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       # taz.de -- Stricken, Sticken und Co.: Feminismus ist Handarbeit
       
       > Unsere Autorin hat sich früher nie für sogenannten Mädchenkram
       > interessiert. Mittlerweile stickt sie gerne: Ist das ein Stich ins Herz
       > des Feminismus?
       
   IMG Bild: Die citoyennes tricoteuses, revolutionäre Strickerinnen während der Französischen Revolution
       
       Kein Buchstabe gleicht dem anderen. Das kleine „n“ ist doppelt so groß wie
       sein Nachbar „e“, die Punkte auf dem „o“ springen wild auf ihm herum. Alle
       sind sie durch ungerade Linien miteinander verbunden und entstehen nach
       demselben Prinzip: Ich steche die Nadel von unten nach oben durch den Stoff
       und lasse sie einige Millimeter daneben wieder verschwinden, dort, wo die
       letzte Linie endet. Bin ich fertig mit den Buchstaben, verknote ich den
       losen Faden sicher auf der Unterseite meines Stoffes. Anschließend
       [1][drehe ich den Stickrahmen] um und begutachte mein Werk. Eine krakelige
       Angelegenheit, finde ich, aber die Botschaft ist deutlich: „schöner wohnen
       ohne macker“. Mit einigen Blumen verziert hängt sie wenige Tage später
       eingerahmt im Hausflur meiner Freundin.
       
       Lange wollte ich mit Handarbeit nichts zu tun haben. Im Werkunterricht in
       der Grundschule erbrachte ich nicht gerade Glanzleistungen, und auch wenn
       meine Mutter die schlechten Noten im Stricken bis heute darauf zurückführt,
       dass meine Lehrerin mich als Linkshänderin diskriminierte, bin ich mir
       sicher, dass ich auch unabhängig davon nicht sonderlich begabt war. Meine
       Freizeit verbrachte ich lieber draußen im Garten [2][und auf dem
       Bolzplatz]. Regelmäßig begutachtete meine Oma meine mit blauen und grünen
       Flecken übersäten Beine und schüttelte nur den Kopf. Ich mochte das, weil
       sie so mein Gefühl bestätigte, anders zu sein als die Mädchen, mit denen
       ich damals ohnehin nichts anfangen konnte.
       
       Ein richtiges Mädchen zu sein, das bedeutete für mich früher: in der Schule
       ruhiger als die Jungs zu sein, sich schminken zu wollen, Haare flechten zu
       können und in Handarbeiten begabt oder zumindest interessiert zu sein.
       Verantwortlich für diesen Eindruck sind bis heute existierende
       Rollenklischees, die auf Unterdrückung und Diskriminierung fußen.
       
       Jahrhundertelang wurden Handarbeiten vor allem dazu benutzt, Mädchen zu
       erziehen, sie an das Zuhause zu binden und auf ihre Rolle als Hausfrau
       vorzubereiten. Im 19. Jahrhundert war das Bild einer jungen Frau, die näht,
       ein Symbol für Ausdauer, Präzision und Gehorsam – Eigenschaften, die Männer
       an Frauen besonders schätzten. Oft stellten Eltern die Werke ihrer
       heiratsfähigen Töchter gut sichtbar im Haus aus, damit junge Männer nicht
       nur die Tochter, sondern auch ihr handwerkliches Geschick bewerten konnten.
       
       Ich hätte damals mit Sicherheit keinen Typen abgekriegt. Die Unterseite
       meines Stoffes ähnelt einem Schlachtfeld, meine Schreibschrift der einer
       Sechsjährigen. Aber das stört mich nicht, denn Sticken befriedigt mich, so
       wie es sonst nur Lesen oder Schreiben tut.
       
       Anstatt auf Papier bringe ich meine Ideen, meine Wut und Begeisterung auf
       Stoff. Dass ich dafür eine halbe Ewigkeit brauche, ist das Schönste daran.
       Denn anders als in meinem Job oder beim Sport muss ich hier niemandem –
       auch nicht mir selbst – beweisen, dass ich es besonders schnell, gut oder
       akkurat kann. Und doch zweifele ich mein Hobby immer wieder an. Früher bin
       ich über die Stränge geschlagen, heute sitze ich gesittet zu Hause und
       sticke. Bin ich etwa unfeministisch geworden?
       
       Vielleicht kann mir meine Oma helfen, Antworten auf diese Frage zu finden.
       Am Telefon erinnert sie sich an den Haushaltsunterricht in der Schule, der
       für Mädchen verpflichtend war. Dort stand neben Sticken, Stricken und Nähen
       auch Kochen und Backen auf der Agenda. Gerichte und Muster wurden
       vorgegeben, eigene Kreativität war nicht gefragt. Auch die Geldmittel für
       Materialien und Zutaten flossen spärlich. Aus weniger sollte mehr werden,
       hieß es damals. Einmal sei meine Oma so wütend darüber geworden, dass sie
       ihren Scheuerlappen in den Kochtopf feuerte und ging – für ihr Benehmen
       musste sie mit einer schlechten Note und Strafarbeit büßen. „Ich wollte
       keine Hausfrau sein“, erzählt sie mir. Geworden ist sie es trotzdem.
       
       Das veraltete Bild der Hausfrau, die mit bekannten Sprichwörtern wie
       „Langes Fädchen, faules Mädchen“ oder „The devil finds work for idle hands“
       zur Arbeit angehalten wird, ist längst überholt. Heute wenden sich viele
       junge Frauen – und auch immer mehr Männer – bewusst von dem verstaubten
       Image häuslicher Zierarbeiten ab und präsentieren ihre Werke im
       öffentlichen Raum, oft mit politischer Absicht. „Nadel, Faden und simpler
       Unmut über die herrschenden Verhältnisse“, so schreibt es die
       Kulturwissenschaftlerin Sarah Held, reichen den feministisch motivierten
       Aktivist*innen des sogenannten Critical Crafting aus.
       
       Wenn sich Menschen unter politischen Vorzeichen zum Häkeln, Stricken oder
       Sticken zusammenschließen, spricht man heutzutage auch von „Craftivism“,
       „Subversive Stitching“ oder „Revolutionary Knitting“. Am populärsten ist
       wohl das 2005 in den USA gegründete „Guerilla Knitting“, auch „Yarn
       Bombing“ genannt, eine Form der Streetart, bei der ein gestrickter oder
       gehäkelter Gegenstand an einem festen Objekt in der Öffentlichkeit
       angebracht wird. Auch in Deutschland findet man in vielen Städten
       umstrickte Laternenpfeiler oder umgarnte Bäume, die als Widerstand gegen
       die Massenproduktion gelten können, aber auch auf verschiedene andere
       gesellschaftliche Problematiken hinweisen.
       
       Klassische [3][Handarbeitstechniken], die als Protestform dienen, sind kein
       neues Phänomen. Sarah Held nennt in ihrem Buch „Zur Materialität des
       feministischen Widerstands“ etwa die citoyennes tricoteuses, die
       revolutionären Stickerinnen, die während der Französischen Revolution an
       Orten des militärischen Geschehens auftraten, um den Gegnern ihr
       Durchhaltevermögen zu demonstrieren.
       
       Im Allgemeinen war textile Handarbeit in der Geschichte übrigens [4][keine
       reine Frauensache]. Vor allem, wenn Handarbeit in die Öffentlichkeit
       geriet, waren prominente Akteure – wie könnte es anders sein –
       üblicherweise männlich. Heute gibt es verschiedene Männerstrickgruppen, die
       sich mit ihrer Kunst im öffentlichen Raum gegen patriarchale Strukturen
       auflehnen wollen.
       
       Ich sticke zwar nicht für den öffentlichen Raum, und auch die Rebellion
       gegen patriarchale Strukturen ist bei meinem Zeitvertreib ausnahmsweise
       Nebensache. Dennoch merke ich in den Gesprächen mit meiner Oma, dass mein
       Hobby nicht weiter entfernt von dem sein könnte, was sie unter Handarbeit
       versteht. Anstatt Kochschürzen besticke ich Caps und T-Shirts für meine
       Freunde. Dabei sitze ich selten zu Hause, sondern oft in Zügen oder auf
       Parkbänken in der Sonne. Und im Zimmer meiner kleinen Schwester liegt seit
       ihrem letzten Geburtstag eine Decke, die sie jeden Tag an unsere geteilte
       Astrid-Lindgren-Zeit erinnert. Darauf steht in krakeliger Schrift: „Nein,
       jetzt werde ich wütend! Wenn ich kein Geld habe, dann kann ich keine
       Limonade trinken, und wenn ich Geld habe, dann darf ich keine Limonade
       trinken! Wann zum Himmeldonnerwetter noch mal soll ich denn dann Limonade
       trinken?“
       
       Vielleicht ist es dieser Unterschied zwischen Müssen, Können und Dürfen,
       der auch bei der Handarbeit entscheidet, ob sie feministisch sein kann oder
       nicht. Ich muss nicht sticken, aber ich will – und zwar schief und krumm
       und langsam.
       
       9 Nov 2024
       
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