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       # taz.de -- Dolmetschen in der Arztpraxis: Das verschleppte Versprechen
       
       > Zu Regierungsantritt versprachen SPD, Grüne und FDP: Wer sich beim
       > Arztbesuch nicht verständigen kann, wird Hilfe bekommen. Passiert ist
       > noch nichts.
       
   IMG Bild: Wartezimmer einer Praxis der Malteser in Berlin
       
       Berlin taz | Als Matthias Marschner erfuhr, dass die Bundesregierung einen
       Anspruch auf Übersetzungsleistungen für Arztbesuche gesetzlich
       festschreiben will, war er erleichtert. „Ich hatte das Gefühl, das Thema
       wird endlich gesehen, hat zum ersten Mal eine Lobby“, sagt er. Der
       46-Jährige arbeitet als Kardiologe in einer Berliner Praxis und hat fast
       täglich mit Menschen zu tun, deren Deutschkenntnisse nicht ausreichen, um
       Diagnosen oder Therapiepläne zu besprechen.
       
       In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich SPD, Grüne und FDP vorgenommen:
       „Sprachmittlung auch mit Hilfe digitaler Anwendungen wird im Kontext
       notwendiger medizinischer Behandlung Bestandteil des SGB V.“ Das war im
       Herbst 2021. Umgesetzt hat die Ampel das Vorhaben bis heute nicht.
       taz-Recherchen zufolge ist nicht sicher, ob das in dieser Legislatur noch
       passiert. Für Marschner ist das „erschöpfend“, sagt er, „weil wir jeden Tag
       mit den Problemen zu tun haben.“
       
       [1][Bereits seit Jahren fordern Mediziner*innen,
       Psychotherapeut*innen und Gesundheitsverbände] ein Anrecht auf
       Sprachmittlung in der Sprechstunde für Menschen ohne ausreichende
       Deutschkenntnisse. Auch wissenschaftliche Studien belegen: Wer sich beim
       Arztbesuch oder in der Psychotherapie nicht gut verständigen kann, kann die
       falsche Diagnose und im Anschluss die falsche Therapie bekommen. Oder
       richtig diagnostiziert und beraten werden – beides jedoch selbst falsch
       verstehen.
       
       In der Folge droht Patient*innen, überdurchschnittlich lange nicht gesund
       zu werden – oder im schlimmsten Fall noch kränker als zuvor. Besonders
       häufig davon betroffen sind Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte.
       Ethisch ist das nicht zu rechtfertigen. Und auch juristisch nicht: Das
       Grundgesetz schreibt in Artikel 3 das Recht auf Gleichbehandlung vor. Zudem
       hat sich Deutschland einer ganzen Reihe internationaler Konventionen
       verpflichtet, unter anderem dem Abkommen zur Beseitigung jeder Form
       rassistischer Diskriminierung.
       
       Weil bislang jedoch sämtliche Bundesregierungen versäumten, eine
       flächendeckende Lösung zu etablieren, hat sich ein System des sogenannten
       „Gelegenheitsdolmetschens“ entwickelt: In vielen Praxen und Kliniken
       übernehmen Lai*innen notgedrungen und oft unbezahlt Arbeit, die
       eigentlich Profis machen müssten.
       
       ## Nur eine Notlösung
       
       In Marschners Praxis brächten nichtdeutschsprachige Menschen oft
       Familienangehörige mit in die Sprechstunde, sagt er. Das sei zwar besser
       als keine Übersetzung und funktioniere in Erstgesprächen nicht schlecht.
       Allerdings sei es für viele Menschen sehr belastend, ihren Angehörigen
       schwere Diagnosen zu übermitteln.
       
       Zudem fehle es Lai*innen häufig an den richtigen Begriffen zum Thema:
       „Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind oft hochkomplexe medizinische
       Sachverhalte. Sie in Alltagssprache zu übersetzen, fällt mir selbst bei
       deutschsprachigen Patient*innen nicht immer leicht“, sagt Marschner.
       
       Auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hält in einer
       Stellungnahme fest, Gelegenheitsdolmetschen sei nicht praktikabel.
       Besonders bei Tabuthemen wie Sexualität oder der Therapie traumatischer
       Erlebnisse könne es hinderlich sein, wenn Angehörige oder andere
       ungeschulte Menschen sprachliche Brücken bauen müssten.
       
       Professionelle Übersetzungen bieten nur wenige Gesundheitseinrichtungen an.
       Oft ist die Kostenfrage ungeklärt. Auf eigene Rechnung können sich das
       nicht viele Patient*innen leisten. Und auch die Kalkulationen von
       Kliniken und Praxen sind dafür häufig zu eng.
       
       ## Länder sind keine Lösung
       
       Einige Bundesländer haben mittlerweile Budgets für professionelle
       Sprachmittlung geschaffen. Doch die Landesmittel sind freiwillige
       Leistungen. Aus politischen oder finanziellen Motiven können die Länder sie
       jederzeit streichen. Für Dolmetscher*innen und Organisationen, die
       Übersetzungsleistungen anbieten, ist das eine Zumutung. Sie können nicht
       sinnvoll planen und müssen bei Haushaltsverhandlungen um ihre
       wirtschaftliche Existenz bangen.
       
       Der Mangel an professioneller Sprachmittlung [2][verschärft auch die
       Versorgungssituation für psychisch belastete Geflüchtete]. Nur vier Prozent
       können die psychosoziale Hilfe in Anspruch nehmen, die sie brauchen. Die
       bundesweiten psychosozialen Zentren, die Betroffene von Flucht, Folter und
       Vertreibung unterstützen, sind akut ausgelastet, auch weil Geflüchtete kaum
       Zugang zur therapeutischen Regelversorgung haben. Dort fehlen neben
       fluchtspezifischem Know-how vor allem: Sprachmittler*innen.
       
       Bereits Ende 2022 drängte ein Bündnis aus Übersetzungsorganisationen,
       Gesundheitsverbänden und unter anderem der Charité Berlin in einem
       Positionspapier auf eine schnelle Umsetzung und unterbreitete der
       Ampel-Koalition konkrete praxisbezogene Vorschläge.
       
       Im Frühjahr 2023 initiierte die Linkspartei eine Anhörung zum Thema im
       Gesundheitsausschuss, wies erneut auf die Notwendigkeit einer schnellen
       Lösung hin und machte Lücken des bestehenden Vorhabens deutlich: Auch
       deutschsprachige Menschen sollten Übersetzungen in Leichte Sprache bekommen
       können, wenn sie diese benötigen.
       
       Zudem müsse der Anspruch auf Sprachmittlung auch für Menschen gelten, die
       das Asylbewerberleistungsgesetz aus der Regelversorgung ausschließt. Wenn
       sie überhaupt eine gesundheitliche Behandlung in Anspruch nehmen können,
       müssen sie bislang einen gesonderten Antrag auf Sprachmittlung stellen.
       
       ## Kostenfrage umstritten
       
       Seither hat sich nichts bewegt. Ein Hindernis ist die ungeklärte
       Finanzierungsfrage. Der Mainzer Professor für Interkulturelle Kommunikation
       Bernd Meyer schätzt, dass mit einem gesetzlichen Anspruch auf
       Sprachmittlung in Deutschland jährlich bis zu eine Million
       Übersetzungsdienste anfallen und mehr als 60 Millionen Euro Kosten
       entstehen würden.
       
       Geht es nach Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), sollen die
       Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) diese Kosten tragen. Die Kassen
       sehen Sprachmittlung jedoch nicht als Versicherungsleistung, sondern als
       gesellschaftliche Aufgabe. Die Bundesregierung solle sich also um die
       Finanzierung kümmern, schreibt der GKV-Spitzenverband. Im Entwurf des
       Bundeshaushalts 2025 ist das aktuell nicht vorgesehen.
       
       Ein weiteres Problem: Beschlossen werden soll das Gesetzesvorhaben zur
       Sprachmittlung als Teil eines umfassenderen Pakets, dem Versorgungsgesetz
       II. Zuvor möchte das Gesundheitsministerium jedoch ein Versorgungsgesetz I
       beschließen. Das soll Hausarztpraxen finanziell entlasten und die
       psychotherapeutische Versorgung verbessern.
       
       Nachdem die FDP dieses Paket lange ausgebremst hatte, weil es ihr zu teuer
       war, ist es erst Ende Juni 2024 – mit mehr als einem Jahr Verspätung – zum
       finalen Gesetzgebungsverfahren in den Bundestag gelangt. Dieser tagt jedoch
       erst wieder ab nächster Woche. Um das Versorgungsgesetz II danach und noch
       vor der nächsten Bundestagswahl durchs Parlament – und so das Anrecht auf
       Sprachmittlung ins Sozialgesetz – zu bringen, bleibt also nur noch etwa ein
       Jahr Zeit.
       
       ## „Farbe bekennen“
       
       Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU, Tino Sorge, sagte auf Anfrage
       der taz, er fordere die Ampelkoalition auf, „Farbe zu bekennen, ob sie das
       in [3][ihrem Koalitionsvertrag] festgeschriebene Vorhaben in der
       verbleibenden Zeit der Legislatur noch umsetzen will“. Andrew Ullmann,
       FDP-Sprecher für Gesundheit, vermied dieses Bekenntnis. Er antwortete der
       taz nicht.
       
       Die Grünen Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink sagt, ihre Fraktion
       stehe weiterhin zur im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarung.
       Sprachmittlung spiele „eine zentrale Rolle für eine gute
       Gesundheitsversorgung in unserer Einwanderungsgesellschaft“, so
       Klein-Schmeink. Heike Baehrens, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD,
       sagt, das Vorhaben sei ihrer Fraktion sehr wichtig und die Umsetzung in
       Planung. Einen konkreten Zeitplan für die Umsetzung kann aber auch sie
       nicht nennen.
       
       Für Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Linken, müssen den
       Worten auch Taten folgen: „Von Ankündigungen allein verbessert sich die
       Versorgungssituation für die Patient*innen nicht“, sagt sie. Kompetente
       Sprachmittlung sei für eine adäquate, gleichberechtigte Teilhabe an einer
       menschenwürdigen gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung
       unerlässlich. „Sie darf nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden“,
       so Vogler.
       
       Der Berliner Kardiologe Matthias Marschner lässt sich trotz der
       Verzögerungen nicht entmutigen. „Wir bleiben hartnäckig und fragen immer
       weiter“, sagt er. Im Mai legte er zusammen mit Kolleg*innen der
       Ärztekammern Berlin und Baden-Württemberg dem Bundesärztetag einen Antrag
       vor. Darin wird der Vorstand der Bundesärztekammer aufgefordert, der
       Bundesregierung in Zukunft Druck in Sachen Sprachmittlung zu machen.
       
       Eine große Mehrheit der anwesenden Ärzt*innen stimmte dem Antrag zu. Ob
       die Bundesärztekammer dem Antrag nachgehen wird, ließ sie auf Anfrage der
       taz unbeantwortet.
       
       6 Sep 2024
       
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