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       # taz.de -- Thüringenwahl 2024: „Kein Wahlkampf für Stammwähler“
       
       > Als Umweltminister und Spitzenkandidat kämpft Bernhard Stengele gegen das
       > Aus der Grünen in Thüringen. Ein Besserwessi will er auf keinen Fall
       > sein.
       
   IMG Bild: Bernhard Stengele am 19. August in der Landesgeschäftsstelle der Thüringer Grünen in Erfurt
       
       taz: Herr Stengele, seit Beginn des Ukrainekriegs sind Sie acht Mal mit
       Hilfsgütern nach Lwiw gefahren – zuletzt Mitte August. Lastet Sie der
       Wahlkampf nicht aus? 
       
       Bernhard Stengele: Eigentlich hatte ich vor, erst im September wieder zu
       fahren. Im Moment habe ich als Minister und Spitzenkandidat im Wahlkampf
       genug zu tun. Aber dann habe ich den [1][Auftritt von Sahra Wagenknecht in
       der Talkshow von Maybritt Illner] gesehen, wo sie in Frage gestellt hat,
       dass Russland verantwortlich für den Angriff auf das Kinderkrankenhaus in
       Kyjiw ist. Das war unglaublich. Ich war selten so sauer nach einer
       Fernsehsendung. Da habe ich gesagt: Wir setzen ein Zeichen für uns und die
       Ukrainer und fahren jetzt rüber.
       
       taz: Der Krieg in der Ukraine ist eines der bestimmenden Themen in diesem
       Wahlkampf. [2][In Ostdeutschland ist die Ukrainehilfe unpopulär]. Dadurch
       sind Ihnen in Thüringen sicher Leute verloren gegangen?
       
       Stengele: Es gab deswegen Parteiaustritte, aber nicht viele. Bei den
       Wählern kann das anders sein. Das Thema ist irgendwie immer virulent.
       Selbst wenn ich bei einem Wahlkampfauftritt nur über Klimaschutz rede, habe
       ich das Gefühl: Irgendwas ist hier doch los? Bis dann wirklich wieder
       kommt: „Aber was ihr mit der Ukraine macht, finde ich falsch.“ Ich spreche
       das Thema deshalb meistens proaktiv an und setze darauf, dass es mehr als
       fünf Prozent in Thüringen gibt, die unsere Haltung richtig finden.
       
       taz: Haben Sie schon jemanden von Ihrer Position überzeugt?
       
       Stengele: Ja, neulich. Auf dem Geraer Markt war ein älterer Mann, der mir
       gleich zur Begrüßung gesagt hat: „Ich wähle AfD“ – wegen des Kriegsthemas.
       Den habe ich gefragt: Aber der Putin hat doch die Ukraine überfallen, oder?
       Hat er gesagt: Ja. So kamen wir ins Gespräch und am Ende meinte er, dass
       ich eigentlich recht habe. Man muss es auf das Grundsätzliche
       zurückführen: Musste Putin in die Ukraine gehen? Hat er das getan? War es
       falsch? Es klappt nicht immer, aber es kommt vor, dass wir damit
       Nachdenklichkeit erzeugen.
       
       taz: Im Bund diskutieren die Grünen, ob sie sich auf die Stammwähler
       besinnen oder neue Milieus erreichen sollten. In Thüringen stehen Sie bei
       vier Prozent, es droht das politische Aus. Wen wollen Sie auf den letzten
       Metern erreichen?
       
       Stengele: Immerhin ist die letzte Umfrage besser als die davor. Wir kämpfen
       also um jede Stimme. Und wir können und wollen es nicht alleine in den
       Städten schaffen, im Unterschied zu Sachsen haben wir davon zu wenige. Wäre
       Jena doppelt so groß, wären wir drin – ist es aber nicht. Also wollen wir
       alle erreichen, für die die Grünen überhaupt eine Option sind. Einen
       Wahlkampf, der sich nur an Stammwähler richtet, können wir nicht machen.
       
       taz: Was müssen Sie anders machen als Grüne in anderen Ländern oder im
       Bund?
       
       Stengele: Nehmen wir mal das Gebäudeenergiegesetz. Thüringen ist das
       Bundesland mit dem zweithöchsten Altersschnitt. Gleichzeitig haben
       Hausbesitzer hier viermal weniger Rücklagen als im Westen. Da stellen sich
       beim Thema Wärmedämmung ganz andere Fragen. Nämlich nicht: „Super, da
       kriege ich Fördergeld, das nehme ich mit.“ Sondern: „Wie kann ich mir das
       leisten, und wieso soll ich überhaupt noch so viel Geld in die Hand
       nehmen?“ Die soziale Komponente ist hier viel wichtiger. Ähnlich ist es bei
       der Windkraft.
       
       taz: Nämlich?
       
       Stengele: In Schleswig-Holstein jubeln die Landwirte, wenn sie auf ihren
       Feldern Windräder bauen können. Sie verdienen damit Geld. In Thüringen
       haben über 70 Prozent der Bauern das Land nur gepachtet. Die finden es
       nicht gut, wenn dort Windkraftanlagen gebaut werden, sie haben dann
       vielleicht weniger Acker, weniger Einnahmen. Zudem heißt es dann: „Das
       verstellt mir die Aussicht, der Projektierer kommt von sonst wo, und der
       Strom fließt nach Bayern.“ In Thüringen haben wir deshalb jetzt ein Gesetz
       verabschiedet, durch das die Gemeinden im Umkreis am produzierten Strom
       mitverdienen. In der Sekunde, in der man was davon hat, sieht das Windrad
       schon besser aus.
       
       taz: Die Grünen sitzen seit zehn Jahren im Energieministerium. Warum kam
       das Gesetz erst jetzt?
       
       Stengele: Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich bin ja selbst erst anderthalb
       Jahre im Amt. Ja, das hat zu lange gedauert.
       
       taz: Nach den Wahlen wird wieder die Diskussion aufkommen, warum die Grünen
       im Osten nicht richtig Fuß fassen. Was raten Sie Ihrer Partei?
       
       Stengele: Zum einen, was ich eben beschrieben habe. Bei all den großen
       Rädern, die in Berlin gedreht werden, dürfen wir nicht die kleinen Schritte
       übersehen, die für die Akzeptanz der Energiewende nötig sind. Zum anderen
       muss unsere Politik pragmatischer werden. Ich kenne hier Grüne, die wissen
       alles übers Klima und kaufen sich trotzdem ein Hybridauto. Als ich das
       hörte, dachte ich mir: Wenn sich nicht mal unsere Leute E-Autos kaufen, wie
       komme ich dann darauf, dass es alle anderen tun sollten? Es hilft ja auch,
       wenn einer seinen Verbrenner behält, ihn aber seltener fährt und öfter
       andere Leute mitnimmt. Wir sollten das Positive verstärken, statt den
       Leuten nur zu sagen: Das genügt nicht.
       
       taz: In der Klimakrise reichen kleine Schritte nicht.
       
       Stengele: Ich komme ursprünglich vom Theater. Wenn ich da Wallenstein
       spielen will, aber keiner im Ensemble das darstellen kann, muss ich ein
       anderes Stück oder eine andere Produktion machen. Am langsamsten wird die
       Klimapolitik, wenn die Leute uns Grüne abwählen.
       
       taz: Sie haben den Großteil Ihres Lebens als Schauspieler und Regisseur
       verbracht. 2012 kamen Sie als Theaterleiter aus dem Westen nach Thüringen.
       Damals gab es die AfD noch nicht, jetzt wird sie stärkste Kraft. Wie
       erleben Sie den Rechtsruck?
       
       Stengele: Ich habe damals in Altenburg ein internationales Theaterprojekt
       mit Schauspielern aus dem Ausland gemacht. Am Anfang gab es dort eine große
       Neugierde auf diese Menschen. Innerhalb von fünf Jahren hat sich das ins
       Gegenteil verkehrt, sogar bei Kindern. Am Ende kam einer meiner schwarzen
       Darsteller in eine Schulklasse, und die haben den sofort beschimpft. Was
       ist denn das für eine krasse Verschiebung?! Am Anfang gab es in Altenburg
       auch noch vier, fünf Kneipen, in denen man sicher war, und höchstens zwei
       Straßen, durch die man lieber nicht gegangen ist. Am Ende war es egal. Du
       konntest überall beschimpft werden. Man war ständig alert, und das hat sich
       ausgebreitet.
       
       taz: Was bedeutet das für grüne Politik?
       
       Stengele: Als Minister werde ich meistens sehr respektvoll behandelt. Aber
       in vielen kleineren Kommunen verlangt es echten Heldenmut, überhaupt zu
       sagen, dass man Grüner ist. Viele Mitglieder denken: „Hätte ich das doch
       nur nie jemandem erzählt“ – weil du als Grüner von vielen geächtet wirst.
       Das ist hart. Wer will denn ständig mit so einem Stigma durch die Gegend
       laufen?
       
       taz: Wie können Sie politisch wirksam bleiben, wenn Sie auch noch aus dem
       Landtag fliegen?
       
       Stengele: Das wollen wir verhindern. Und falls der Fall eintritt, müssen
       wir als Partei schauen, wie wir uns aufstellen. Ich habe schon mit der
       Bundespartei darüber gesprochen, wie man Strukturen aufrechterhalten
       könnte. Es haben alle verstanden, dass wir dafür Unterstützung bräuchten.
       
       taz: Was würden Sie machen? 
       
       Stengele: Ich bin nicht mit 20 in die Politik gegangen, sondern erst mit
       Mitte 50. Das ist entlastend. Ich bin beruflich nicht in diesem System groß
       geworden, bin nicht von ihm abhängig und könnte auch wieder loslassen.
       
       taz: Nach Ihrer Zeit in Thüringen sind Sie zunächst in Ihre Allgäuer Heimat
       gegangen. 2019 kamen Sie dann zurück, um Politiker zu werden. Was zieht Sie
       hierher?
       
       Stengele: Ich habe in Altenburg Leute mit der interessantesten Biografie
       und dem größten Mut getroffen. Den Pfarrer zum Beispiel, der 1989 in der
       Stasizentrale stand und nicht wusste, ob man ihn totschießt. Diese Leute
       haben oft auch einen guten Sinn dafür, Kunst und Politik zusammenbringen.
       Dadurch hat das Theater hier eine gesellschaftliche Relevanz, die ich im
       Westen nie erlebt habe. Als ich wieder im Allgäu war, fand ich dort eine
       solche Ignoranz gegenüber diesen historischen gesellschaftlichen
       Ereignissen. Die Leute dort beschweren sich über den Osten, der „immer nur
       Ärger macht, obwohl wir ihm doch schon alles gegeben haben“. Da habe ich
       gesagt: Da will ich nicht sein. Wirklich nicht. Das hat mich wieder
       hierhergezogen.
       
       taz: Erleben Sie umgekehrt Anfeindungen als Westdeutscher?
       
       Stengele: Ich persönlich höre solche Vorwürfe selten. Ich führe das darauf
       zurück, dass ich in einfachen Verhältnissen aufgewachsen bin. Ich war der
       Erste, der Abitur gemacht hat. Das Gefühl des Besserwessis, der hierher
       kommt und den Leuten das Leben erklärt, ist deshalb bei mir nie
       aufgekommen. Einen Unterschied merke ich aber in der Frage, mit der wir das
       Gespräch begonnen haben: der Ukraine. Ich diskutiere oft mit einer guten
       Freundin, einer Linken. Sie sagt, wir müssten doch die Zukunft unserer
       Kinder schützen, und will der Ukraine deswegen keine Waffen zur
       Verteidigung geben. Es sind dieselben Gründe, die mich dazu bringen, das
       andere zu tun. Auch wenn ich damit in Thüringen nicht alleine stehe und das
       Thema komplex ist, denke ich erstmals: Es gibt doch Unterschiede in der
       Sozialisation, die tief sitzen und für die keiner von uns etwas kann.
       
       26 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=s23M5K8kaxs
   DIR [2] /Historiker-ueber-den-Ukraine-Krieg/!5929944
       
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