URI: 
       # taz.de -- Politikwissenschaftler über Jordanien: „Ein Schritt nach vorne“
       
       > Im Königreich Jordanien darf erstmals nach den jüngsten Reformen ein
       > neues Parlament gewählt werden. Edmund Ratka sieht Herausforderungen bei
       > der Umsetzung.
       
   IMG Bild: Symbol der Breite der Parteienlandschaft Jordaniens: Wahlplakate in der Hauptstadt Amman
       
       taz: Herr Ratka, 2022 wurden in Jordanien eine Reihe von Reformen
       durchgeführt. Das Königreich sollte demokratischer werden, den Parteien
       mehr Gewicht im politischen System zukommen. Ist das gelungen? 
       
       Edmund Ratka: Diese Reform ist ein Schritt nach vorne, jedenfalls auf dem
       Papier. Vorher wurde den Parteien grundsätzlich wenig Bedeutung beigemessen
       und ihnen eine regierungskritische Rolle zugeschrieben. Das neue Gesetz
       sendet ein wichtiges Signal: Für die Parteien ist nun etwa ein Drittel der
       Sitze im Parlament reserviert, in Zukunft sollen es noch mehr werden. Viele
       bekannte Politiker, die früher unabhängig waren, führen nun auch Parteien
       an, und es gab viele Parteineugründungen.
       
       taz: Also alles auf bestem Wege? 
       
       Ratka: Die Herausforderung liegt – wie bei früheren Reforminitiativen in
       Jordanien – in der Umsetzung: So engagiert staatliche Stellen für diese
       „politische Modernisierung“ werben, so wenig neutral waren sie in diesem
       Prozess teilweise. Kritische Kräfte sollen benachteiligt worden sein. Eine
       prominente Oppositionspartei scheiterte zum Beispiel bei der erforderlichen
       Neuregistrierung an formalen Hürden, sie vermutet eine politische
       Motivation dahinter. Der Staat möchte den Parteien mehr Raum geben, aber
       weiter die Hand darauf halten.
       
       taz: Dass die Parteien mehr Macht bekommen, war nicht das einzige Ziel der
       Reform. Auch Frauen und die Jugend sollten in der Politik gefördert werden. 
       
       Ratka: Es gibt nun Quotenregelungen für Frauen und junge Menschen unter den
       Parteimitgliedern und für die Wahllisten. Das sagt zwar noch wenig über die
       Qualität ihres Engagements aus, jedoch werden mehrere Parteien mittlerweile
       von Frauen geführt. Und wir merken in unseren politischen Seminaren für
       junge Menschen eine ernsthafte Überlegung, sich zu engagieren. Es wäre aber
       falsch zu sagen, dass das ganze Land von einer Begeisterung über
       politischen Aktivismus erfasst ist. Den normalen Jugendlichen abzuholen ist
       nicht ganz einfach. Die Enttäuschung und das Misstrauen gegenüber
       politischen Institutionen waren bisher groß.
       
       taz: Eine Umfrage des jordanischen Forschungsinstituts Nama Strategic
       Intelligence Solutions hat eine Wahlbeteiligung von immerhin 35 Prozent
       vorausgesagt. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2020 lag sie bei gerade 30
       Prozent. 
       
       Ratka: Es ist nun auch Aufgabe der Politiker in den Parteien, den Leuten zu
       zeigen: Wir meinen es ernst. Dies ist nicht nur Demokratierhetorik, sondern
       ihr könnt wirklich einen Unterschied machen, wenn ihr wählen geht. Denn
       daran glauben viele noch nicht. Und dafür gibt es auch Gründe: [1][etwa der
       Verdacht, dass sich Behörden in die Parteilandschaft einmischen]. Hinzu
       kommt noch die Frage: Was entscheidet eigentlich dieses Parlament? Und da
       haben wir schon ein Problem.
       
       taz: Weil die Macht des Parlaments – und der darin enthaltenen Parteien –
       in Jordanien immer noch beschränkt ist? 
       
       Ratka: Ja, der neue Rechtsrahmen bringt eben keinen Durchbruch zu einer
       echten parlamentarischen Monarchie – zumindest noch nicht. [2][Im Zuge
       dieser Reformen wurden zunächst die Befugnisse des Königs sogar gestärkt],
       gerade im Bereich Außenpolitik. Der Premierminister wird in Jordanien
       ebenfalls vom König ernannt. Es ist aber nicht so wie etwa in Marokko, dass
       der König einen Premierminister ernennen muss, der aus der Partei kommt,
       die die meisten Sitze hat.
       
       taz: In Jordanien waren die stärksten Parteien bislang die
       islamisch-konservativen, darunter die Islamische Aktionsfront, der
       politische Arm der Muslimbrüder. 
       
       Ratka: Mittlerweile haben sich aber auch neue Zentrumsparteien etabliert,
       die in kurzer Zeit Tausende Mitglieder gewonnen haben. Ich habe mal vom
       jordanischen Paradox gesprochen: Partizipation und Kontrolle. Man will,
       dass sich die Menschen engagieren, aber eben unter dem aufmerksamen Auge
       des Staates, mit einem Sicherheitsnetz. Ein eingegrenztes Spielfeld, in dem
       die Parteien „üben“ können – um dann irgendwann mal tatsächliche
       Regierungsverantwortung zu übernehmen. Dieses Experiment verdient durchaus
       Anerkennung, kann aber eben auch wieder abgebrochen werden.
       
       taz: Eher Kosmetik als echte Demokratie? 
       
       Ratka: Ich glaube, dass es mehr als das ist. Es gibt engagierte Kandidaten
       und Kandidatinnen. Man schafft Möglichkeiten zur Partizipation, politische
       Diskussionsräume, die nun ausgeprägter sind als noch vor Beginn der
       Reformen – wenn auch nach wie vor begrenzt.
       
       taz: Der Krieg in Gaza könnte Parteien wie der Islamischen Aktionsfront zum
       Sieg verhelfen. Diese hat sich [3][stark pro-palästinensisch] geäußert, sie
       erkennt außerdem den Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien nicht
       an. 
       
       Ratka: Gaza ist in Jordanien ein Riesenthema. Grundsätzlich haben alle
       politischen Kräfte ihre [4][Solidarität mit den Palästinenser]n deutlich
       artikuliert. Die säkular-liberalen Kräfte, die oft mit dem Westen
       assoziiert werden, stehen jetzt stärker unter Druck – und ich vermute, dass
       die IAF davon profitieren wird. Aus meiner Sicht wird das aber nicht dazu
       führen, dass sie einen Erdrutschsieg einfahren. Weder die Gesellschaft noch
       die Außenpolitik werden sich verändern, jedenfalls nicht wegen dieser
       Parlamentswahl. Dafür sorgen eben diese Sicherheitsnetze. Und viele
       Jordanier wissen genau, dass gute Beziehungen zum Westen im nationalen
       Interesse sind.
       
       taz: In den vergangenen Monaten gab es Berichte über Waffenfunde in
       Jordanien, und die Palästinensermiliz Hamas gewinnt an Popularität. Ist die
       innere Stabilität Jordaniens gefährdet? 
       
       Ratka: Der [5][Gazakrieg] verstärkt destabilisierende Elemente. Das hängt
       auch mit der Wirtschaftskrise zusammen, der Tourismus wurde beispielsweise
       stark in Mitleidenschaft gezogen. Und mit der Unzufriedenheit von Teilen
       der Bevölkerung mit ihrer Regierung und den weiterhin bestehenden
       Beziehungen zu Israel. Aber solche Spannungen sind nicht stark genug, um
       die Stabilität des Landes ins Wanken zu bringen. Es gibt eine politische
       Verhärtung und teilweise Radikalisierung von jungen Menschen. Außerdem gibt
       es eine Enttäuschung über den Westen, die sich auch in eine
       Wahlentscheidung für islamistische Kräfte niederschlagen kann. Das sollte
       man im Auge haben – ist aber im Moment nicht stabilitätsgefährdend.
       
       10 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Pressefreiheit-in-Jordanien/!5857048
   DIR [2] /Reformen-in-Jordanien/!5842217
   DIR [3] /Palaestina-Solidaritaet-in-Jordanien/!5993520
   DIR [4] /Palaestinenserinnen-in-Jordanien/!5854914
   DIR [5] /Report-aus-dem-Al-Aksa-Maertyrer-Spital/!6029855
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Serena Bilanceri
       
       ## TAGS
       
   DIR Jordanien
   DIR Wahlen
   DIR König
   DIR Muslimbrüder
   DIR Social-Auswahl
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Israel
   DIR Jordanien
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Jordanien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Syrische Geflüchtete in Jordanien: In Armut gefangen
       
       In Jordanien müssen Geflüchtete neuerdings hohe Gebühren zahlen, um
       arbeiten zu können. Das hängt auch mit fehlenden Hilfsgeldern zusammen.
       
   DIR Fehlende Touristen: Die wüste Wüstenstadt
       
       Petra gilt als Touristenmagnet in Jordanien. Doch der Gazakrieg und die
       regionalen Spannungen sorgen für leere Hotels und stornierte Reisen.
       
   DIR Niedrige Wahlbeteiligung: Steiniger Weg zur Demokratie
       
       Der Krieg in Gaza überschattet die Parlamentswahl in Jordanien. Die
       Islamistische Opposition wird stärkste Kraft im Land.
       
   DIR Pro-Palästina-Demos in Jordanien: Massenhaft in Haft ​
       
       Jordanien hat im Zusammenhang mit Palästina-Demos Hunderte Menschen
       festgenommen. Auch andere arabische Länder unterdrücken Proteste.
       
   DIR Experte zu Eskalation in Nahost: „Jordanien steht unter Druck“
       
       Einige von Irans Drohnen und Raketen wurden von Jordaniens Luftwaffe
       abgefangen. Ammans Verhältnis zu Israel bleibt aber angespannt, so ein
       Experte.
       
   DIR Deutsch-Jordanische Beziehungen: Schöne Autos – schlechte Politik
       
       In Jordanien sieht man Deutschland neuerdings deutlich kritischer.
       Zumindest weite Teile der Gesellschaft. Grund ist die Nahostpolitik.