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       # taz.de -- „Baseballschlägerjahre“ 2.0: In Sachsen rennen sie wieder!
       
       > Abrupt endete die Kindheit unseres Autors, als er 8 Jahre alt war.
       > Plötzlich jagten ihn Nazis durch die Plattenbausiedlung. Ein Essay.
       
   IMG Bild: Ignorieren, schweigen, zu spät, um zu handeln
       
       Schon als Kind kannte ich die Bilder von Rostock-Lichtenhagen und
       Hoyerswerda – sie machten mir große Angst. Solche Erlebnisse prägten meine
       Jugend und die vieler anderer, die in den sogenannten
       Baseballschlägerjahren aufwuchsen. Diese Zeit, besonders in den 1990er
       Jahren, war geprägt von dem Versuch, durch rechtsextreme Gewalt Räume zu
       schaffen, in denen Menschenfeinde eine rechte Hegemonie etablieren wollten.
       Sind diese Zeiten wieder zurück?
       
       Nicht nur die physische Gewalt der Neonazis, sondern auch der soziale und
       wirtschaftliche Niedergang nach der Wiedervereinigung prägten die Zeit. Die
       Perspektivlosigkeit und die Entwertung der ostdeutschen Identität wurden
       von Rechtsextremen instrumentalisiert. Die Schrecken der Kolonialzeit und
       der NS-Zeit waren nie vollständig aufgearbeitet worden, sondern schwelen im
       Untergrund weiter. Als Kind verstand ich natürlich nicht, was da passierte,
       aber ich wollte meinen Eltern nicht noch mehr zur Last fallen.
       
       In diesem Sturm mussten wir lernen, allein zu schwimmen, während unsere
       Eltern versuchten, das verrostete Schiff in sichere Gewässer zu navigieren.
       Viele von uns suchten nach Zugehörigkeit und Perspektive. Wir waren eine
       Generation, die ihre Identität verlor, bevor sie überhaupt eine Chance
       hatte, sich selbst zu finden. Viele fanden Halt in der Schule, bei der
       Familie oder bei ihren Freizeitaktivitäten.
       
       ## Geködert mit TikTok und Telegram
       
       Doch nicht alle hatten dieses Glück. Stattdessen wurden einige von der
       vorherrschenden Nazijugendkultur verführt, die mit Zugehörigkeit, Stärke
       und Hass ablenkte. Ich erinnere mich daran, wie die NPD vor der Schule
       stand und Rechtsrock-CDs verteilte oder im Ort Treffpunkte schuf, die uns
       spalteten.
       
       Meine Generation musste sich entscheiden: Fressen oder gefressen werden.
       Die Normalisierung von Rassismus und rechtsextremer Gewalt war
       allgegenwärtig, nicht nur in unserer unmittelbaren Umgebung, sondern auch
       in den Diskursen dieser Zeit.
       
       Sind die Baseballschlägerjahre jetzt zurück? Rechtsextreme Einstellungen
       werden in turbulenten Zeiten wieder an die Oberfläche gespült. Die Rechten
       lernen aus der Geschichte. Auch heute ist die Jugend geprägt von
       Abstiegsängsten und von Erwachsenen, die ihnen zu wenig Beachtung schenken.
       
       Hitler hatte das Radio, die Neonazis der 90er Jahre hatten die CDs, und
       heute schleichen sich die Rechten als Wolf im Schafspelz geschickt über
       neue Medien wie TikTok und Telegram in die Mitte der Gesellschaft. So
       erreichen sie viele junge Menschen, die während der Coronapandemie ihrer
       Jugend beraubt wurden.
       
       ## Die Politik ist auf dem rechten Auge blind
       
       In ländlichen Räumen sind Rechtsextreme längst ein normalisierter
       Bestandteil der Gesellschaft, sie sitzen in Kreisräten, beteiligen sich an
       Schulgremien und organisieren Jugendaktivitäten. Als in Coronazeiten alles
       andere geschlossen war, öffneten rechte Jugendtreffs ihre Pforten und
       vergifteten, wie in den 90ern, subtil den Geist der Zukunft unseres Landes.
       
       Oft brachten sie nur hervor, was unaufhörlich unter der Oberfläche
       brodelte. Sie machten sagbar, was bisher lieber totgeschwiegen wurde. Und
       weil Deutschland, insbesondere CDU und FDP, auf dem rechten Auge oft blind
       ist, agieren sie erst, wenn die rechte Hegemonie schon fester Bestandteil
       unserer Mitte geworden ist. Wenn der sächsische Innenminister Armin
       Schuster den Naziaufmarsch zum Bautzner CSD im August als rechte
       Versammlung verharmlost, dann öffnet er der rechtsextremen Ideologie die
       Tür in die Mitte. Normalisierungen führen dazu, dass Gefahren nicht als
       solche erkannt werden.
       
       Um rechten Ideologien den Garaus zu machen, brauchen wir eine Revolution
       des Bildungssystems, insbesondere eine zeitgemäße Medienbildung, die Fake
       News und Menschenfeindlichkeit erkennbar macht. Die Politik muss
       niedrigschwellig und verständlich gestaltet werden und in die Leerstellen
       vordringen, die sie in den vergangenen 30 Jahren den Rechtsextremen
       überlassen hat. Vor allem muss die Zivilgesellschaft gestärkt werden, die
       staatliche Aufgaben übernimmt – und doch oft von der Politik im Stich
       gelassen wird. Sie ist das Bollwerk für die Demokratie.
       
       Es bedarf eines Revivals des Zuhörens und Debattierens auf Augenhöhe.
       Borniertheit in der Sprache und abgehobene akademische Moral dürfen nicht
       Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit sein. Im Zentrum müssen die
       Lebensumstände der Menschen stehen. Denn um Demokratie zu kämpfen heißt,
       muss man um die Menschen kämpfen.
       
       Dennis Chiponda (32), in Senftenberg geboren und aufgewachsen, arbeitet zu
       den Themen Ostdeutschland, Rassismus, Queerness und Klassismus in Leipzig.
       Nach einer Zeit in Nürnberg merkte er schnell, dass er sich nicht für
       Menschen einsetzen kann, deren Biografien er nicht versteht und die ihn
       nicht verstehen. Also zog es ihn zurück in den Osten. 
       
       ILLUSTRATION: Anna-Lena Malter, (24) aufgewachsen im Vogtland, Bachelor in
       Weltgeschichte und Kunst, studiert aktuell im Master Global Governance and
       Regional Strategy in Japan.
       
       1 Sep 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dennis Chiponda
       
       ## TAGS
       
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