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       # taz.de -- Beginn des neuen Schuljahrs: So geht russische „Familienführung“
       
       > Um die Geburtenrate anzukurbeln, führt Russland ein neues Schulfach ein.
       > Darin haben nur bestimmte Familien Platz.
       
   IMG Bild: Sogar die Hunde scheinen geschlechtergetrennt angezogen: Russland setzt auf „tradtionelle Familienwerte“
       
       Moskau taz | Es stehe schlecht um das Überleben der russischen Heimat, sagt
       die bald 70-jährige Duma-Abgeordnete Tatjana Larionowa in Moskau. Die
       Geburtenrate zu niedrig, die Scheidungsrate zu hoch, das Land befinde sich
       am „demografischen Abgrund“. Wo, wenn nicht in der Schule, könnten Kinder
       lernen, worauf es ankomme: „Ehe, kinderreiche Familien und Keuschheit.“
       
       Die Schule in Russland ist, wie zu Sowjetzeiten, zur Anstalt der
       Indoktrination geworden. An diesem Montag fängt landesweit der Unterricht
       wieder an. 34 Stunden im Schuljahr, genauso viel wie etwa Chemie in der
       Oberstufe, soll das neue Fach „Familienführung“ für Schüler*innen ab
       Klasse fünf einnehmen.
       
       Als Pflichtfach ist es nicht gedacht. Das waren auch die sogenannten
       Gespräche über Wichtiges nicht, bei denen bereits Drittklässler*innen
       lernen, es gebe nichts Wichtigeres im Leben, als für sein Vaterland zu
       sterben. Wer sie nicht besucht, bekommt allerdings zuweilen Probleme mit
       dem Schulamt oder gleich mit dem Geheimdienst.
       
       Für den Schulanfang steht bei den Gesprächen wieder ein „patriotisches“
       Thema an: „Unsere Zukunft“. [1][Russland, das durch seinen Überfall auf die
       Ukraine vielen die Zukunft genommen hat], bespricht in den Klassenräumen,
       wie hell das Morgen sei, während der Krieg – auch im eigenen Land – Kindern
       die Väter und Mütter nimmt.
       
       ## Putin erklärte 2024 zum „Jahr der Familie“
       
       Ähnlich hohl verhält es sich mit den allgegenwärtigen „Familienwerten“, die
       die „russländische Identität“ formten. Im vergangenen Dezember hatte
       Russlands Präsident Wladimir Putin das Jahr 2024 zum „Jahr der Familie“
       erklärt. Familie – und das ist im Verständnis der russischen Politik eine
       „vollständige Familie“, also Mann und Frau, samt drei und mehr Kindern –
       solle popularisiert werden.
       
       Alleinerziehende, Familien mit einem Kind, kinderlose Familien,
       Alleinstehende ohnehin werden so immer mehr als etwas Unnormales gesehen.
       [2][Dass Männer von der Front nicht mehr nach Hause kommen] und die
       „Vollständigkeit der Familie“ schon allein dadurch nicht erreicht wird,
       spielt da keine Rolle. Zudem ist es in Russland nicht untypisch, dass
       Kinder bei Mutter und Großmutter aufwachsen. [3][Homosexuelle Beziehungen
       gelten im Land ohnehin als „extremistisch“], queere Familien mit oder ohne
       Kinder existieren für den Staat somit nicht.
       
       Während in den USA, so heißt es im Handbuch zum neu eingeführten Fach,
       bereits die Kleinsten mit Sexualkundeunterricht „malträtiert“ würden,
       sollen russische Kinder viel über das „warme Gefühl der Liebe“ erfahren. An
       staatlichen Schulen im Land gibt es bis heute keinen Aufklärungsunterricht.
       
       „Familienführung“ besteht aus fünf Blöcken. In „Mensch, Familie und
       Gesellschaft“ sollen die Kinder lernen, wie sie einen „richtigen Begleiter
       fürs Leben“ finden. „Nicht jeder lebt in einer vollständigen Familie, aber
       jeder sollte eine anstreben, denn nur damit wird man glücklicher“, sollen
       Lehrer*innen an ihre Klasse richten.
       
       ## „Absoluter Mist“ – Exil-Pädagoge Dima Zicer
       
       In „Meine Verwandten“ sollen Schüler*innen ankreuzen, inwieweit [4][die
       Mutter die Rolle der Köchin, der Putzfrau, der Hausaufgabenhilfe erfülle],
       ob sie stricken mag oder lieber lesen. Die Rolle des Vaters müssen sie
       dabei weder kategorisieren noch bewerten. „Ist Papa zu Hause das
       Oberhaupt?“, sollen Lehrer*innen fragen oder: „Begrüßt ihr Mama oder
       Papa mit einem Lächeln, wenn sie nach einem langen Arbeitstag nach Hause
       kommen?“
       
       Weiterhin sollen die Schüler*innen ihr „Verhalten in der Familie“
       bewerten und Punkte für Tätigkeiten vergeben, die sie im Haushalt
       übernehmen. Als Tipps für eine „wohlige Atmosphäre daheim“ werden
       Familienausflüge vorgeschlagen oder auch empfohlen, gemeinsam zu putzen.
       
       In den Klassen zehn und elf sollen sich die Jugendlichen „Wissen über die
       intimen Aspekte des menschlichen Lebens“ aneignen. Was diese Aspekte
       ausmacht, wird nicht erklärt. 13 von 34 Stunden sind dem Block „Familien
       und ihr Alter“ gewidmet. Hier heißt es, junge Frauen seien mit 20 bis 22
       Jahren bereit zum Heiraten, junge Männer mit 23 bis 28. Da hätten sie eine
       „bürgerliche Reife und ein moralisches Bewusstsein“. In den Krieg
       eingezogen werden bereits 18-Jährige, offenbar ohne jegliche Reife.
       
       „Fächer wie dieses rauben den Kindern ihre Persönlichkeit. Der Staat
       erzählt ihnen hier von der einzig wahren Art der Liebe, der Familie und des
       Aufwachsens. Es ist absoluter Mist“, sagt der im Exil lebende russische
       Pädagoge Dima Zicer. Genau darum aber geht es dem russischen Staat: dass
       die Menschen ohne jeglichen Zweifel aufwachsen.
       
       2 Sep 2024
       
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