URI: 
       # taz.de -- Retrospektive zu Rirkrit Tiravanija: Mokka im Café Deutschland
       
       > Rirkrit Tiravanija ist bekannt für seine humorvolle, interaktive Kunst.
       > Warum wirkt seine Ausstellung im Berliner Gropius Bau heute weniger
       > fröhlich?
       
   IMG Bild: Rirkrit Tiravanija, „untitled 1995 (bon voyage monsieur ackermann)“, aus einer Performance mit Franz Ackermann, 1995
       
       Diese große Schau von Rirkrit Tiravanija in Berlin macht irgendwie
       schwermütig. Das mag überraschen bei einem Gegenwartskünstler, der in
       seinen Ausstellungen zum Pingpong lädt, zum T-Shirt-Drucken, Mokkakochen
       oder Abhängen auf Bambusmatten. Der mit seinen spielerischen Installationen
       immer auch eine soziale Begegnung hervorruft.
       
       Sie „aktiviert“, würde vielleicht der französische Kurator und
       Kunstkritiker Nicolas Bourriaud sagen. Der zählte Tiravanija in den späten
       1990er Jahren zu einer Gruppe Künstler:innen, die das Publikum aktiv
       teilhaben lassen wollte an der Kunst.
       
       Carsten Höller installierte eine Röhrenrutsche in der Galerie, Christine
       Hill veranstaltete Aerobic-Kurse und Tiravanija ließ im Kölner Kunstverein
       sein New Yorker Apartment eins zu eins nachbauen, darin wurde gefeiert,
       geschlafen, geheiratet. Fotos aus dieser fröhlichen, Security-freien Zeit
       liegen jetzt im Gropius Bau aus.
       
       Das war alles spaßig, auf den ersten Blick nicht sehr politisch. Aber diese
       Kunst – von Bourriaud als „relationale Ästhetik“ bezeichnet – spiegelte
       auch eine Zeit des gesellschaftlichen Zusammenkommens. Der Eiserne Vorhang
       war gefallen, in Europa war die Reisefreiheit eingeführt worden und
       Deutschland begriff sich endlich als Einwanderungsland. In der Politik
       hatten sich Grenzen gelöst, und ebenso war es in der Kunst.
       
       Jetzt, während Tiravanijas Retrospektive als Teil der Berlin Art Week
       eröffnet und der thailändische Künstler im Gropius Bau den türkischen Mokka
       in seiner Installation „Café Deutschland“ von 1993 wieder aufsetzen lässt,
       werden nur ein paar Meter weiter im Bundestag in einer nach rechts
       gerückten Asyldebatte erneut Grenzen gesetzt, die man doch schon als
       überwunden glaubte.
       
       Die feindselige Stimmung in der Politik dringt auch zu Tiravanijas
       humorvoller, gemeinschaftlich gesinnter Kunst durch, mit der Jenny
       Schlenzka, die neue Direktorin des Gropius Baus in ihr zukünftiges Programm
       einführt. Der Künstler hat sich mit Deutschland und den Lebensrealitäten
       und Alltagserfahrungen migrantischer Menschen immer wieder
       auseinandergesetzt.
       
       1961 in Argentinien geboren, in vielen Ländern aufgewachsen und seit
       Jahrzehnten zwischen Berlin, New York und Chiang Mai hin und her reisend,
       mischte Tiravanija einst mit seinen [1][„food pieces“ den Kunstbetrieb
       auf]. Legendär ist, wie er 1992 in der New Yorker Gallery 303 eine Küche
       installierte und kostenlos Thai-Curry servierte. Er paarte Happening mit
       Institutionskritik, sinnlich, durch den Gaumen, ließ er Bekanntes auf
       Unbekanntes stoßen.
       
       ## Schwäbische Flädlesuppe mit thailändischem Twist
       
       Die Migration von Aromen, sie spricht bei ihm von einer Migration von
       Menschen und Kulturen. Im Berliner Gropius Bau köchelt nun ein Curry in
       einem grauen Tontopf vor sich hin, sein Duft durchzieht die Säle. „In
       Chicago sah ich im Chicago Art Institut alte Buddhas, Schüsseln und
       Tongefäße. Was liegt näher, als den Topf aus der Museumsvitrine zu holen
       und darin zu kochen?“, sagte Tiravanija kürzlich im Tagesspiegel zu den
       Anfängen seiner Kochperformances.
       
       Und man merkt: Schon lang vor der Restitutionsdebatte in den späten 1980er
       Jahren wandte er sich gegen eine Musealisierung ethnologischer Kulturgüter
       in westlichen Sammlungsinstitutionen – freilich mit Witz. „We demand the
       return of our cultural artefacts in the museum“ beginnt die Retrospektive
       im Gropius Bau mit sehr kleiner Schrift auf einer sehr großen Wand,
       „otherwise we will blow it up.“
       
       Essen kann man das duftende Curry nicht. Aber ein paar Meter weiter soll
       jetzt regelmäßig eine schwäbische Flädlesuppe serviert werden, mit
       thailändischem Twist. Und im Lichthof sollen auf seiner „demo station“,
       einer hölzernen Arena, Lesungen, Sprechstunden oder DJ-Sets stattfinden.
       Und man fragt sich: Geht das denn überhaupt noch seit der documenta
       fifteen, seit [2][den aggressiven Demonstrationen infolge des 7. Oktober,]
       seit partizipative Kunst auch ein Kollektiv beschwören kann, das nach außen
       mit Feindbildern agiert?
       
       Doch Tiravanija entweicht zu sehr den klaren Bildern, als dass sich seine
       gemeinschaftlichen Installationen für Einseitigkeiten vereinnahmen ließen.
       „Das Glück ist nicht immer lustig“, nennt er seine Schau. Es ist ein Zitat
       aus Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“.
       
       Der Film über eine unmögliche Liebe zwischen einer sechzigjährigen
       deutschen Putzfrau und einem weitaus jüngeren, marokkanischen Gastarbeiter
       flimmert auch auf einem kleinen Bildschirm hinter einer Bar, die Tiravanija
       aus einer Filmszene nachbauen ließ, die Museumsmitarbeiter:innen
       hatten hier wohl mal einen geselligen Moment.
       
       Jetzt stehen da noch die leeren Schultheiss-Flaschen rum wie auf einer
       verlassenen Theaterbühne, während das eigentliche Drama, von Fassbinder
       vor 50 Jahren gedreht, aber immer noch aktuell, über Liebe, Feindseligkeit
       und Angst vom Bildschirm spult. Innen- und Außenperspektive vermischen
       sich. Das ist ein Blick auf die Gesellschaft, den man sich auch außerhalb
       der Museumsmauern wünscht.
       
       „Das Glück ist nicht immer lustig“: Rirkrit Tiravanija, Gropius Bau Berlin,
       bis 12. Januar
       
       12 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kochen-als-Kunstperformance/!5944692
   DIR [2] /Palaestina-Protest-bei-Kunstaktion/!5991553
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophie Jung
       
       ## TAGS
       
   DIR Kunstszene
   DIR Martin-Gropius-Bau
   DIR Performance
   DIR Kochen
   DIR Migration
   DIR Museum
   DIR US-Wahl 2024
   DIR Kunst
   DIR zeitgenössische Kunst
   DIR Kunstverein Hamburg 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Neues Museum für Migration in Rotterdam: Woher die Menschen kommen, wohin sie aufbrechen
       
       Das Museum Fenix in Rotterdam ist innerlich wie äußerlich dem Thema
       Migration gewidmet. Der Bau kommt von einem chinesischen Architekturbüro.
       
   DIR Casey Spooner for President: Die Alternative
       
       Hätte eine queere Person Chancen, US-Präsident zu werden? Beim
       Kunstfestival „Hallen 05“ wiederholt Casey Spooner seine Bewerbung aus dem
       Jahr 2020.
       
   DIR Kochen als Kunstperformance: Wenn ich eine Banane wäre
       
       In Kunstausstellungen geht es derzeit viel um Essen und Kochen. Nahrung
       erzählt davon, wie Menschen, Dinge und Geschmäcker an einen Tisch gelangen.
       
   DIR Besuch auf der Art Basel in Hongkong: Von radioaktiven Sonnenuntergängen
       
       Samson Youngs Soundscapes, wenig aussagekräftige Zahlen zum Kunstmarkt und
       radioaktives Material vom Bikini-Atoll: die Art Basel Hongkong.
       
   DIR Hamburgs Kunstverein wird 200: Die Kunst des Jubiläums
       
       Hamburgs Kunstverein feiert sein 200-jähriges Bestehen mit einer Schau, für
       die er heutige Künstler beauftragt hat, sich mit seiner Geschichte zu
       befassen.