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       # taz.de -- Manifesta15-Kunstfestival in Barcelona: Mit Motoren- und Bienen-Brummen
       
       > Den Blick auf die eigene Region verändern, das will man auf der Manifesta
       > 15. In und um Barcelona steht deshalb Kataloniens Infrastruktur im Fokus.
       
   IMG Bild: Ein ehemaliges Heizkraftwerk aus den 1970ern ist Hauptstandort der Manifesta 15: „The Three Chimneys“ in Sant Adrià de Besòs
       
       Der Sturm kam wie bestellt. Am Tag, an dem der Großteil der internationalen
       Presse und des Fachpublikums zur Vorbesichtigung der europäischen
       Wanderbiennale Manifesta anreiste, die in diesem Jahr in Barcelona und der
       Metropolregion stattfindet, sorgte ein Unwetter für Verspätungen und
       Ausfälle am Flughafen Barcelonas. Immer wieder passiert so etwas. Immer
       öfter. Das, was man als Extremwetter bezeichnet, Starkregen mit Sturmböen
       eben, genauso aber auch lange Dürreperioden als Folgen des Klimawandels,
       gehört mittlerweile zur spanischen Realität.
       
       Ein ganzes Konglomerat sozioökologischer Konfliktfelder hängt ganz oder
       teilweise damit zusammen. Zuletzt war Barcelona vor allem wegen der
       Proteste gegen den [1][Massentourismus, unter dem die katalanische Stadt
       ächzt,] in den Medien.
       
       Von Demonstrierenden wurde da berichtet, die mit Wasserpistolen auf
       Urlauber*innen zielten, von einem geplanten [2][Verbot von
       Ferienwohnungen]. Verrückt erscheint es da zunächst, dass mit der Manifesta
       noch eine weitere Großveranstaltung in der Region stattfindet, die
       potenziell Gäste von auswärts anlockt. Doch um diese, das sei an dieser
       Stelle gleich verraten, geht es der Manifesta gar nicht, zumindest nicht
       primär.
       
       Auf den Kunstjetset, der für große Events die Welt bereist – das macht
       diese Ausgabe noch deutlicher als die vorherigen – ist sie nicht
       ausgerichtet. Vielmehr soll vor Ort etwas angestoßen werden.
       
       ## Manifesta-Gründung nach dem Kalten Krieg
       
       Die Manifesta wurde Anfang der 1990er Jahre von Hedwig Fijen gegründet,
       die noch heute deren Direktorin ist, als Reaktion auf all die sozialen,
       kulturellen und politischen Fragestellungen, die sich in Europa nach dem
       Ende des Kalten Krieges stellten. Die erste Ausgabe fand im Jahr 1996 in
       Rotterdam statt. [3][Vor zwei Jahren war Prishtina dran], 2026 geht es ins
       Ruhrgebiet.
       
       Die Manifesta ist 2024 eine der Superlative. Sie bespielt nicht nur eine,
       sondern gleich 12 Städte, eine Fläche von 3.000 Quadratkilometern, bewohnt
       von 5,1 Millionen Menschen. Zu Gesicht bekommt man dabei allerdings nichts
       von dem, was Barcelona sonst touristisch vermarktet. Dezentralisierung ist
       das große Stichwort der Manifesta.
       
       Sie wollten „auf Europa schauen, durch die Augen dieser Region“, so
       formuliert es Fijen, weil die Fragestellungen, die dort verhandelt werden,
       freilich auch andere Regionen umtreiben. Einen Inkubator nennt sie die
       Manifesta, die Biennale soll Entwicklungen antreiben, „periphere Gebiete
       zum Zentrum des ökosozialen Wandels machen“.
       
       Untergliedert wurde das Gebiet in drei Themenschwerpunkte, die jeweils auch
       geografisch ein Cluster bilden. Als Hauptquartier dient das ehemalige
       Verlagshaus Gustavo Gili, der einzige Standort in Barcelona selbst. Ein
       modernistischer Bau, versteckt in einem Innenhof, erbaut in den 1950er
       Jahren. Seit 2016 stand er leer, jetzt soll er auch in Zukunft kulturelle
       Veranstaltungen beherbergen.
       
       ## Fehlendes öffentliches Nahverkehrsnetz
       
       Bequem ist es nicht von A nach B, C und D zu kommen. Eben das ist einer der
       Punkte, auf die aufmerksam gemacht werden soll: Der Verkehr ist wie in
       vielen Regionen auf das Zentrum, auf Barcelona ausgerichtet. Was fehlt, ist
       ein öffentliches Nahverkehrsnetz, das die umliegenden Städte direkt unter
       sich miteinander verbindet. Im Handbuch zur Manifesta werden zwar Touren
       vorgeschlagen und Verkehrsmittel aufgeführt.
       
       Als Kurztrip alle 12 Standorte abzufahren, wäre jedoch viel zu aufwendig.
       Gedacht ist vielmehr, dass die Menschen aus der Region innerhalb der 12
       Wochen nach und nach einzelne oder auch alle Orte besuchen. Und dabei
       feststellen, dass sich interessante Orte gleich nebenan befinden:
       historische Kulturstätten, Überreste römischer Siedlungen aus dem 5.
       Jahrhundert, ein Kloster aus dem 9. Jahrhundert, kleine Museen,
       Fabrikhallen aus dem späten 19. Jahrhundert.
       
       Einige der Orte sind zum ersten Mal offen für Publikum, so auch der
       schönste von ihnen, die Casa Gomis. Errichtet nach Entwürfen von Antoni
       Bonet Castellana in den 1950er Jahren für Ricardo Gomis Serdañons und seine
       Frau Inés Bertrand Mata in El Prat de Llobregat: Wellenförmige Dächer,
       flaschengrüne Kacheln, strukturierte Elemente aus Backsteinziegeln und
       bunten Glasbausteinen mit einem parkähnlichen Garten samt Pool drumherum,
       hinter einem Zaun ist gleich der Strand – ein architektonisches Juwel, noch
       immer in Familienbesitz.
       
       Bemerkenswert ist auch der Sound, wenn man sich diesem annähert: Die
       Zikaden zirpen, das Meer rauscht und über alles brummen in irrer Lautstärke
       die Motoren der Flieger des nahe gelegenen Flughafens hinweg. Um einiges
       weiter weg war der noch, als die Casa Gomis gebaut wurde, doch er rückte
       immer näher und wird es weiter tun, wenn der Ausbau des Flughafens
       Barcelona-El Prat wie geplant umgesetzt wird.
       
       ## Künstler*innen mit Bezug zu Katalonien
       
       Eine Gefahr wäre das nicht nur für die Casa Gomis, sondern auch für das für
       das Gleichgewicht zwischen Meer und Festland immens wichtige
       Naturschutzgebiet La Ricarda, auf dem es sich befindet.
       
       Auch das spielt mit hinein in die Auswahl der Kunstwerke vor Ort, unter
       denen auch solche zu sehen sind, die Gomis Serdañons und Bertrand Mata in
       Auftrag gegeben hatten. Die Skulpturen des katalanischen Autodidakten
       Moisès Villèlia im Garten etwa oder eine wandfüllende textile Arbeit von
       Magda Bolumor Chertó platziert hinterm Esstisch, die dort auch davon
       erzählt, wie die Casa Gomis in der Zeit der Franco-Diktatur Zufluchtsort
       für Künstler*innen der Avantgarde war.
       
       Historische Arbeiten mischen sich unter die der zeitgenössischen
       Künstler*innen, unter denen viele wie überall in der Manifesta einen
       persönlichen Bezug zu Katalonien haben oder zumindest länger dort
       recherchiert haben.
       
       An anderen Orten der Manifesta erscheint die Kunst indes leider oft eher
       Mittel zum Zweck zu sein, um diese eben mit irgendwas bespielen zu können.
       Verpasste Chancen sind das. Zusammengewürfelt und leicht esoterisch
       erscheint etwa die Präsentation im Kloster von San Cugat,
       Hauptausstellungsort des Clusters „Cure and Care“. Die Schwächen des
       basisdemokratischen kuratorischen Prinzips, das die Manifesta hochhält,
       zeigen sich dort besonders deutlich.
       
       ## Selbstheilungskräfte der Natur
       
       Schade ist es, wenn man die weiten Wege zwischen den Ausstellungsorten auf
       sich nimmt und dann die Kunst enttäuscht. Wichtiger erschien den
       Veranstaltenden offenbar, überhaupt zu zeigen, dass da etwas gehen kann. Zu
       beweisen, dass Kultur nicht zwingend in der katalanischen Hauptstadt
       stattfinden muss.
       
       Der Hauptort der Manifesta befindet sich nur eine kurze Fahrt mit der Tram
       davon entfernt, in einem in den 1970ern gebauten ehemaligen Heizkraftwerk
       in Sant Adrià de Besòs, einem fast schon kathedralenartigen,
       brutalistischen Betonkomplex mit drei charakterischen Kaminen, „Three
       Chimneys“ genannt. Dort sollte man hingehen, wenn man nur wenig Zeit hat.
       Allein schon wegen des Ortes. Der Brite Mike Nelson habe diesem
       „skulpturalen Monument“ gar nicht erst etwas hinzufügen wollen, heißt es.
       
       Stattdessen errichtete er in Sichtweite, nah beim Strand eine Hütte aus
       Schutt, als Denkmal für alle, die mal in dem Kraftwerk arbeiteten. Drinnen
       in der „Sagrada Familia de l’Electricitat“ hat [4][der US-amerikanische
       Künstler Asad Raza] ganz oben die Fensterscheiben herausgenommen und lange
       weiße Stoffbahnen in die riesige Halle gehängt. Sie tanzen im Wind, der vom
       Mittelmeer über das Land zieht, poetisch, schön und vieldeutig ist das.
       
       Die portugiesisch-deutsche Künstlerin Maja Escher hat ihre Stoffe mit
       Schlamm und Lehm, den sie vor Ort sammelte, eingefärbt und mit
       aktivistischen Slogans und Gedichten beschriftet. [5][Der Angolaner
       Kiluanji Kia Henda] beschwört in seiner Installation die
       Selbstheilungskräfte der Natur.
       
       ## Bedeutung der Bienen und Bürgerkriegsgeschichte
       
       „The Frankenstein Tree“, der Titel passt, aus Holzabfall, Ästen und den
       Überbleibseln von Bäumen aus Waldbrandgebieten im etwa 40 Kilometer
       entfernten El Pont de Vilomara hat er seinen Wald zusammengesteckt. Eine
       Archivausstellung erzählt die Geschichte des Kraftwerks. Viel zu entdecken,
       viel zu erfahren gibt es auf drei Stockwerken.
       
       Wird das Konzept aufgehen? Wie die katalanische Bevölkerung mit der Kunst
       interagiert, kann man im Kleinen während der Vorbesichtigungstage am
       Marktplatz der 60.000-Einwohner*innenstadt Granollers beobachten. Dort
       steht seit dem 16. Jahrhundert „La Porxada“, ursprünglich gebaut für den
       Tausch von Getreide. Während des Bürgerkrieges zerstörte die italienische
       Luftwaffe 1938 Teile des Gebäudes, Hunderte Zivilist*innen starben.
       
       Der französische Soundkünstler Félix Blume hat dort jetzt 500 kleine
       Lautsprecher aufgehängt. Jeder einzelne gibt das Summen einer Biene wieder.
       Steht man darunter, fühlt man sich, als sei man Teil des Schwarms. Die
       Arbeit soll sowohl an die Geschichte des Ortes, wie an die Bedeutung der
       Bienen für das Ökosystem erinnern. Aufmerksamkeit bekommt sie definitiv:
       Passant*innen bleiben minutenlang stehen, lauschen, gehen ein paar
       Schritte weiter, lauschen wieder.
       
       Und im Großen? Wird die Manifesta verändern, wie die Menschen vor Ort ihre
       Region wahrnehmen? Oder gar dazu beitragen, konkrete Dinge zu verändern?
       Erst im Nachgang wird man das beantworten können. Die Manifesta führt stets
       Befragungen bei Besuchenden durch. Prishtina gilt aufgrund solcher
       Ergebnisse als Erfolg.
       
       Recherchen zu diesem Artikel wurden von der Manifesta 15 unterstützt.
       
       9 Sep 2024
       
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