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       # taz.de -- Schlesisches Museum in Görlitz: Schlesisch harmonisch
       
       > Das Museum am östlichsten Zipfel Deutschlands widmet sich dem kulturellen
       > Erbe Schlesiens – aber nicht revanchistisch, sondern verbindend.
       
   IMG Bild: Heimat einer verlorenen Heimat: Der Schönhof in Görlitz beherbergt seit 2006 das Schlesische Museum
       
       Görlitz taz | Am Museum weht keine Fahne der Region, deren Namen das alte
       Haus trägt: Schlesisches Museum zu Görlitz (SMG). Manche mögen solcherlei
       Beflaggung erwarten, doch damit kann und will dieses Haus nicht aufwarten:
       keine Folklore, keine Nostalgie, keine Heimattümelei. „Wenn ich erzähle, wo
       ich arbeite“, sagt der Museumspädagoge Matthias Voigt, „verdrehen manche
       erst mal die Augen.“ Dann sagt Voigt stets schnell: „Ich weiß, was Sie
       jetzt denken!“ Dass er in einer Art schlesischer Heimatstube oder einem
       Andenkenladen des Bunds der Vertriebenen arbeiten könnte – unzeitgemäß,
       rückwärtsgewandt, revanchistisch? Falsch gedacht.
       
       „Es geht bei uns nicht automatisch um die Opferrolle der Schlesier“, sagt
       Voigt. „Es geht um die Geschichte, aber auch um die Gegenwart Schlesiens
       als europäische Kulturlandschaft.“ Gerade in Polen habe mit der jüngeren
       Generation ein Wandel stattgefunden, sie wolle die schlesische Geschichte
       aus ihrer Perspektive erkunden und erzählen.
       
       Das ist eine erstaunliche Erkenntnis dieser Reise: Dass das Interesse auf
       deutscher Seite erlahmt sei, während es in Polen stetig wachse, berichten
       alle. „Dass die Zahlen aus Deutschland nachlassen, liegt auch daran, dass
       der emotionale Bezug zu Schlesien in den Familien schwindet“, erklärt
       Voigt. „Die Enkel- oder Urenkelgeneration hat mittlerweile andere
       Identifikationsgrößen als Schlesien als Heimat der Vorfahren.“
       
       Das Schlesische Museum, wo Voigt seit sechs Jahren arbeitet, ist eine
       Einrichtung mit wissenschaftlichem Auftrag, die eng mit polnischen und
       tschechischen Institutionen kooperiert, die Geschichte der Region
       aufarbeitet und sie in einen europäischen Zusammenhang einbettet. Denn
       Schlesien, das nie ein Staat, sondern eine Provinz, eine Region mit
       wechselnden politischen, konfessionellen und ethnischen Zugehörigkeiten
       war, wies früh slawische und germanische Einflüsse auf, war mal bei der
       böhmischen, dann bei der österreichisch-ungarischen Krone angedockt, bevor
       es 1741 von Preußen erobert wurde.
       
       Bei seiner Gründung 2006 wurde das Schlesische Museum zu Görlitz von
       polnischer Seite zunächst misstrauisch beäugt, sagen die heutigen
       Macher*innen. Seit wann wollen [1][die schuldbeladenen Deutschen polnische
       Geschichte] und Gegenwart erklären? Heute ist seine Lage ein Vorteil, ist
       es doch vom Schlesischen Museum mit seinem Standort in der Altstadt, unweit
       der Neiße, nur ein kleiner Spaziergang ins heutige polnische Schlesien.
       
       Lange Jahre war die Oder-Neiße-Linie in westdeutschen Schulatlanten nur als
       vorläufige Grenze in gestrichelter Linie zu erkennen – erst im November
       1990 wurde sie nach der Wiedervereinigung Deutschlands im
       deutsch-polnischen Grenzvertrag völkerrechtlich anerkannt. 45 Jahre nach
       Ende des Zweiten Weltkriegs, der mit dem militärischen und moralischen
       Zusammenbruch des NS-Regimes und dem Vorrücken der Roten Armee die
       Vertreibung der überwiegend deutschen Bevölkerung Schlesiens zur Folge
       hatte.
       
       Dass das Schlesische Museum heute auf deutscher Seite existiert und
       grenzübergreifend kooperiert, ist der politischen Entwicklung und
       kulturellen Verständigung der vergangenen 30 Jahre zu verdanken. Und
       Sachsen, das am 1. September einen neuen Landtag wählte, zeigt sich hier
       von seiner weltoffenen Seite.
       
       Die Stadt Görlitz gehörte bis 1945 zu Schlesien und dessen Folklore ist
       heute ein Vermarktungspotenzial der nicht ganz 60.000 Einwohner*innen
       zählenden Stadt, die sich als östlichste Stadt Deutschlands bezeichnet. Zu
       DDR-Zeiten waren die Themen Vertreibung und Schlesien mit der Blockbildung
       in Ost und West politisch tabu. Wer Görlitz nicht kennt, der oder dem ist
       die Stadt mit ihrer reichen Architektur aus Renaissance-, Barock- und
       Gründerzeitbauten vielleicht aus dem Film „Grand Budapest Hotel“ von Wes
       Anderson bekannt. Heute steht das ehemalige Kaufhaus mit der Aufschrift
       „Drehort Kaufhaus“ leer und träumt den Traum der Filmstadt. Auch die
       Bewerbung zum UN-Weltkulturerbe ist gescheitert.
       
       Auf den engen Straßen der Görlitzer Innenstadt ist viel Polnisch und
       Deutsch zu hören, kaum Englisch. Auf dem Obermarkt harrt ein weißes
       Riesenrad seiner Entfesselung beim Altstadtfest. Am Abend sitzen
       Einheimische wie Tourist*innen in den Lokalen längs der Neiße – und
       essen Pizza oder Piroggen. Wer auf der polnischen Seite essen geht, hat die
       erleuchtete Altstadtkulisse von Görlitz mit ihren Türmen und Kirchen im
       Blick; wer von Deutschland aus hinüberschaut, sieht eine kleine schmucke
       Häuserzeile im historischen Stil, Zigarettenwerbung, auch wenn Zigaretten
       in Polen längst nicht mehr billiger sind, und im Hintergrund eine
       Hochhaussiedlung, die das Manhattan von Zgorzelec genannt wird, so heißt
       der polnische Zwilling von Görlitz. Die deutsche Polizei parkt mit einem
       Wagen an der Brücke, die diensthabenden Beamten stehen an der polnischen
       Imbissbude an.
       
       In heller Hose und blauem T-Shirt, das ein Fahrradsignet zeigt, steht
       Matthias Voigt, 54, wartend vor dem Museum. Der gebürtige Sachse lebt seit
       30 Jahren in Görlitz, hat in Bonn und Görlitz studiert: Sozialpädagogik,
       später Kulturhistorische Studien. Beides kommt dem Leiter der
       Museumsbildung zugute. Er führt im Schnelldurchgang durch die Ständige
       Ausstellung des Museums, das in einem ehemaligen Gasthof aus dem 16.
       Jahrhundert untergebracht ist.
       
       Der Schönhof selbst ist damit viel älter als die preußische Provinz
       Schlesien. Von Raum zu Raum der insgesamt 17 Ausstellungsräume werden die
       behutsam freigelegten Original-Holzdecken mit ihren verblassten Farben und
       dekorativen Ornamenten immer schöner. „Oh ja, die stehlen uns öfter die
       Schau“, scherzt Voigt, wenn die Besucher*innen zunächst staunend in die
       Höhe und dann erst in die lichtgeschützten Vitrinen mit ihren
       Ausstellungsobjekten schauen.
       
       Nur eine Handvoll Besucher*innen sind dort an einem Wochentag unterwegs.
       Die Dauerausstellung ist thematisch wie chronologisch gegliedert. An die
       30.000 Eintritte wurden vor Corona pro Jahr gezählt, man nähert sich dieser
       Zahl wieder an. Geschätzte sieben Prozent kommen mittlerweile aus Polen.
       Voigts Lieblingsraum ist die untere Diele: „Ereignisse und Figuren“. Ein
       ausdrucksstarker Frauenkopf aus Gips erzählt dort die Biografie einer
       einfachen Frau aus dem Riesengebirge der 1930er Jahre.
       
       Es liegen gestickte Borten für Wäscheschränke aus, die den „Stolz der
       deutschen Frau“ ansprechen. Sie zeugen von traditioneller Rollenverteilung
       in schlesischen Haushalten: „Hier kann ich mit Schulklassen an das
       Frauenbild damals und heute anknüpfen“, klingt bei Voigt der
       Museumspädagoge durch. An anderer Stelle erlaubt eine Karte mit
       Touchscreen, sieben schlesische Hauptmundarten an Wortbeispielen
       durchzuhören. Es gibt deutsches und polnisches Schlesisch, aber auch
       Wasserpolnisch, das wiederum durch die Flößer der Oder deutsche
       Sprachanteile ins Polnische trug und damit die polnische Sprache
       „verwässerte“.
       
       Hat der Museumspädagoge schon rechte Pöbeleien erlebt? Nur an „eine
       politische Entgleisung“ kann er sich erinnern, die kam vor Jahren von einem
       älteren Mann. „Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird“, sagt Voigt
       hinsichtlich der anstehenden Landtagswahlen. Er habe angemeldet, im Herbst
       ein Seminar zu belegen, wie man als Vermittler in Museen oder Gedenkstätten
       rechte Tendenzen erkennen und ihnen begegnen kann.
       
       Bei der Bundestagswahl 2021 erzielte die AfD im Wahlkreis Görlitz 32,5
       Prozent der Stimmen. Schon bei der Kommunalwahl 2019 ließ sich nur durch
       den [2][Verzicht der zweitplatzierten Grünen-Kandidatin Franziska Schubert
       zugunsten des CDU-Mannes Octavian Ursu] der AfD-Kandidat als
       Oberbürgermeister verhindern.
       
       Die beiden letzten Räume des Museums sind Schlesien im Nationalsozialismus
       und Zweiten Weltkrieg gewidmet, dem Ende und dem Neubeginn. Die flachen
       Vitrinen seien bewusst niedrig gestaltet, erklärt Voigt, damit man sich in
       eher gebückter Haltung dieser Geschichte von Gewalt, Tod und Vernichtung
       nähere. In einer Vitrine hängen bei der Flucht zurückgelassene Schlüssel.
       Einfach aber sehr berührend. Für das kommende Jahr plant das Haus eine
       große Ausstellung zu Schlesien ab 1945.
       
       Auf einem Tablet lässt sich das Thema bereits jetzt im Atrium erkunden, auf
       Deutsch und Polnisch, so wie alle Erklärungstafeln und Audios zweisprachig
       sind. Einen Tag nach dem Rundgang nehmen auf den weißen Bänken im
       überglasten Innenhof Agnieszka Gąsior und Agnieszka Bormann Platz. Die
       Kunsthistorikerin Gąsior leitet seit drei Jahren das Museum, die
       Kulturmanagerin Bormann seit 2018 das Kulturreferat für Schlesien. Denn das
       Schlesische Museum hat einen besonderen Auftrag: „die Förderung der Pflege
       und Erhaltung von Kulturwerten aus der schlesischen Geschichte“, so ist es
       in § 96 des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes von 1953
       festgeschrieben und 2002 durch die Einrichtung der Kulturreferate neu
       konzipiert worden.
       
       Spielt das heute noch eine Rolle? Wie pflegt man etwas, das es nicht mehr
       gibt, ohne dass es leeres Brauchtum wird?
       
       „In Ihrer Frage stecken die ganzen Imageprobleme, die das Thema Schlesien
       in Deutschland hat“, sagt Gąsior. „In Deutschland wird auf Schlesien meist
       aus der Perspektive des Verlustes geblickt.“ Das sei eine mögliche
       Perspektive, für viele Deutsche dominierend. Dabei werde aber übersehen,
       dass Schlesien eine Region mit unglaublich bewegter Geschichte und
       reichhaltiger Kultur sei, die tausend Jahre zurückreiche und bis heute
       fortbestehe. „Die Deutschen hatten immer starken Anteil daran. Aber sie
       waren nicht die einzigen, die diesen Landstrich geprägt haben. Wir
       versuchen, die verschiedenen Einflüsse im breiteren Kontext zu zeigen – und
       zwar multiperspektivisch.“
       
       Gąsior spricht vom „mental mapping“, das, je nachdem, wo jemand herkommt,
       ein ganz anderes Schlesien kennt oder meint. „So richten die Deutschen den
       Blick vor allem auf Niederschlesien, während für Polen mit dem Begriff
       Schlesien in der Regel Oberschlesien konnotiert ist.“ Gąsior ist wie ihre
       Kollegin Bormann in Polen aufgewachsen, beide sind perfekt zweisprachig.
       Oft sei der Blick auf Schlesien durch die historischen Erfahrungen
       verstellt, mal getrübt, mal verklärt. Zwar verdankt das Museum – wie auch
       die Museen der anderen Landsmannschaften – den Vertriebenenverbänden seine
       Entstehung, aber „der Auftrag des Museums“, sagt Gąsior, „war von
       vornherein dem europäischen Gedanken verpflichtet: die deutsche Geschichte
       zu zeigen, den nachfolgenden Generationen erfahrbar zu machen, gleichzeitig
       aber auch den Dialog mit den Nachbarn zu fördern.“
       
       Üben die schrumpfenden Vertriebenenverbände heute noch Druck aus, so wie in
       der alten BRD, als die Landsmannschaften ihre verlorene Heimat lautstark
       reklamierten und ein Recht auf Heimat, Heimkehr und gar Rückgabe forderten?
       Die Direktorin sagt diplomatisch, das Verhältnis sei heute konstruktiv und
       sei sicher in den Anfangsjahren „spannungsreicher“ gewesen. Die
       Landsmannschaft Schlesien ist im Stiftungsrat vertreten, der über die
       Programmatik und Projekte des Museums entscheidet, ist aber kein Geldgeber.
       
       Ein wissenschaftlicher Beirat berät bei der inhaltlichen Ausrichtung. Die
       Stadt Görlitz stellt die Immobilie als Sitz des Museums.
       
       Hat Agnieszka Gąsior Befürchtungen hinsichtlich ihrer Arbeit, je nach
       Ausgang der Landtagswahlen in Sachsen? „Die Stimmung in Sachsen beobachte
       ich mit Sorge“, sagt die 52-Jährige, die 20 Jahre im Leibniz-Institut für
       Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig arbeitete.
       „Was dies für das Museum bedeuten könnte, ist schwer zu sagen. Wir werden
       paritätisch vom Bund und Land finanziert und insofern könnten wir durch
       bestimmte politische Entscheidungen auch betroffen sein.“ Inhaltliche
       Auswirkungen auf ihre Arbeit befürchtet sie bisher nicht. „Wir sehen es als
       unsere Aufgabe, die Demokratie aktiv mitzugestalten“, bekräftigt sie. „Zur
       gesellschaftlichen Stimmung tragen wir am stärksten durch unsere Arbeit
       bei, indem wir Vermittlungsarbeit leisten oder Themen wie Krieg und seine
       Folgen aufgreifen, das Ankommen und Weggehen, den Beitrag der Migrierenden,
       wie wir das für unsere Ausstellung ‚(Um)Brüche 1945‘ im nächsten Jahr
       planen.“
       
       Die jüngste Geschichte Schlesiens ist eine Geschichte der doppelten
       Vertreibung. Die meisten Deutschen verließen Schlesien jenseits der Oder
       und Neiße spätestens im eisigen Winter 1945, sehr viele Menschen starben
       durch Bomben, erfroren oder verhungerten. Das Potsdamer Abkommen von 1945
       legte fest, dass die in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen verbliebenen
       Deutschen zwangsausgesiedelt werden sollten. Es kam zu einem gigantischen
       „Bevölkerungsaustausch“, wie die Fachleute es nennen, da aus Ostpolen, das
       bei den Verhandlungen der Alliierten der Sowjetunion zugeschlagen wurde,
       die dort Vertriebenen ins westpolnische, entvölkerte Schlesien zogen. Klar,
       dass sie mit dem Schlesiertum gefremdelt haben – mit dem deutschen
       insbesondere. Die Spuren wurden von den neuen sozialistischen Machthabern
       stillschweigend getilgt, übertüncht.
       
       Die polnische Autorin Karolina Kuszyk beschreibt in ihrem Buch „In den
       Häusern der anderen“ anhand von Objekten den schwierigen Umgang mit den
       Hinterlassenschaften der Deutschen. Das ist vorbei, die dritte und vierte
       Generation der Zugezogenen im polnischen Schlesien entwickelt eine neue
       regionale Identität und begibt sich auf Spurensuche – egal, ob sie in
       tschechische, polnische oder deutsche Geschichte führt.
       
       Kuszyks Buch findet man auch ein paar Meter weiter vom Museum in der
       „Schlesischen Schatztruhe“, die in erster Linie ein Souvenirladen ist und
       Bunzlauer Keramik in großem Umfang anbietet, aber auch Wanderkarten und
       Schlesienfanartikel. Über dem Eingang weht die Schlesienfahne, in der
       Auslage wird für Reisen nach Polen und das Schlesische Oktoberfest
       geworben. Leider weilt Geschäftsführer Alfred Theisen an diesem Tag nicht
       in Görlitz, er betreut gerade eine Reisegruppe in Polen. Es folgt eine
       Verabredung per Mail zum Telefonieren.
       
       Theisen spricht mit rheinischem Singsang, den er auch nach 30 Jahren in
       Görlitz nicht verloren hat. Wie kommt jemand aus dem Rheinland, „ohne
       familiäre Wurzeln in Schlesien“, wie er am Telefon erklärt, zu diesem
       Geschäft? Er habe sich schon früh für Osteuropa interessiert, erzählt er,
       besonders die polnische Widerstandsbewegung Solidarność faszinierte ihn in
       den 1980er Jahren. Theisen war als junger Mensch selbst aktiv in den
       Vertriebenenverbänden der alten BRD und ist froh, dass in deren Reihen die
       „radikalen Narren“ und „profilierungssüchtigen Funktionäre“ weniger werden.
       
       1994 zog er nach Görlitz und ergriff die Chance, einen Verlag zu gründen,
       der mit Publikationen und seiner Zeitschrift Schlesien heute den Osten
       Europas in den Blick nimmt. „Bei den meisten Westdeutschen war schon bei
       Dresden Schluss mit Osten“, sagt er. Theisen organisierte Reisen nach
       Belarus, in die Ukraine, Bukowina, nach Galizien, Moldau – das alles ist
       seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vorbei. Das Geschäft sei
       eingebrochen – was bleibt, seien die Polenreisen, für die sich immer
       weniger Deutsche interessierten. Die Heimwehtouristen, die es nach dem Fall
       des Eisernen Vorhangs in Scharen in ihre alte Heimat zog, die dort
       „phantastische“ Städtepartnerschaften initiierten oder als Investoren alte
       Höfe oder Betriebe sanierten, wie Theisen schwärmt, sie sterben weg. Um so
       mehr sieht er es als „Aufgabe an, über Polen zu informieren“. Ein
       ehemaliger Vertriebenenaktivist als Brückenbauer.
       
       Mit dem Schlesischen Museum sieht Theisen ein friedliches Nebeneinander.
       Bunzlauer Keramik oder böhmisches Glas findet sich dort in den
       Museumsvitrinen, die Touristen werden eher ins Souvenirgeschäft abbiegen,
       ohne zu wissen, was Bunzlau mit Schlesien zu tun hat. Die Kulturreferentin
       Agnieszka Bormann arbeitet daran, die Inhalte des Museums und alles, was
       mit Schlesien früher und Schlesien heute zu tun hat, „in die Breite und in
       die Fläche“ zu tragen.
       
       Das Kulturreferat Schlesien ist eines der acht vom Bund getragenen
       Kulturreferate, die die Geschichte der ehemals deutschen Siedlungsgebiete
       in Ost- und Mitteleuropa vermitteln helfen. Es hat den anderen eines
       voraus: die Nähe zu der Region, die thematisch behandelt wird. Das
       Landesmuseum Ostpreußen liegt in Lüneburg. Ursprünglich sollte das
       Schlesische Museum in Niedersachsen entstehen, da verschiedene Bundesländer
       der alten BRD Patenschaften für einzelne Landsmannschaften übernommen
       hatten.
       
       Bormann verabschiedet sich. Sie wird eine Gruppe an die Orte in der
       polnischen Oberlausitz führen, die mit dem 1624 verstorbenen Philosophen
       aus Görlitz, Jacob Böhme, verbunden sind, dem das Museum ab dem 30. August
       eine Sonderausstellung widmet. Auch Wanderungen in die Sudeten oder
       Ausflüge zu Künstlerateliers im polnischen Schlesien gehören für Bormann
       zur praktischen Arbeit. Zugleich setzt das Museum verstärkt auf digitale
       Angebote: den „Geschichtspfad“ beidseits der Neiße, den man aufs
       Mobiltelefon laden kann, oder den von Bormann betreuten Info-Blog
       silesia-news.de. Die Zugriffszahlen steigen.
       
       Braucht es neue inhaltliche oder pädagogische Konzepte für die Arbeit des
       Museums, wenn sich die Besucherstruktur wandelt? „Inhaltlich braucht es die
       nicht“, sagt die Direktorin Agnieszka Gąsior überzeugt, „doch wir müssen
       über neue Vermittlungskonzepte nachdenken. „Wie stelle ich unser Thema für
       Menschen dar, die nichts oder wenig damit verbinden?“
       
       Der neben ihr sitzende Museumspädagoge Voigt, der gleichermaßen deutsche
       wie polnische Schulklassen oder Reisegruppen betreut, hätte da ein paar
       Ideen. Er spricht gern über das Thema Identität. „Was ist ein Schlesier,
       eine Schlesierin? Wer spricht Schlesisch? Welches Schlesisch?“ Wenn er
       deutschen Schüler*innen diese Frage stelle, komme neuerdings zu der
       Aufzählung – deutsch, sächsisch, preußisch, aus der Oberlausitz oder
       Görlitz – eine neue Kategorie hinzu: ostdeutsch.
       
       3 Sep 2024
       
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