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       # taz.de -- Experte über Angriff in Solingen: „Der IS war nie wirklich tot“
       
       > Thomas Mücke ist Experte für Gewaltprävention. Ein Gespräch über die
       > Rückkehr des islamistischen Terrors, Messerverbote und digitale
       > Propaganda.
       
   IMG Bild: Trauernde zünden in Solingen Kerzen für die Opfer des Messerangriffs an
       
       taz: Herr Mücke, [1][in Solingen wurden drei Menschen bei einem
       Messerangriff getötet]. Der „Islamische Staat“ hat sich zu der Tat bekannt,
       erstmals seit dem Anschlag auf den Berliner [2][Breitscheidplatz vor acht
       Jahren]. Ist der islamistische Terror zurück in Deutschland? 
       
       Thomas Mücke: Ja. Die Bedrohung war immer da, aber seit dem 7. Oktober,
       seit dem wieder eskalierten Nahostkonflikt hat sich die Lage in Westeuropa
       deutlich verschärft. Wir haben seitdem acht Anschläge erlebt und 21
       Anschläge, die verhindert wurden – eine Vervielfachung im Vergleich zum
       Jahr 2022. Und das merken wir auch in unserer Beratungsarbeit: Bei unserer
       Hotline gehen seit Oktober deutlich mehr Fälle ein. Es ist sehr klar:
       Islamistische Terroristen haben Westeuropa wieder als Ziel definiert.
       
       taz: 2019 wurde der IS noch in Syrien und dem Irak zurückgeschlagen. Nun
       konnte er sich wieder neu organisieren? 
       
       Mücke: Der IS war nie wirklich tot. Es gab immer Ableger, die weiter aktiv
       waren. Und der islamistische Terror ist eine globale Ideologie, die sich
       auch ohne feste Gruppen verbreitet. Der neue Nahostkrieg war hierfür eine
       Steilvorlage für eine emotionale Mobilisierung: Schaut her, hier werden
       Muslime abgeschlachtet – da könnt ihr doch nicht zuschauen.
       
       Dieses Narrativ nutzt die islamistische Szene seit Jahren, jetzt erfährt es
       wieder breite Resonanz. Auch die Proteste von Islamisten unlängst in Essen
       oder Hamburg funktionierten so: Aufgerufen wurde dort wegen der Angriffe
       auf Gaza – dann wurde für ein Kalifat demonstriert.
       
       taz: Schickt der IS wieder direkt Anhänger in Deutschland los, um Anschläge
       zu begehen? 
       
       Mücke: Klar ist, dass der IS schon länger Aufrufe verbreitet, den Westen
       und auch Deutschland anzugreifen, mit ganz konkreten Tatanleitungen. Ob der
       IS im Fall Solingen den Täter direkt angeleitet hat, müssen die
       Ermittlungen zeigen. Zentral ist aber die Frage, wann und warum sich diese
       Person radikalisiert hat. Und ob es Menschen gab, die davon etwas
       mitbekommen haben – aber sich vielleicht nicht trauten, etwas zu sagen.
       
       taz: Laut Behörden war der Tatverdächtige vorher weder mit Straftaten noch
       politisch aufgefallen. 
       
       Mücke: In solchen Fällen haben wir im Grunde keine Chance. Nur wenn das
       Umfeld eine Veränderung einer Person feststellt – jemand wird plötzlich
       verschwiegen oder macht Andeutungen – und dies auch der Polizei oder den
       Hotlines unserer Beratungsstellen mitteilt, können wir handeln. Diese
       Hinweise sind entscheidend.
       
       taz: [3][Die Union reagierte auf Solingen mit Forderungen nach mehr
       Abschottung, die Ampelregierung will nun Geflüchteten, für deren
       Asylverfahren andere Länder zuständig sind, die Leistungen streichen]. Sie
       führte erstmals wieder eine Abschiebung nach Afghanistan durch und plant
       Messerverbote. Sind das die richtigen Antworten? 
       
       Mücke: Man sollte jetzt nicht so tun, als ob in den letzten Jahren nichts
       gegen Islamismus getan wurde. Da wurde sehr viel getan – bei den
       Sicherheitsbehörden und auch beim Aufbau von Beratungsstellen und
       Präventionsprojekten. Es gibt zwischen beiden Seiten eine sehr
       professionelle Zusammenarbeit.
       
       Wir haben bei der Fußball-EM gesehen, wie viel Anstrengungen die Behörden
       für Sicherheit unternommen haben – und am Ende ist ja auch nichts passiert.
       Und es wurden, wie gesagt, auch viele Anschlagsversuche verhindert.
       Hundertprozentige Sicherheit aber wird es nie geben.
       
       taz: Also braucht es keine der diskutierten Maßnahmen? 
       
       Mücke: Der Staat zeigt mit diesen Maßnahmen seine Handlungsfähigkeit. Diese
       Maßnahmen beruhen auf verschiedenen Säulen, unter anderem soll die
       Präventionsarbeit ausgebaut werden. Das ist ein Schritt in die richtige
       Richtung. Ein Messerverbot ist es eher nicht. Zumindest nicht, wenn es um
       Terrorbekämpfung geht.
       
       Menschen, die solche Taten begehen, setzen alles als Waffe ein, was für sie
       verfügbar ist. Ein Waffenverbot schränkt sie in keiner Weise ein und ist
       auch nicht kontrollierbar. Das hätte überhaupt keine Wirkung. Wenn es eine
       Wirkung hätte, dann nur auf die Alltagskriminalität und auf das
       Sicherheitsempfinden der Menschen.
       
       taz: Und mehr Abschiebungen und Zurückweisungen an der deutschen Grenze? 
       
       Mücke: Um jemanden wegen Terrorplänen abzuschieben oder zurückzuweisen,
       braucht man erst mal Kenntnis von diesen Plänen – was im Fall Solingen ja
       nicht der Fall war. Und man darf nicht vergessen: Terroristische oder
       extremistische Organisationen rekrutieren bei Weitem nicht nur Flüchtlinge.
       Sie sprechen alle Menschen an, die sie erreichen können. Das zeigt sich
       auch in unserer Beratungsarbeit: Geflüchtete machen hier nur einen sehr
       kleinen Teil aus.
       
       taz: Die Ampel verspricht auch mehr Druck auf die islamistische Szene.
       Richtig so? 
       
       Mücke: Ja, aber da gibt es nicht die eine Lösung. Wo wir tatsächlich ein
       Problem haben, ist beim digitalen Hass und der Propaganda, die im Internet
       kursiert. Es ist klar, dass dies Radikalisierungsprozesse verstärkt und
       dass es verschwinden sollte. Ein Problem sind auch Kommunikationskanäle auf
       Telegram und anderswo, über die sich Gruppen verdeckt verabreden und
       rekrutieren. Auch hier brauchen wir dringend eine Reglementierung.
       
       taz: [4][Der Telegram-Chef wurde zwischenzeitlich festgenommen]. Sie
       fordern Weiteres? Mücke: Wir brauchen klare Regeln für diese
       Messengerdienste und Plattformen, damit sie terroristische und
       extremistische Inhalte konsequent löschen. Das betrifft auch nicht nur
       Telegram, sondern weitere Anbieter wie Tiktok. Aber das reicht nicht aus.
       Wir müssen vor allem gucken, was die Menschen bewegt, die sich von solcher
       Propaganda angesprochen fühlen. Deshalb ist die Präventionsarbeit ein ganz
       zentraler Punkt.
       
       taz: Sind wir bei der Islamismusprävention gut aufgestellt? 
       
       Mücke: Da hat sich in den letzten zehn Jahren wirklich viel getan, der
       Präventionsbereich ist hier in Deutschland inzwischen breit aufgestellt und
       auch sehr innovativ, passt sich immer schnell an die Szene an. Ein großes
       Problem bleibt, dass eine langfristige Finanzierung der Projekte bis heute
       nicht gegeben ist. Stand jetzt sind die Ressourcen für gute
       Präventionsarbeit da – aber ob das in Zukunft so gilt, weiß niemand.
       
       taz: Ein Problem sind radikalisierte Einzeltäter, die schwer aufzuspüren
       sind. Wie gehen Sie damit in der Präventionsarbeit um? 
       
       Mücke: Ja, es gibt Personen, die sich nur online aufputschen. Aber in den
       meisten Fällen – und das sind auch die, die in unseren Beratungen landen –
       ist es eine Mischung: Diese Personen haben auch direkten Kontakt zu
       anderen. Die allerwenigsten radikalisieren sich allein durch Videos oder
       Chats. Diese Radikalisierung umzukehren, ist eine langwierige, intensive
       Arbeit, aber es ist möglich. In neun von zehn Fällen gelingt uns das.
       
       taz: Die Täter, die in letzter Zeit wegen islamistischer Anschlagspläne
       festgenommen wurden, waren teils noch Teenager. 
       
       Mücke: Ja, das macht mir große Sorgen. Zwei Drittel der festgenommenen
       Tatverdächtigen in Westeuropa waren in einem sehr jungen Alter. Und das hat
       seit dem 7. Oktober noch mal zugenommen. Hier müssen wir sehr, sehr
       aufmerksam sein: Die extremistische Szene scheint gerade genau in diesem
       Feld zu rekrutieren – das zeigen auch die Beratungsanrufe, die wir
       erhalten. Da müssen wir schnell die Auseinandersetzung suchen. Wir dürfen
       diese jungen Menschen nicht den Extremisten überlassen, sonst haben wir
       hier die nächste Terrorgeneration.
       
       taz: Nach früheren Anschlägen folgten oft zeitnah weitere. Ist jetzt damit
       zu rechnen? 
       
       Mücke: Wir können das leider nicht ausschließen. Denn die terroristischen
       Organisationen haben daran Interesse. Sie versuchen, die demokratischen
       Gesellschaften zu spalten und werden hier nicht nachlassen. Deshalb müssen
       wir genau dem entgegenwirken.
       
       taz: Durch die bevorstehenden Landtagswahlen scheint das nicht gut zu
       funktionieren, AfD oder CDU schlagen brachiale Töne an. 
       
       Mücke: Ja, das ist ein sehr schwieriger Zeitpunkt. Und trotzdem müssen wir
       uns ermahnen, Diskussionen so zu führen, dass es nicht zu
       gesellschaftlichen Spaltungen kommt. Alles andere zahlt genau in das Kalkül
       der Terroristen ein.
       
       30 Aug 2024
       
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