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       # taz.de -- Vor Landtagswahl in Sachsen: Zermürbte Demokratie
       
       > In Dresden treffen sich Kommunalpolitiker, die von Rechten bedroht
       > werden. Sie beklagen: Oft würden sie mit ihrem Problem allein gelassen.
       
   IMG Bild: Martina Angermann, ehemalige Bürgermeisterin von Arnsdorf
       
       Dresden taz | Beim Treffen bedrohter sächsischer Kommunalpolitiker in
       Dresden mussten am Freitag einige aktive und ehemalige Bürgermeisterinnen
       und Bürgermeister ihre Reden unterbrechen und ihre Tränen trocknen. Unter
       ihnen Martina Angermann (SPD), die es [1][als Bürgermeisterin von Arnsdorf
       bei Dresden nicht mehr aushielt]. 2016 war ein überforderter irakischer
       Asylbewerber in einem Supermarkt mit einer gereizten Verkäuferin in
       Konflikt geraten. Eine sogenannte Bürgerwehr fesselte den Mann an einen
       Baum, von einem CDU-Gemeinderat als „Akt der Zivilcourage“ gelobt. Später
       wurde der Iraker tot im Wald gefunden.
       
       Der Prozess verlief im Sande. „Da habe ich zeitweise den Glauben an unseren
       Rechtsstaat verloren“, blickt Martina Angermann zurück, die auch wegen der
       zunehmenden Bewaffnung militanter Systemgegner nicht mehr zur Ruhe kam.
       
       Einige Amtsträger haben sich von Attacken und deren gesundheitlichen
       Konsequenzen einigermaßen erholt. Torsten Pötzsch von der Wählervereinigung
       Klartext nicht. Als Oberbürgermeister von Weißwasser in der abgehängten
       Lausitzregion auch überregional schon fast eine Berühmtheit, wird Plötzsch
       nach psychosomatischen Folgen einen Dauerschaden behalten und kann keinen
       Sport mehr ausüben. Im Frühjahr hatte er seinen Rückzug vom Amt
       angekündigt. Spektakulär verkündete Ende Juli [2][auch der parteilose
       Landrat von Mittelsachsen, Dirk Neubauer, seinen Rückzug] – unter anderem,
       weil auch er und seine Familie bedroht worden waren.
       
       Zum Treffen in Dresden hatte Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD)
       eingeladen. Gekommen sind im wesentlichen Bürgermeisterinnen und
       Bürgermeister, die sich schon vor zweieinhalb Jahren mit einem Brief
       hilfesuchend an Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) gewandt hatten.
       Auf eine Reaktion von ihm warten sie bis heute. Immer mehr Amtsträger
       resignieren währenddessen und potenzielle Kandidaten verzichten, weil sie
       sich den Terror von rechts nicht antun wollen – nicht nur in Sachsen.
       
       ## Blinder Fleck beklagt
       
       Den Schutz von Bund und Ländern vermissen vor allem Kommunalpolitiker in
       ländlichen und kleinstädtischen Räumen. In der Runde wurde vermutet:
       Hinderlich sei vielleicht, dass die Perspektive der Entscheidungsträger in
       den Hauptstädten zu stark auf ihr urban-aufgeklärtes Milieu beschränkt sei.
       
       Schon 2019 hatte zwar [3][Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die
       Pulsnitzer parteilose Bürgermeisterin Barbara Lüke] besucht. Das war aber
       ein symbolischer Akt. Darum, dass die Polizei überhaupt von Attacken auf
       ihre Tochter und Fackelaufmärschen vor ihrem Haus Notiz nahm, hatte Lüke
       lange kämpfen müssen. Sie hält sich bis heute im Amt, auch dank ihrer
       juristischen Qualifikation.
       
       Die Gemeinde Nebelschütz bei Kamenz erhielt 2008 den europäischen
       Dorferneuerungspreis. Über die Attacken auf ihren sorbischen, 32-jährigen
       Bürgermeister Thomas Zschornack (CDU) [4][hatte die taz zuletzt im Februar
       2024 ausführlich berichtet]. In Dresden beschrieb er, wie das einst gute
       Mikroklima in der Gemeinde durch die Neue Rechte vergiftet wird. Das
       Neutralitätsgebot untersagt den Bürgermeistern selbst, die Partei beim
       Namen zu nennen, die vor allem für solche Diffamierungskampagnen
       verantwortlich ist.
       
       Das Dresdner Treffen zeigte vor allem, wie die AfD systematisch nicht nur
       den Status missliebiger Personen, sondern auch das Vertrauen in
       Institutionen zerstört. Es beginnt in der Regel mit einer Lawine von
       Dienstaufsichtsbeschwerden, die den Verwaltungsapparat lahmlegen sollen.
       Gleiches gilt für eine Flut von Anträgen und für die destruktive Ausnutzung
       von Redezeiten für Belanglosigkeiten. Alles legale Mittel, mit denen man
       eine Demokratie durch sich selbst abschaffen kann.
       
       ## Anklang in der Bevölkerung
       
       Sozialministerin Köpping erklärt mit den Einschüchterungsversuchen auch die
       landläufige Meinung, man dürfe in der heutigen Bundesrepublik nicht mehr
       alles sagen. Barbara Lüke aus Pulsnitz aber konstatiert bestürzt, dass
       diese „antidemokratische Stimmung“ in der ländlichen Bevölkerung auch
       breiten Anklang findet: Weg mit der lästigen streitsüchtigen Demokratie,
       her mit dem Führerprinzip, damit endlich mal wieder einer sage, wo es
       langgeht!
       
       Lüke spricht von einer „Gesetzgebungskrise“ und meint damit ein generelles
       Defizit kommunaler Belange. Ob Kommunalpolitiker gesetzlich besser
       geschützt werden können, wurde in Dresden wenig erörtert. Nach der Attacke
       auf den SPD-Kandidaten Matthias Ecke im Europawahlkampf war eine
       bundesweite Debatte kurz aufgeflammt. Dies bleibe eine Aufgabe für die
       kommende Legislatur, meinte jetzt die Ministerin.
       
       Defizite sieht man eher bei den Strafverfolgungsbehörden, die „die
       Gesamtschau wenig im Blick haben“, so ein beratender Anwalt aus Pulsnitz.
       Von Amts wegen ermitteln sie selten und kaum ein Amtsträger wagt noch eine
       Anzeige. Dabei kennt man lokal die Hetzer und ihre Vernetzung oft
       persönlich, erkennt die Autoren anonymer Schreiben an ihrem Duktus oder den
       hartnäckigen Rechtschreibfehlern. Leute mit oft genauer Dossierkenntnis,
       die die Bürgermeister dann mit 20 Jahre alten Fällen auslasten. Was für
       sich genommen weniger beunruhigen würde, wenn mehr Bürger die
       dahinterstehende Absicht, diesen Staat zu demontieren, durchschauen würden.
       
       16 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bartsch
       
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