalerien der Welt oft das Gefühl, in die Gesichter
       vergangener Zeiten zu blicken, gelingt Frans Hals auch noch vier
       Jahrhunderte später der Effekt einer ungeahnten Zeitlosigkeit. Ob
       Auftragsarbeit, Kinder- oder Genrebild: Die Abwechslung obsessiv
       realistischer Details und manchmal fast schon abstrakter Schwünge öffnet
       die Fantasie gerade genug, um eine Unmittelbarkeit hervorzurufen, die vor
       dem Hintergrund des gewohnten täglichen Bildkonsums so überraschend
       zuschlägt, dass ihrer sich fast niemand erwehren kann.
       
       Viel wurde über das ansteckende Lachen in den Gesichtern auf den Bildern
       geschrieben. In der Gemäldegalerie kann man es nun hören. Hundertfach
       widerhallend durch die nicht immer nur leise glucksenden Stimmen der
       heutigen Besucher. Erfrischend innovativ, in den sonst so ehrfürchtig
       stillen Räumen der Institution.
       
       20 Aug 2024
       
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