URI: 
       # taz.de -- Interviewband über Musik und Karriere: Der ganz normale Wahnsinn
       
       > Ein Interviewband befragt Indie-Musiker:innen nach ihrer Idee von
       > Lohnarbeit. Die Gespräche sind vertraut, aber plätschern teils vor sich
       > hin.
       
   IMG Bild: Je weniger Bohei um die Kunst, desto besser: Berliner Musikerin Albertine Sarges
       
       Gewohnheitsmäßige Abläufe, die uns zivilisieren – routiniert sind die
       bürgerlichen Abhandlungen, die wir als Alltag definieren, gleichgestellt
       mit Tugenden wie Reinlichkeit und Pünktlichkeit. Weicht jemand davon ab,
       wird diese(r) entweder als Bohème, faul oder unverantwortlich gescholten.
       Inzwischen manchmal auch: als freigeistig und kreativ.
       
       Das Künster*innendasein ist prädestiniert für eine Aneinanderreihung
       von Vorurteilen, seien sie noch so negativ oder positiv. Allen voran die
       Beschäftigung jenseits der Bühne, den Mühen der Ebene. Aber passt solch ein
       unspektakulärer Alltag überhaupt zur Künstlerexistenz? Ab wann ist
       Musikmachen kein Hobby mehr, sondern Beruf(ung)?
       
       Dass es zwischen dem einen und dem anderen Extrem (Frei-)Räume gibt, zeigt
       der Interviewband „Kommst du mit in den Alltag?“, den der Kulturhistoriker
       Andre Jegodka beim Mainzer Ventil Verlag herausgegeben hat. Der vor allem
       als Konzertveranstalter Tätige arbeitet seit vielen Jahren für die
       Musikindustrie und untersucht anhand von 15 Interviews „Mythen und
       Koordinaten, zwischen denen sich der Popkosmos aufspannt“.
       
       Zwischen Sommer 2022 und Winter 2023 ist Jegodka mit Martin Schüler,
       Albertine Sarges und Theresa Graf unterwegs gewesen, um mit diesen drei
       Musiker*innen im deutschsprachigen Raum Routinen in einer Art
       Feldforschung zu untersuchen.
       
       ## „Verdorbenes Unwort“
       
       Alle Interviews sind in die Kategorien Karriere, Alter, Geld, Arbeit und
       Umfeld unterteilt und Kulturjournalist Schüler führt zu Beginn mit dem
       „verdorbenen Unwort Karriere“ ein, dessen Definition sich wie klebriger
       Kuchenteig durch das gesamte Buch zieht. Unabhängig von der Einteilung
       verlaufen die Themen fließend ineinander, es geht weniger um den gelebten
       Alltag, sondern mehr darum, wie sich die interviewte Person als
       Künstler:In identifiziert, ob sie die Bezeichnung Musiker*in eher
       idealistisch für sich beansprucht und wie sie das umsetzt.
       
       Im kontroversen Gespräch etwa offenbart Katharina Kollmann, – die unter dem
       Alias Nichtseattle bekannt ist –, dass sie nie von der Musik leben wollte.
       Ihr sei die Kunst zu wichtig, als dass sie diese Tätigkeit als Karriere
       betrachten will. Damit setzt Kollmann die Kernaussage des Bandes um, ihren
       hehren Anspruch teilen fast alle der Porträtierten.
       
       Während sich viele einig sind, dass der Begriff Karriere mit Kunst und
       Musik wenig gemein hat, entweder weil damit normative Implikationen
       einhergehen (Jonas Poppe), oder traditionell mit einer
       60-Stunden-Büroarbeit verknüpft werden (Viktoria Kirner), gehen einige auch
       sogenannten Brot-und-Butter-Jobs nach, damit sie von der Kunst finanziell
       unabhängig bleiben.
       
       ## Zwischen Supermarktkasse und Babysitten
       
       Manche, wie Kollmann, sind akademisch beschäftigt, andere schreiben Texte
       für Steinehandel, wie Jana Sotzko. Während Christin Nichols viele
       „Scheißjobs“ – Supermarktkasse, Post ausfahren und Babysitten – gemacht
       habe, konnotiert Fiona Lehmann Lohnarbeit als etwas Negatives, da mit
       Anstrengung verbundenes Tun. Und: Dass sie dennoch eine Nebentätigkeit
       vorziehe, weil das weniger unangenehm sei, als umständliche Förderanträge
       auszufüllen.
       
       Dabei werden Fördermöglichkeiten immer wieder hervorgehoben, wie durch
       Poppe, sie ermöglichen es Musiker*innen aus dem Prekariat
       herauszukommen und vielleicht auf Zuerwerb verzichten zu können. Die Frage,
       die dem Buch den Titel spendiert, stammt von einem Song, der [1][durch die
       Band Blumfeld] bekannt wurde und sie wird leider oft zum Schluss gestellt.
       
       Die Dialoge kreisen stellenweise zu eng um die Laufbahn, die je nach
       Künstler*in bis in die 1980er Jahre zurückreicht. Denn gerade die
       Alltagsfrage, beziehungsweise die Frage nach dessen Bewältigung offenbart
       die Interviewten als ausgesprochen ehrlich – und frei von der Angst vor
       Selbstwirkung.
       
       ## Realitätsfern und elitär
       
       Manchmal erscheinen sie realitätsfern und trotz aller prekären Verhältnisse
       elitär, manchmal sind sie nahbar und – Achtung – normal. Wenn
       beispielsweise Paul Pötsch davon erzählt, wie er während der
       Social-Media-Nutzung in einem Vergleichsmodus gerät, oder Bernadette Hengst
       den Zeitaufwand einer Mutterschaft an ihrer Biografie verdeutlicht.
       
       Die Interviewten begleiten Jegodka seit seiner Jugend und sind Teil seines
       popkulturellen Umfelds. Das merkt man. Die Gespräche haben etwas Vertrautes
       und Freundschaftliches, die Biografien ähneln sich allerdings doch zu sehr
       und es plätschert teils zu wohlwollend vor sich hin.
       
       Es hätte dem Buch gut getan, fremde Musiker*innen hinzuzuziehen, aus
       anderen Kulturen und Lebenswelten. [2][Oder, um es mit der trockenen und
       geistreichen Schnoddrigkeit von Christiane Rösinger auszudrücken]: Toll,
       „aus dieser Blase rauszukommen, mit anderen Menschen zu tun zu haben“ und
       gewöhnliche Leute „mit normalen Problemen“ zu treffen.
       
       30 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neues-Soloalbum-von-Jochen-Distelmeyer/!5863110
   DIR [2] /USA-Reisebericht-von-Stefanie-Sargnagel/!5984902
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Du Pham
       
       ## TAGS
       
   DIR Indierock
   DIR Interview
   DIR wochentaz
   DIR Großbritannien
   DIR Dramatiker
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Album „Girl Missing“ von Albertine Sarge: Sie ist eine Boje
       
       Albertine Sarges hat in ihrer Kreuzberger Jugend viel hippieske Musik
       gehört und legt nun das Album „Girl Missing“ über Freundschaften vor.
       
   DIR Autobiografie von Sänger Wreckless Eric: Den eigenen Misserfolg verwalten
       
       Der Londoner Pubrocker Wreckless Eric hat eine düstere autobiografische
       Gebrauchsanweisung geschrieben: „A Dysfunctional Success“ ist starker
       Tobak.
       
   DIR Neuer Laden des Ventil-Verlags in Berlin: Tür in die Geschichte
       
       Kulturgeschichten Osteuropas, Pop-Theorie und vegane Kochbücher gehören zum
       Programm des Ventil Verlags. In Berlin-Pankow hat er einen neuen Laden.
       
   DIR Zum 50. Geburtstag von Martin Büsser: Feine Sahne Selbstironie
       
       Der Musikjournalist Martin Büsser hätte an diesem Tag seinen 50. Geburtstag
       gefeiert. Ein Reader erinnert an das Werk des 2010 verstorbenen Mainzers.