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       # taz.de -- Sachsens Ministerpräsident im Wahlkampf: Er will mit Feuer löschen
       
       > Michael Kretschmer möchte gegen die AfD gewinnen. Unermüdlich zieht er
       > vor der Landtagswahl von Biertisch zu Biertisch – auf einem sehr schmalen
       > Grat.
       
   IMG Bild: Michael Kretschmer schwenkt Mitte August eine Sachsen-Fahne bei einem Oldtimer-Rennen in Zwickau
       
       Eibau/Berlin taz | Der ältere Mann, mit dem Michael Kretschmer an diesem
       Sonntagabend Anfang August in der Oberlausitz am Biertisch steht, hat sich
       Fragen aufgeschrieben. Als AfD-Wähler fühle er sich von der Regierung
       diskriminiert, weil er als Rechtsradikaler eingestuft werde, sagt er. „Ist
       das so?“
       
       Das sei Unfug, antwortet Kretschmer. Niemand sage, alle AfD-Wähler seien
       rechtsradikal. „Aber ich bin der festen Überzeugung, [1][dass Björn Höcke
       ein Nazi ist].“ Und wer „Volksverräter“ auf Plakate schreibe, der meine das
       so. „Solchen Leuten darf man keine Verantwortung geben.“
       
       Michael Kretschmer, 49, Christdemokrat, seit 2017 Ministerpräsident von
       Sachsen, ist seit Monaten im Dauerwahlkampf. Am 1. September [2][wird in
       Sachsen ein neuer Landtag gewählt], in den Umfragen liefert sich die CDU
       mit der AfD ein Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz eins. Seit 1990 stellt sie
       hier den Ministerpräsidenten; bei der Landtagswahl nicht vorn zu landen,
       wäre ein harter Schlag. Deshalb zieht Kretschmer scheinbar unermüdlich
       durchs Land und spricht mit den Menschen, auffallend intensiv.
       
       An diesem Abend ist er in Eibau, im Faktorenhof, einem schön restaurierten
       Dreiseithof, in dem es ein Restaurant, ein Heimatmuseum und ein
       Hochzeitszimmer gibt. Bratwürste brutzeln auf dem Grill, Bier wird gezapft,
       200 Leute sind gekommen. Erst spricht der Direktkandidat vor Ort ein paar
       Worte, dann Kretschmer, dann ziehen die beiden von Tisch zu Tisch. Schlägt
       man so die AfD?
       
       ## „Grenzpolizei statt Sprachpolizei“
       
       Kretschmer versucht wohl, die Landtagswahl mit Stimmen rechts von der Mitte
       zu gewinnen. Ständig haut er neue Forderungen raus, auch mal alte, die
       provozieren: eine Obergrenze für Geflüchtete, eine Beweislastumkehr für
       Bürgergeldempfänger, Friedensverhandlungen mit Russland. Gerne prügelt er
       auch auf die Ampelkoalition im Bund ein. Auf den CDU-Plakaten geht es um
       Bildung und Handwerk, vor allem aber um Sicherheit und Migration: „Recht
       und Ordnung durchsetzen“, „Kriminelle hassen die CDU“, „Grenzpolizei statt
       Sprachpolizei“.
       
       Manche sagen, dass Kretschmer dem Druck der Straße nachgibt, den Leuten
       nach dem Mund redet. Aber so einfach ist das nicht. Wer mit ihm von
       Biertisch zu Biertisch zieht, hört nicht nur, dass Björn Höcke ein Nazi
       ist. Was eine Zusammenarbeit mit der AfD angeht, steht die Grenze für ihn
       auf der Landesebene. Bei dem allerdings, was sich davor abspielt, auf
       kommunaler Ebene, ist Kretschmer geschmeidig und scheut auch das
       Populistische nicht.
       
       Man kann nun sagen: Anders geht es nicht, wenn man hier für die CDU
       gewinnen will. Die sächsische CDU ist traditionell rechts, viele der
       Wähler*innen sind es auch, denen muss man entgegenkommen. Doch es ist
       eben ein schmaler Grat, auf dem sich Kretschmer bewegt. Wann bindet man
       noch die eigenen Leute? Wann betreibt man das Geschäft der AfD? [3][Und
       zahlt die Diskursverschiebung langfristig nicht unweigerlich bei den
       Rechtsextremen ein?] So war es vielerorts, in Großbritannien, Frankreich,
       Italien.
       
       „Mit Blick auf die AfD ist Kretschmer Opfer und Täter zugleich“, sagt
       Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. „Im Wahlkampf kämpft er mit
       jeder Pore seiner Existenz gegen die AfD. Aber weil er Wähler von dort
       zurückgewinnen will, ist er auf der inhaltlichen Seite bereit,
       Zugeständnisse zu machen.“ Michael Kretschmer versuche, den AfD-Wählern zu
       suggerieren, sie könnten doch auch bei der CDU sein, manche Ziele seien
       ähnlich, aber der Weg unterschiedlich. „Das trägt zur Normalisierung der
       AfD bei.“
       
       ## Kretschmer lebe von der Defensive
       
       Schroeder meint, dass Kretschmer auch einen ganz anderen Wahlkampf machen
       könnte. Am Dienstag war dieser beim Spatenstich für die erste europäische
       Chipfabrik der taiwanesischen Firma TSMC, die mit Milliardenzuschüssen der
       Bundesregierung bei Dresden im „Silicon Saxony“ entstehen soll. Sachsen
       habe ein großes Investitionsvolumen, es stehe an der Schwelle zur zweiten
       Transformation. Man könne auch diesen Erfolg ins Zentrum stellen und wie
       man das Personal dafür zusammenbekommt, meint der Politikprofessor. „Aber
       der Mann lebt von der Defensive.“
       
       Seit Kretschmer 2017, nach 15 Jahren im Bundestag, sein Direktmandat in
       Görlitz an den heutigen AfD-Chef Tino Chrupalla verlor, setzt er auf
       Bürgernähe, und das exzessiv. Seine politische Karriere schien vor dem Aus,
       dann trat der damalige Ministerpräsident Stanislaw Tillich zurück und
       empfahl ihn als Nachfolger.
       
       Lange hat Kretschmer mit jedem geredet und denen viel Gehör verschafft, die
       am lautesten schrien, oft standen sie weit rechts. Ohnehin hat die
       Sachsen-CDU vor der rechtsextremen Entwicklung im Land ausgiebig die Augen
       verschlossen; legendär ist der Ausspruch des ehemaligen Ministerpräsidenten
       Kurt Biedenkopf, die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus.
       Kretschmer ging selbst auf Coronaleugner*innen zu, die ihn 2021 vor
       seinem Privathaus beim Schneeschippen überraschten. Er suchte den Dialog,
       sie wollten ihn vor allem beschimpfen.
       
       Als jüngst [4][Rechtsextreme beim CSD in Bautzen aufmarschierten], blieb
       Kretschmer still, erst auf Nachfrage auf einem Wahlforum äußerte er sich
       dazu. „Die Verharmlosung von Klimaradikalen muss aufhören“, postete die CDU
       stattdessen. Kretschmer wird häufig bedroht, laut ZDF sogar mit Mord.
       
       ## Bloß keine Thüringer Verhältnisse
       
       In der CDU hofft man, dass die Sächs*innen diesmal anders votieren als
       etwa bei der Europawahl, als die AfD vorne lag. Weil es ums Konkrete geht,
       darum, wer in Dresden künftig für Schulen, Polizei und die Gesundheit
       zuständig ist. Die letzten Wahlen, das seien alles Protestwahlen gewesen,
       sagt Kretschmer in Eibau. Protest gegen Migration, das
       Gebäudeenergiegesetz, den Russlandkrieg, Bürokratie und „den übergriffigen
       Staat“. Eine Protestwahl dürfe es jetzt nicht geben.
       
       Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, heizt Kretschmer mit seinen
       ewigen Attacken gegen die Bundesregierung doch die Proteststimmung kräftig
       mit an. „Wer eine bürgerlich-konservative Regierung will, wer will, dass
       die CDU die stärkste Kraft im Landtag ist und wir nicht in unklare
       Verhältnisse wie in Thüringen kommen, wo nichts mehr geht, der muss bei
       dieser Wahl strategisch wählen“, sagt er dann. Soll heißen: CDU.
       
       Beim letzten Mal hat das funktioniert, da haben auch Menschen, die links
       von der CDU stehen, für diese gestimmt, um die AfD als stärkste Kraft zu
       verhindern. SPD und Grüne haben Kretschmer erneut zum Ministerpräsidenten
       gemacht, seitdem regieren sie gemeinsam in einer Keniakoalition. Aber kann
       das noch einmal so gehen? Seit Monaten tut Kretschmer alles, um
       fortschrittliche Wähler*innen gegen sich aufzubringen.
       
       „Ich bin der festen Überzeugung, dass der Staat nicht vorgeben soll, wie
       wir heizen sollen, wie wir reden sollen, welches Auto wir fahren sollen“,
       sagt er auch in Eibau. Sein Ziel sei eine Regierung ohne Grüne, „weil die
       niemand mehr will“. Da klatschen die Leute.
       
       ## Meint der Mann wirklich, was er sagt?
       
       Scharf gegen die Grünen vorzugehen, auch wenn man mit ihnen in der
       Regierung sitzt, ist Strategie der sächsischen CDU. Die Grünen, heißt es,
       seien auf dem Land so verhasst, dass man sich von ihnen abgrenzen müsse,
       wolle man der AfD nicht in die Hände spielen. Manche Christdemokraten
       meinen sogar, eine Zusammenarbeit mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht sei
       leichter zu vermitteln.
       
       Die Attacken Richtung Berlin und Grüne haben für Kretschmer auch
       strategische Tücken: Sie feuern die Wut und die Protesthaltung weiter an,
       die sich bei der Wahl auch gegen die CDU richten könnten. Und sie könnten
       dazu beitragen, dass nicht nur Linke und FDP, sondern auch SPD und Grüne an
       der Fünfprozenthürde scheitern. Die Folge wäre ein Parlament, in dem nur
       noch AfD, CDU und BSW vertreten wären. Strategisch wählen heißt für die
       kleinen Parteien deshalb etwas ganz anderes als für die CDU. Aus
       Eigeninteresse, aber auch, weil der Einfluss der AfD steigt, je weniger
       Parteien im Landtag vertreten sind.
       
       Was Michael Kretschmer bei der Wahl nützen dürfte, ist seine Haltung zum
       Krieg. Waffenlieferungen an die Ukraine, die Forderung des
       SPD-Verteidigungsministers nach Kriegstüchtigkeit, die Stationierung von
       US-Mittelstreckenwaffen: All das wird nicht nur an den Eibauer Biertischen
       heftig kritisiert. Kretschmer dagegen will Verhandlungen mit Putin, eine
       Reparatur der Nord-Stream-Pipeline, weniger Waffenlieferungen und eine
       Volksbefragung zur Raketenstationierung. Manchmal drängt sich die Frage
       auf, ob der Mann wirklich meint, was er da sagt – und ob er das wohl bis
       zum Ende durchdacht hat. In der sächsischen CDU aber heißt es, dass dies
       alles Kretschmers tiefe Überzeugung sei.
       
       Für viele in seiner Partei ist das schwer zu ertragen. Kretschmer ist nicht
       nur Ministerpräsident und Chef des sächsischen Landesverbands, er ist auch
       stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender. In der Berliner Zentrale heißt
       es, dass die CDU als Volkspartei unterschiedliche Postionen aushalte. Doch
       immer mehr meinen, dass Kretschmer der CDU und ihren Werten schade. Ihnen
       ist aber klar: In Sachsen kann nur Kretschmer die AfD schlagen. Deshalb
       hält man still, zumindest bis September.
       
       In Eibau gibt etwa eine Handvoll Leute im Gespräch zu verstehen, dass sie
       letzthin für die AfD gestimmt haben. Einer sagt, er könne sich vorstellen,
       jetzt wieder sein Kreuz bei der CDU zu machen. Der Mann mit der Fragenliste
       wirkt nicht überzeugt. Aber eines will er dann doch noch loswerden: dass
       Michael Kretschmer „gegen Berlin“ unbedingt seine Position zu den
       Waffenlieferungen durchhalten müsse.
       
       25 Aug 2024
       
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