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       # taz.de -- AfD-Erfolge in Thüringen und Sachsen: Wo bleibt der Aufschrei?
       
       > Der Erfolg der AfD ist eine Zäsur für den deutschen Rechtsextremismus.
       > Die Politik hat ihrem Aufstieg viel zu lange zugeschaut.
       
   IMG Bild: Kann den Thüringer Wahlsonntag als Erfolg verbuchen: AfD-Anführer Björn Höcke
       
       Man braucht nur die Stimmen derjenigen hören, die wissen, was jetzt auf sie
       zukommt – und nicht nur auf sie. Mit diesem Wahlergebnis vom Sonntag drohe
       „eine Abkehr von der bisherigen politischen Kultur der Bundesrepublik“,
       warnte [1][Charlotte Knobloch], die frühere Vorsitzende des Zentralrats der
       Juden, angesichts der [2][AfD-Erfolge in Thüringen und Sachsen]. „Wie
       hierzulande die Zukunft aussieht, ist ab heute wieder eine große und
       schwierige Frage.“ Der sächsische Flüchtlingsrat fürchtet „im Alltag noch
       mehr Diskriminierung und Übergriffe auf Geflüchtete“. Matthias Gothe vom
       Thüringer Queerweg sieht queere Strukturen „existenziell bedroht“.
       
       Und tatsächlich gibt es an der Zäsur, die die Landtagswahlen am Sonntag
       bedeuten, gibt es an der Gefahr, die sich damit Bahn gebrochen hat, nichts
       zu relativeren. Und es gibt dafür noch viel zu wenig Erschütterung und
       Widerstand.
       
       Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wird [3][eine rechtsextreme
       Partei stärkste Kraft in einem Bundesland], die AfD in Thüringen. In
       Sachsen verfehlt die Partei dies nur knapp. Erstmals hält eine solche
       Partei [4][eine Sperrminorität] in Thüringen. Es gab die Republikaner in
       Landtagen in den Neunziger Jahren, es gab die DVU und NPD – aber keiner
       dieser Parteien gelang ein solcher Erfolg, keiner ein so kontinuierlicher
       Aufstieg, keiner eine solche Wirkmacht.
       
       Jeweils mehr als 30 Prozent der Wählenden gaben der AfD ihre Stimme in
       beiden Ländern, knapp 400.000 Menschen waren es in Thüringen, 720.000 waren
       es in Sachsen. Einer Partei, die in Thüringen mit Björn Höcke von einem
       Mann angeführt wird, der schon vor 14 Jahren an einem Neonazi-Aufmarsch in
       Dresden teilnahm und seitdem rechtsextreme Netzwerke knüpft. Der schon seit
       Jahren ein „groß angelegtes Remigrationsprojekt“ forderte, umgesetzt mit
       „wohltemperierter Grausamkeit“. Der auch zuletzt erklärte, er akzeptiere
       „die Multikulturalisierung Deutschlands nicht“ und wolle sie
       „rückabwickeln“.
       
       Einer Partei, deren Vertreter auch in Sachsen mit den stumpfen Hetzern von
       Pegida auf einer Bühne stehen, wo auch AfD-Landeschef Jörg Urban über eine
       migrantische „Messerkultur“ oder „Globalisten“ ätzt und erklärt, der „Islam
       gehört nicht hierher“. Eine Partei, die genau deshalb in beiden Ländern vom
       Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde – woran
       Expert*innen schon zuvor keinen Zweifel hatten.
       
       ## Erfolg ausgerechnet im Geburtsland des NSU
       
       Diese Partei also bekommt nun mehr als 30 Prozent der Stimmen. All dies
       auch noch in Thüringen, wo sich einst [5][der rechtsterroristische NSU]
       radikalisierte, und in Sachsen, wo dieser Unterschlupf fand – und dann zu
       zehn Morden ausrückte. Alles vergessen, oder schlimmer noch: alles egal.
       Denn für die Wähler:innen ist es schon lange kein Geheimnis mehr, für
       was diese AfD und für was Höcke steht – sie wollen genau diese Politik.
       
       In einer Umfrage nach der Thüringenwahl erklärten 58 Prozent der Befragten,
       sie fänden es gut, dass die AfD „den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen
       stärker begrenzen will“. 75 Prozent fanden, der Einfluss des Islam in
       Deutschland werde „zu stark“. Für 68 Prozent kommen „zu viele Fremde“ ins
       Land. Und 50 Prozent erklärten, „wir leben gar nicht in einer richtigen
       Demokratie“. Es ist genau das, was die AfD vertritt.
       
       Nicht von ungefähr jubelte noch am Sonntag der [6][Identitären-Vordenker
       und „Remigrations“-Prediger Martin Sellner], das AfD-Ergebnis sei „ein
       Grund zu feiern“. [7][Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer] sprach von
       einem „Wahlbeben“. Sie tun dies nicht unbegründet. Denn selbst wenn das
       Getöne von Höcke, er wolle nun Ministerpräsident werden, in diesem Punkt
       folgenlos bleiben wird, wird es die AfD-Politik in den Landtagen von
       Thüringen und Sachsen nicht sein. Mit der Sperrminorität kann die Partei in
       Thüringen zur Dauerblockiererin werden, Untersuchungsausschüsse einberufen,
       Verfassungsänderungen oder Richterwahlen verhindern. Sie kann und wird die
       anderen Parteien vor sich hertreiben – und die Demokratie weiter von innen
       sabotieren und aushöhlen.
       
       ## Steter Machtausbau im Kommunalen
       
       Und die AfD hat Zeit. Je größer der Spagat der Demokraten wird, um eine
       Regierung zu bilden, umso mehr kann sie mit ihrer Parole der
       „Einheitspartei“ hausieren gehen, zu der die „Altparteien“ verschmelzten.
       Vor allem aber wird die AfD im Kommunalen ihren Einfluss weiter ausbauen:
       Schon jetzt hält die AfD in vielen sächsischen und Thüringer Gemeinden die
       stärkste Fraktion, bestimmt nun über Jugend- oder Kulturprojekte mit, wird
       von anderen Parteien in Ämter gewählt. Die Brandmauer, sie ist hier
       vielerorts längst gefallen. Und just am Sonntag gewann die Partei ihren
       nächsten Bürgermeisterposten, den ersten in Sachsen, in Großschirma.
       
       Und die AfD wird auch ihr rechtsextremes Vorfeld weiter ausbauen, wird nun
       wieder neue Mitarbeitende anstellen können, die ihre Agitation noch weiter
       verbreiten, wird auch Rechtsextreme jenseits der Partei weiter fördern.
       Nicht ohne propagandistisches Kalkül sperrte Höcke die Presse am Wahlabend
       von der Thüringer AfD-Wahlfeier aus – und bedankte sich zugleich euphorisch
       beim rechtsextremen Netzwerk „Ein Prozent“, das die Partei mit
       Propagandavideos pusht. Schon zuletzt trumpfte in Sachsen und Thüringen
       eine selbstbewusste, teils sehr junge rechtsextreme Szene auf, von der
       [8][Elblandrevolte] bis zu den [9][Freien Sachsen] – auch beflügelt vom
       Boden, denen ihnen die AfD bereitete.
       
       All das hat Folgen, schon heute. Es sind das auch durch die AfD verhetzte
       Debattenklima und deren Feindmarkierungen, die zu Gewalt führen. Angriffe
       auf Geflüchtete stiegen zuletzt wieder an, vorne lagen: Sachsen und
       Thüringen. CSDs erlebten rechtsextreme Gegenproteste, demokratische
       Wahlkämpfende wurden bedroht und verprügelt. All das dürfte sich nun weiter
       zuspitzen. Es genügt ein Blick nach Sonneberg in Thüringen, wo seit einem
       Jahr ein AfD-Landrat im Amt ist und laut der Opferberatungsstelle ezra
       seitdem 20 rechte Angriffe gezählt wurden, fünfmal mehr als im Vorjahr. Wo
       Täter erkennen, dass ihre Gewalt gewollt ist, führten sie diese auch
       schneller aus.
       
       ## Zivilgesellschaft ist entscheidend
       
       Es ist dieses Klima, das Menschen wie Charlotte Knobloch, Matthias Gothe
       oder dem Flüchtlingsrat Angst macht. Und es sind diese Gefahren, zu denen
       der Aufschrei noch viel zu leise ausfällt.
       
       Wo ist das Zusammentun der Demokraten? Wo der Kabinettsausschuss der
       Bundesregierung gegen Rechtsextremismus? Wo sind die schnellen Anklagen
       nach den Angriffen auf die Wahlkämpfenden? Wo sind die vollstreckten
       Haftbefehle gegen gesuchte Neonazis? Wo ist das Demokratiefördergesetz? Wo
       ist die ernsthafte Debatte über ein AfD-Verbot?
       
       Gewiss, entscheidend wird es nun auf die demokratische Zivilgesellschaft
       vor Ort ankommen. Eine Zivilgesellschaft, die sich auch in Sachsen und
       Thüringen weiter überall findet. Eine, die im Frühjahr noch auch dort gegen
       Rechtsextremismus auf der Straße stand. Und dann von den Regierungen im
       Bund wie in den Ländern allein gelassen wurde. Die Politik reagierte mit
       Nichtstun – was sich nun rächt. Wenn dort aber jetzt kein Handeln einsetzt,
       wenn nicht die Engagierten in Thüringen und Sachsen unterstützt werden,
       nicht die Demokratie gestärkt, wann dann überhaupt noch?
       
       2 Sep 2024
       
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