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       # taz.de -- Die Wahrheit: Der lange Schatten des Dichters
       
       > Endlich eröffnet und schon ein großer Erfolg – der Internationale
       > Thomas-Gsella-Erlebnisbahnhof im Essener Südviertel.
       
   IMG Bild: Mettigel! Hmmmm!
       
       Eine Ehrung der besonderen Art wurde am vorvergangenen Wochenende dem
       Dichter Thomas Gsella zuteil: Seine Vaterstadt Essen benannte den im
       Stadtteil Südviertel gelegenen U-Bahnhof Bismarckplatz in „Internationaler
       Thomas-Gsella-Erlebnisbahnhof“ um.
       
       Selbst für einen hochdekorierten Reimschmied wie Gsella war das nichts
       Alltägliches. „Das ist schon, sag ich mal, was Exklusives“, hat er
       gegenüber der Neuen Ruhr Zeitung erklärt, und im Essener Lokalteil der
       Westdeutschen Allgemeinen Zeitung wird er mit den Worten zitiert: „Ich,
       Thomas Gsella, bin aus den schwarzen Wäldern von Essen, und nach mir wird
       kommen: nichts Nennenswertes.“
       
       Dieser selbstbewussten Haltung entspricht das überlebensgroße Format der
       Gsella-Büste, die jetzt den Eingangsbereich des Bahnhofs ziert. Geschaffen
       wurde sie vom Leistungskurs Kunst des Gymnasiums Essen Nord-Ost in
       Altenessen-Süd. Sie besteht zu gleichen Teilen aus Tuffstein, Eisenerz,
       Braunkohle, Kobalt, Schwefelkies und anderen Bodenschätzen, in denen sich
       die Heimatverbundenheit des Dichters widerspiegelt.
       
       Nach Aussage des Oberbürgermeisters Thomas Kufen (CDU) war halb Essen bei
       der Eröffnung des Erlebnisbahnhofs „aus dem Häuschen“. Auch Gsella selbst
       gab sich die Ehre und trug aus dem Stegreif einen launigen Zweizeiler vor:
       „Dieser Bahnhof ist der schönste Lohn / für der Weltstadt Essen größten
       Sohn!“ Im Anschluss daran spielte ein Blockflötenorchester der
       Folkwang-Musikschule den Evergreen „Üb immer Treu und Redlichkeit“, bevor
       Gsella das symbolische Band vor dem Fahrkartenautomaten zerschnitt.
       
       ## Seither
       
       Seither werden die Passagiere der U 17 und der U 18 hier ununterbrochen mit
       Aufnahmen von einer Lesung Gsellas vor Mitgliedern des Fischereivereins
       Essener Angelfreunde e. V. beschallt, die letztes Jahr wegen mangelnden
       Zuspruchs von der Grugahalle in die Snack’n’Roll-Garage an der
       Rellinghauser Straße verlegt worden war, und auf 350 Videoleinwänden ist
       Gsella live zu sehen, wie er leibt und lebt – beim Duschen, beim
       Mittagsschlaf, beim Einkaufsbummel, bei der Fußpflege, beim Fernsehen oder
       auch beim Zähneputzen; je nachdem, was er gerade so treibt.
       
       Abgerundet wird das Gesamtkonzept durch einen Kiosk, in dem Gsellas Bücher
       ausliegen, und ein Schnellrestaurant, das seine Leibgerichte bereithält:
       Schoko-Mettwurst-Muffins mit Eierlikör, in der Eigenblutkruste gebackene
       Dorschlebersülze und panierte Fleischwurst im Frischkäsemantel mit
       Kohlrabi-Ananas-Röstis. Dazu trinkt man das gute Stauder Premium Pils oder
       einen der Gesundheitstees, die Gsella von seiner Hausärztin empfohlen
       worden sind.
       
       Nach dem Eröffnungsrummel ist das überregionale Interesse an dem
       Erlebnisbahnhof zwar wieder abgeflaut, aber die Einwohner haben sich mit
       ihm angefreundet. Hier und da hört man jedoch auch Kritik. Manch einem
       passt es beispielsweise nicht, dass man den Bahnhof erst verlassen darf,
       wenn man ein Buch von Gsella gekauft hat. Wer sich weigert, wird von
       Söldnern abgeführt und in einer der vielen schummrigen Ecken des Bahnhofs
       durchgekitzelt oder mitunter auch ausgeraubt, verdroschen und erdrosselt.
       
       ## Es handelt sich dabei
       
       „Es handelt sich dabei um bedauernswerte Einzelfälle, die keinem
       repräsentativen Trend entsprechen“, heißt es hierzu in einer Stellungnahme
       von Gsellas Pressesprecherin Ellen Butt-Prömse. „In aller Regel geht es in
       diesem Bahnhof sehr friedlich zu. Laut einer Studie des
       nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts ist man seines Lebens dort im
       Schnitt fast mehr als doppelt so sicher wie im Bahnhof Rüttenscheider
       Stern. Das dürfte nicht zuletzt an den ‚good vibrations‘ liegen, die man
       spürt, sobald man den Thomas-Gsella-Erlebnisbahnhof betritt …“
       
       Wie man’s nimmt! In die Notaufnahme der Essener Universitätsklinik wurden
       allein gestern 32 Personen eingeliefert, die von der Fleischwurst à la
       Gsella gekostet hatten. Siebzehn von ihnen schweben noch immer in
       Lebensgefahr. Kein Wunder: Der sogenannte Frischkäsemantel hatte
       großenteils aus Klärschlamm bestanden.
       
       Inzwischen mehren sich auch die Zweifel an der Bekömmlichkeit der übrigen
       Gerichte. In der Küche des Schnellrestaurants hat das Gesundheitsamt
       mehrere Eimer sichergestellt, in denen sich eine eitrige, faulige, ranzige,
       trübe und durchweg unansehnliche sowie teils wässrige und teils pappige
       oder stellenweise auch pelzige Substanz befindet. Angeblich ist daraus die
       Panade für die Fleischwürste verfertigt worden. Die genaue Zusammensetzung
       muss noch geklärt werden, doch es gibt nur wenig Hoffnung für die Kunden.
       
       Ein weiteres Ärgernis bilden die Verkehrsstockungen. Bis zu zwei Stunden
       steht jede U-Bahn im Erlebnisbahnhof still, während Drückerkolonnen durch
       die Waggons marschieren und jedem Passagier ein Abonnement der
       soziologischen Fachzeitschrift Die Neue Gsellaschaft aufzunötigen
       versuchen. Viele unterschreiben, „damit’s endlich weitergeht“, während
       andere vorher in den Schwitzkasten genommen werden müssen.
       
       Bisweilen soll im Zuge dieser Aktionen auch Blut geflossen sein, was
       Gsellas Sprecherin Butt-Prömse freilich abstreitet. In einem von Radio
       Essen ausgestrahlten Tiefeninterview hat sie klargestellt, dass solche
       Anschuldigungen jeder Grundlage entbehren: „Unsere Außendienstmitarbeiter
       werden ständig in gewaltfreier Kommunikation geschult. Wenn dem einen oder
       anderen dann doch mal die Hand ausrutscht, wird intern darüber ganz offen
       gesprochen, und notfalls hagelt’s auch mal Keile. Da können Sie Gift drauf
       nehmen!“
       
       ## Ungeachtet dessen
       
       Ungeachtet dessen wächst in Essen der Unmut. Das mag unter anderem daran
       liegen, dass über dem Erlebnisbahnhof ein gigantischer, mit zehn Milliarden
       Kubikmetern Helium gefüllter Ballon schwebt, der Gsellas Gesichtszüge trägt
       und einen langen Schatten über die Stadt wirft. In einigen Kleingärten
       haben die Pflanzen deshalb die Photosynthese eingestellt, und aus den Kitas
       hört man, dass viele Kinder keine Sonne mehr malen können. Und was sagt
       Gsella dazu?
       
       „Die sollen sich nicht so anstellen“, hat er auf Truth Social gepostet.
       „Ich selbst komme, wie gesagt, aus den schwarzen Wäldern, und ich hab’s
       trotzdem bis ganz nach oben geschafft und mir einen Platz an der Sonne
       erobert …“
       
       Da hat er recht. Seine Autogrammkarten zeigen ihn, wie er sich auf der
       Terrasse seiner 48-Zimmer-Strandvilla in Florida in einem Liegestuhl fläzt
       und an einem für Normalsterbliche unbezahlbaren
       Rosenwasser-Kirsch-Honig-Mandel-Vollrohrzucker-Straciatella-Cocktail
       nuckelt.
       
       2 Sep 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gerhard Henschel
       
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