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       # taz.de -- Jahrestag der Überflutung in Libyen: Bagger und Traumata
       
       > Ein Jahr nach der Flutkatastrophe im libyschen Darna gleicht die Stadt
       > noch immer einer Trümmerwüste. Und auch ihren Bewohnern geht es oft kaum
       > besser.
       
   IMG Bild: Die libysche Stadt Darna gleicht ein Jahr nach dem Hochwasser einer großen Baustelle
       
       Darna taz | Mit einem nationalen Trauertag wird am Mittwoch in Libyen an
       die Flutkatastrophe erinnert, die am 11. September letzten Jahres über die
       an Ägypten grenzende Küstenregion hereinbrach. Als damals das bereits seit
       Tagen über dem südöstlichen Mittelmeer tobende Sturmtief „Daniel“ am Abend
       des 10. Septembers auf die Hafenstadt Darna traf, fürchteten viele der
       200.000 Bewohner eine massive Überflutung der Innenstadt.
       
       Zeit, den Hafen von Darna mit Sandsäcken zu schützen oder Teile der
       zwischen dem Mittelmeer und den Jebel-Akhdar-Bergen liegenden Stadt [1][zu
       evakuieren blieb nicht]. Und seit der Besatzung durch den Islamischen Staat
       (IS) von 2014 bis 2018 und dem Krieg zwischen der Armee und den Islamisten
       sind viele Mitarbeiter des Zivilschutzes tot oder geflohen.
       
       In den Morgenstunden des 11. September, als Teile des Hafens von den
       tobenden Wellen bereits überflutet waren, fuhren Lautsprecherwagen von
       Chalifa Haftars Libyscher Armee durch die Straßen und forderten die
       Bewohner auf, die niedrig gelegene Stadtteile zu verlassen. Wegen des
       peitschenden Windes und Regens, aber auch wegen des Mangels an Wohnraum
       wussten viele nicht, wohin sie hätten fliehen sollen. Viele der Häuser, in
       denen sich die Radikalen zuvor verschanzt hatte, waren immer noch
       unbewohnbar.
       
       ## „Es ging schneller, als ich es verarbeiten konnte“
       
       In dem wie eine Halbinsel am Fuße der „Grünen Berge“ liegende Darna gibt es
       mehr 10-stöckige Häuser als in vielen anderen libyschen Städten. In diesen
       fühlten sich die Bewohner sicher – „bis kurz vor Sonnenaufgang dieses
       grollende Geräusch zu hören war, das den ohrenbetäubend lauten Sturm wie
       Stille erscheinen ließ“, sagt Lobna Almustari. Die 22-Jährige hatte damals
       bereits 24 Stunden mit ihrer Schwester und Mutter in der gemeinsamen
       Wohnung im 5. Stock eines Hochhauses ausgeharrt.
       
       „Es ging schneller, als ich es verarbeiten konnte“, erzählt sie bei einem
       gemeinsamen Rundgang ein Jahr nach der Katastrophe. „Plötzlich sah ich
       Menschen und Autos, die von einer meterhohen Flutwelle in Richtung Meer
       mitgerissen wurden, dann Häuser. Das Wasser stieg bis wenige Meter
       unterhalb unserer Wohnung. Als ich aus dem Treppenhaus zurückkam, um nach
       unseren Nachbarn zu schauen, blickte ich aus dem Fenster. Mehrstöckige
       Häuser, die ich seit meiner Kindheit kannte, waren einfach weg.“
       
       [2][Ein in den 1970er Jahren gebauter Damm oberhalb der Stadt hatte den
       Wassermassen nicht mehr standgehalten]. Und eine 12 Meter hohe Flutwelle
       riss daraufhin ein Drittel Darnas wie Spielzeug in das Mittelmeer.
       
       ## „Bäume knickten wie Streichhözer um“
       
       Mohamed Mmena hat als Fotograf den Aufstand gegen Ex-Diktator Muammar
       Gaddafi in Bengasi sowie den Häuserkampf gegen den IS in Derna für
       internationale Fotoagenturen dokumentiert. In der Nacht auf den 11.
       September 2023 blickte der in Derna geborene 36-Jährige von seinem oberhalb
       der Stadt liegenden Wochenendhaus auf das Drama unter ihm. „Die Sturmböen
       knickten Bäume vor meinen Augen wie Streichhölzer um. Ich ging dennoch
       einmal pro Stunde heraus, um Fotos zu machen. Uns allen war klar, dass
       dieser Sturm der Höhepunkt der seit Jahren andauernden Klimaveränderung
       war, ein neuer Krieg sozusagen.“
       
       Mnena hatte keine Vorstellung davon, was in den folgenden Stunden über die
       idyllisch gelegene Küstenstadt Derna hereinbrechen würde: „Kurz vor
       Sonnenuntergang hörte und sah ich diese Welle. Es war als würde die Zeit
       stillstehen. Das Geräusch bekomme ich, mehr noch als meine vielen
       gefährlichen Kriegseinsätze, nicht mehr aus dem Kopf“, sagt Mnena. Vor
       seinen Augen verschwanden 10-stöckige Häuser mitsamt Freunden von ihm,
       seine alte Schule, ganze Straßenzüge im Meer.
       
       Zwischen 4.000 und 10.000 Menschen starben am 11. September 2023 allein in
       Darna. Lokale Aktivisten gehen sogar von bis zu 20.000 Toten aus, darunter
       viele nicht registrierte Gastarbeiter aus Ägypten und dem Sudan oder
       libysche Familien. die vor anderen Konflikten im Land nach Darna geflohen
       waren. Sie siedelten nach dem Sieg über den IS in dem seit Jahrzehnten
       trockenen Flussbett des in den Grünen Bergen gestauten Wadi-Flusses. Dieser
       Teil der Stadt existiert nun nicht mehr.
       
       Viele der 40.000 Bewohner, die ihre Wohnungen und Häuser verloren hatten,
       leben weiterhin bei Verwandten oder in Flüchtlingslagern in der Nähe. Die
       von Armeechef Chalifa Haftar kontrollierte Lokalverwaltung geht von 11.300
       Toten, 8.000 Vermissten und 7.000 Verletzten aus.
       
       ## Neuwahlen waren kurz vor der Flut abgesagt worden
       
       Kritische Fragen über die schleppend verlaufenden Rettungsarbeiten sowie
       die ausgebliebenen Warnungen vor dem Dammbruch sind in Darna unerwünscht.
       Die Stadtverwaltung hatte bei der riskanten Besiedlung des Wadis ein Auge
       zugedrückt, da mit der explodierenden Einwohnerzahl nach Jahren der
       Terrorherrschaft der Islamisten ein regelrechter Wirtschaftsboom folgte.
       
       Die Neuwahlen des Gemeinderates waren kurz vor der Flut abgesagt worden.
       Denn die aktive Zivilgesellschaft Darnas hatte die autokratische Herrschaft
       Haftars und seiner Söhne zu lautstark kritisiert. Einer von ihnen,
       [3][Belgacem Haftar, leitet den Wiederaufbaufonds für Darna] und stellte in
       dieser Woche einer Delegation der UN-Mission für Libyen (Unsmil), den
       Wiederaufbauplan vor. Mithilfe des mit 2,1 Milliarden Dollar gefüllten
       Investitionsfonds wurden 3.500 Gebäude wiederaufgebaut, so Belgacem Haftar.
       
       Doch trotz der rund um die Uhr aktiven Bagger ägyptischer und russischer
       Baufirmen gleichen weite Teile Darnas noch immer einer Trümmerwüste. Kritik
       an der Armee ist weiterhin gefährlich, viele Menschenrechtsaktivisten sind
       mittlerweile nach Bengasi oder in die Hauptstadt Tripolis gezogen.
       
       Der Dokumentarfotograf Mohamed Mmena, der die Flut miterlebte, will das
       alte Darna zurückbringen: Die Stadt habe sich „schon gegen Gaddafis
       Herrschaft mit Kunst und Kultur gewehrt“. Er will ein Café zeigen, in dem
       er einst eine Fotoausstellung über Libyen nach dem Arabischen Frühling
       eröffnet hatte. Von dem Gebäude sind nur Umrisse übrig. Mmena wendet sich
       kurz zur Seite und weint.
       
       ## Darna als Symbol für die Herausforderungen in der Region
       
       Nach der Flut hatten Bürgerinitiativen aus ganz Libyen für die Überlebenden
       von Darna und der durch die Regenmassen überfluteten Nachbarstädte Al-Baida
       und Cyrene gesammelt. „Die Katastrophe hat die politische Trennung zwischen
       Ost- und Westlibyen für einen Moment aufgehoben, sagt Amal Elhaj, eine
       Aktivistin aus Tripolis. Doch in Darna brauche man vor allem Hilfe bei der
       Traumabewältigung, sagt die Flut-Betroffene Lobna Almustari.
       
       Elhaj reiste im letzten Jahr mehrmals zusammen mit [4][Trauma-Expertinnen]
       nach Darna. Die Stadt sei ein Symbol für die Herausforderungen in der
       gesamten Region, die im Allgemeinen unter Kriegen und schlechten
       Regierungen leidet, sagt sie. Und jetzt kommt mit [5][dem Klimawandel] eine
       weitere Schwierigkeit dazu.
       
       11 Sep 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Mirco Keilberth
       
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