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       # taz.de -- Demografischer Wandel: Kipppunkt der Demokratie
       
       > Bedroht der demografische Wandel die Demokratie? Klar ist, in
       > schrumpfenden ländlichen Regionen blicken die Menschen pessimistischer in
       > die Zukunft.
       
   IMG Bild: Dorfstraße in der Uckermark: Je ländlischer die Region, desto pessimistischer die Menschen
       
       Deutschland altert. Vor allem Ostdeutschland. [1][Die ältesten
       Bevölkerungen in Deutschland hat der Osten]. Bei den jüngsten Wahlen in
       Sachsen und Thüringen konnten AfD und BSW vor allem in der mittleren
       Generation, den 40- bis 60-Jährigen, zulegen, während die Generation 60plus
       überwiegend CDU wählte. Wo die Ampelparteien aus SPD, Grünen und FDP im
       ländlichen Raum kaum mehr vorkommen, teilen sich CDU, AfD und BSW diesen
       Raum unter sich auf. Kippt der Osten also demografisch und geografisch?
       
       Antworten finden sich im neuen Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung
       „Für starke und lebenswerte Regionen in Deutschland“. Basis des Berichts
       sind 42 Indikatoren zu Wirtschaft, Gesellschaft, Infrastruktur und
       Daseinsvorsorge sowie Klima und Umwelt. Im Osten dominieren ländliche
       Regionen mit strukturellen und demografischen Herausforderungen und
       wirtschaftlicher Dynamik.
       
       Im Süden und mittleren Westen dagegen dominieren Regionen mit guter
       wirtschaftlicher und sozialer Lage im Ballungsraum großer Städte. Die
       deutsche Wirtschaft ist geprägt von „hidden champions“, die überwiegend in
       ländlichen Regionen fernab der urbanen Zentren angesiedelt sind. Der
       deutsche Föderalismus mit seiner ausgeprägten regionalen Vielfalt wird zum
       Standortfaktor: Deutschland gehört im Vergleich zu allen anderen westlichen
       Industrieländern zur kleinen Gruppe von Ländern mit vergleichsweise starker
       Wirtschaftskraft, bei denen regionale Ungleichheiten relativ niedrig sind
       und in den letzten zehn Jahren kleiner geworden sind.
       
       ## Das BPI ist in ostdeutschen Städten teils höher
       
       Die gute Nachricht: Ländliche, dünn besiedelte Regionen haben in den
       letzten 10 Jahren vor allem beim Einkommen aufgeholt. Das BIP pro
       Beschäftigten ist hier im Schnitt um 28 Prozent im Vergleich zu anderen
       Kreistypen gestiegen, auch dank einer Zunahme an Beschäftigung. Die
       Arbeitslosenquote hat sich in dünn besiedelten Regionen besser entwickelt.
       [2][Das gilt besonders für die ländlichen Regionen in Ostdeutschland]. Dort
       ist das BIP-Wachstum stärker gestiegen als in Deutschland insgesamt. Das
       BIP in Städten wie Schwerin, Magdeburg, Leipzig, Erfurt, Potsdam und
       Dresden liegt höher als in vielen westdeutschen Städten wie Flensburg,
       Bremerhaven, Duisburg, Dortmund und Pforzheim.
       
       Für die Zukunft geht der Bericht von einer Bevölkerungszunahme auf 85,5
       Millionen Menschen bis 2045 durch Zuwanderung in Höhe von 9 Millionen
       Menschen aus. Deutschland kann so den demografischen Nettoverlust von 10
       Millionen Personen nahezu ausgleichen. Von diesem Trend profitieren nicht
       alle Städte und Gemeinden. 150 von 400 Kreisen müssen mit sinkenden
       Bevölkerungszahlen rechnen. Die medizinische und pflegerische Versorgung
       wird vor allem in diesen Kreisen zur zentralen Herausforderung. Kreise ohne
       städtische Umgebung haben im Schnitt die weitesten Wege zur nächsten
       Gesundheits- oder Pflegeeinrichtung. Fast die Hälfte der Befragten sieht
       eine Verschlechterung der Versorgung, nur 5 Prozent eine Verbesserung. Noch
       schlechter schneidet der Faktor Mobilität beziehungsweise der öffentliche
       Nahverkehr ab.
       
       Größere regionale Unterschiede ergeben sich wenig überraschend bei der
       Lebenszufriedenheit. Während zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger eher
       oder ganz und gar zufrieden sind, fällt die Lebenszufriedenheit in
       Ostdeutschland und in strukturschwachen Regionen geringer aus. Gefragt nach
       der Entwicklung ihrer Region in Zukunft, fällt das Bild insgesamt eindeutig
       aus: Nur jeder Dritte sieht der Zukunft eher mit Zuversicht entgegen, 60
       Prozent betrachten sie eher mit Sorge. Vor allem in demografisch
       schrumpfenden ländlichen Regionen blicken die Menschen pessimistisch in die
       Zukunft. Die Menschen dort halten ihr Zuhause für weniger lebenswert. Acht
       der zehn schwächsten Regionen liegen in Ostdeutschland.
       
       ## Männerüberschuss und Frauenmangel sind dramatisch
       
       Demografie schlägt Lebensqualität und Wohlstand und gefährdet die
       Demokratie. Männerüberschuss und Frauenmangel sind in Ostdeutschland mit
       bis zu 25 Prozent europaweit am höchsten. Eine Kultur der Abwanderung und
       des Unmuts gehen Hand in Hand. Politische Profiteure sind die
       konkurrierenden Parteien des Untergangs AfD und BSW. Die AfD mit weniger
       als 20 Prozent weiblichen Mitgliedern ist zur Partei der verunsicherten und
       reaktionären Männlichkeit geworden. In Bundesländern mit einer geringen
       parteipolitischen Bindung haben es Anti- und Nichtregierungsparteien
       leichter und aggregieren den wachsenden Unmut und Zukunftspessimismus.
       
       Neues Denken ist gefragt. [3][Steffen Mau, Soziologe aus Rostock, sieht den
       Osten nicht als Nachzügler], sondern als Vorreiter einer Entwicklung und
       plädiert in seinem neuen Essay „Ungleich vereint. Warum der Osten anders
       bleibt“ für ein radikales Neudenken in Richtung „Modelle der politischen
       Erneuerung“. Als Ergänzung zur real existierenden parlamentarischen
       Demokratie schlägt er Bürgerräte und eine „dritte Kammer“ aus Bundestag,
       Bundesrat und zufällig ausgelosten Bürgern vor, die Entscheidungen zu
       grundsätzlichen und über eine Legislaturperiode hinausreichende Fragen
       erarbeiten (Energieversorgung, soziales Pflichtjahr und
       Klimatransformation). Sie werden nicht reichen.
       
       ## Keine Region, keine Kommune im Stich lassen
       
       Es geht um einen neuen Aufbauplan, wenn Wohlstand und Demokratie nicht
       unter Dauerdruck geraten sollen. Beides verteidigen und zu sichern können
       Bund, Länder und Kommunen nur gemeinsam. Die Instrumente gibt es. Statt um
       Deindustrialisierung geht es um Dekarbonisierung, Digitalisierung und
       Demokratie. Eine kluge und kreative Regionalpolitik, angefangen von guten
       Kitas und Schulen über Straßen und (digitaler) Infrastruktur bis hin zu
       Klima und Kultur, liegt im Interesse aller Akteure. Die Botschaft muss
       lauten: „Wir kümmern uns und lassen keine noch so kleine Region, keine noch
       so kleine Kommune im Stich.“ Deutschland muss wieder mehr Fantasie und
       Experimente wagen!
       
       13 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Dettling
       
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