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       # taz.de -- Alltag im Krieg im Südlibanon: „Der reinste Horror“
       
       > Im Dorf Mardsch Uyun sind die Kämpfe zwischen Israel und der Hisbollah in
       > Hörweite. Wer es sich leisten kann, geht und wer bleibt, lebt in Angst.
       
   IMG Bild: Im Südlibanon und auch in Nordisrael derzeit Alltag: Luftangriffe, wie hier nahe Mardsch Uyun im Südlibanon
       
       Mardsch Uyun taz | Der Litani im Südlibanon ist nicht, wie meist
       geschrieben, ein Fluss, sondern eher ein kleiner Bach. Er trennt den
       südlichsten Teil des Libanons, unweit der israelischen Grenze, vom Rest des
       Landes. Gleich danach kommt der letzte Checkpoint des libanesischen
       Militärs.
       
       Und dann beginnt die Gefahrenzone: Jederzeit könnte die Hisbollah aus einem
       der Täler dort Raketen abfeuern, die sie dort in unterirdischen Anlagen
       versteckt hält. Jederzeit könnten auch israelische Artilleriegranaten
       einschlagen oder die Luftwaffe des südlichen Nachbarlandes einen Angriff
       fliegen. Die dunklen Flecken verkohlter Vegetation bezeugen die letzten
       Kampfhandlungen. Und in der Luft sind ständig israelische
       Aufklärungsdrohnen zu hören.
       
       Nur wenig hinter dem Litani liegt das Dorf Mardsch Uyun, in dem Christen
       und schiitische Muslime leben. Von hier sind es gerade einmal acht
       Kilometer zur israelischen Grenze. [1][Die Hügelkette, in der die grenznahe
       israelische Ortschaft Metulla und zahlreiche israelische Militäranlagen
       liegen], ist vom Rand Mardsch Uyuns klar am Horizont zu sehen.
       
       [2][Im Dorf selbst ist nichts los, die meisten Läden sind geschlossen]. Nur
       wenige Autos fahren die Hauptstraße entlang. Weit über die Hälfte der
       Einwohner, vor allem Familien mit Kindern, sind in den Norden geflohen,
       meist in die Hauptstadt Beirut.
       
       ## „Ein Kind wurde vor Angst ohnmächtig“
       
       Assad Abu Abbas ist in Mardsch Uyun geblieben. Er erinnert sich: Als es vor
       gut einer Woche zu dem bisher schwersten Schlagabtausch zwischen der
       Hisbollah und der israelischen Armee kam, habe er die Angriffe gehört.
       „Bumm, bumm, bumm hat es gemacht“, erzählt Abu Abbas und macht mit jedem
       Bumm mit seinen Armen eine Bewegung, die anfliegende und einschlagende
       israelische Raketen symbolisieren soll.
       
       „Zwanzig Minuten ist das so gegangen. Kurz darauf begann die Hisbollah,
       ihre Raketen abzufeuern“, blickt er zurück. „Es war der reinste Horror“,
       sagt er. Laut israelischen Angaben waren über hundert [3][Kampfjets im
       Einsatz]. Die Hisbollah feuerte wiederum über 300 Raketen in Richtung
       Israel ab.
       
       Auch Natalie hatte damals Angst, ihr Haus zu verlassen. Ihren Nachnamen
       will sie nicht nennen. Die Menschen sind hier vorsichtig. „Von fern und nah
       waren Explosionen zu hören“, sagt sie rückblickend. „Wir saßen herum, ich
       machte mir Sorgen um die Kinder. Eines hat seine Hand auf sein Herz
       gedrückt, ein Kind ist vor Angst ohnmächtig geworden. Das war furchtbar“,
       erzählt sie.
       
       Die Familie ist nicht nach Beirut geflohen. Sich in der Großstadt eine
       Wohnung zu mieten, kann sie sich nicht leisten. Denn seit einem Jahr habe
       die Familie praktisch kein Einkommen mehr, erzählt Natalie. „Wir versuchen,
       irgendwie ein normales Leben zu führen. Immer wieder mache ich meinen Laden
       auf, aber keiner kommt.“ Die Menschen hätten kein Geld mehr. Trotzdem
       müssten die Rechnungen bezahlt werden. „Wir sind am Ende. Wir möchten, dass
       dieser Krieg vorbeigeht. Er dauert jetzt bald ein Jahr. Weißt du, wie lang
       ein Jahr ist, wenn du keine Arbeit hast und es um dich herum dauernd
       kracht?“, fragt sie.
       
       ## Auch der Kellerraum schützt nicht mehr
       
       Das alles hinterlasse seine Spuren: „Frag jeden unserer Nachbarn. Alle
       nehmen Psychopharmaka. Wir leben jeden Tag diesen Horror. Es gibt keine
       Pause, du kannst nie durchatmen. Wir fragen uns immer, ob die nächste
       Rakete in unsere Richtung fliegt.“
       
       Auch die Kinder ihres Bruders Toni, der ebenfalls seinen Nachnamen nicht
       nennen will, bräuchten [4][psychologische Hilfe]. Er erzählt: „Meine
       älteste Tochter hat Angstzustände. Selbst wenn es an der Tür klopft, rennt
       sie weg und versteckt sich.“ Bei Toni wechseln sich Hoffnung und
       Verzweiflung ab. „Wir halten das nicht mehr aus.“ Es gebe hier ein
       Sprichwort, sagt er: „Du bist tot, nur dein Begräbnis ist verschoben.“
       Natalie, die neben ihm sitzt, nickt.
       
       Im hinteren Teil des Hauses der Familie gibt es eine hölzerne Klappe im
       Boden. Dort kann man in einen Kellerraum hinabsteigen, der ist gerade
       einmal zwei auf drei Meter groß. In diesem Raum hätten sie sich bei
       früheren Kriegen – und auch bei dem letzten großen Krieg zwischen Israel
       und der Hisbollah im Jahr 2006 – immer versteckt, erzählt Natalie.
       
       Aber heute mache das keinen Sinn mehr. Die modernen israelischen Raketen
       hätten eine zu große Durchschlagskraft, sagt sie. Stattdessen sitzt die
       ganze Familie nun bei jedem Angriff zusammen in einem Raum des Hauses,
       erzählt sie. Und hofft, dass sie alle verschont bleiben.
       
       3 Sep 2024
       
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       ## AUTOREN
       
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