URI: 
       # taz.de -- Brandenburger Flüchtlingsrat: „Symbolpolitik statt Problemlösung“
       
       > Die Migrations- und Flüchtlingspolitik in Brandenburg sei getrieben von
       > populistischem Aktivismus, sagt Vincent da Silva vom Flüchtlingsrat.
       
   IMG Bild: Für Geflüchtete führt kein Weg daran vorbei: Um nach Deutschland zu gelangen, müssen sie die Grenze illegal übertreten
       
       taz: Herr da Silva, gerade hat die Bundesregierung neue Verschärfungen für
       Flüchtlinge angekündigt. Was halten Sie davon? 
       
       Vincent da Silva: Was die Bundesregierung vorschlägt, ist haarsträubend. Es
       ist letztlich nichts anderes als ein Mittel, um sich hoch offiziell von
       rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Grundprinzipien verabschieden zu
       können: Schnellverfahren an der Grenze, Haft für Asylsuchende oder gar
       Zurückweisungen von Schutzsuchenden an deutschen Grenzen sollen nun im
       Hauruckverfahren politisch durchgeboxt werden. Es ist der geradezu panische
       Versuch, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Dass aber ein solch
       grobschlächtiger Aktionismus nicht selten vor allem den rechten Kräften in
       die Hände spielt, hat sich schon mehrfach gezeigt – hier scheint offenbar
       nicht wirklich aus Erfahrung gelernt worden zu sein.
       
       taz: Ministerpräsident Dietmar Woidke hatte ja vor Monaten mit als Erster
       nach Grenzkontrollen gerufen. Jetzt liest man überall, es kämen tatsächlich
       weniger Flüchtlinge nach Brandenburg. Stimmt das nicht? 
       
       da Silva: Das Thema Grenzkontrollen ist ein gutes Beispiel für den
       aktuellen Fokus auf Symbolpolitik. Es wird demonstriert, dass man im Sinne
       von Abschottung agiert – aber tatsächlich kann nicht belegt werden, ob das
       überhaupt funktioniert. Eine Studie der Universität Frankfurt/Oder hat
       kürzlich aufgezeigt, dass kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen
       Grenzkontrollen und gesunkenen Flüchtlingszahlen nachgewiesen werden kann.
       Uns macht aber noch ein weiter Aspekt Sorgen: Auf der einen Seite wird
       betont, dass die Zahl der sogenannten illegalen Einreisen – ein Begriff,
       den wir sowieso höchst fragwürdig finden – steigt. Was natürlich auf der
       Hand liegt, wenn man vermehrt Grenzkontrollen macht. Auf der anderen Seite
       wird von angeblich sinkenden Zahlen von Asylanträgen berichtet. Da stellt
       sich schon die Frage, inwiefern hier auch Pushbacks im Spiel sind.
       
       taz: Wie meinen Sie das? 
       
       da Silva: Eigentlich müssen ja Menschen, die an der Grenze aufgegriffen
       werden und „Asyl“ sagen, direkt in die Erstaufnahmeeinrichtung in
       Eisenhüttenstadt gebracht und ein Asylverfahren eingeleitet werden. Aber
       uns erreichen immer wieder Berichte von lokalen Aktivist*innen und
       Gruppen im Grenzgebiet, dass Menschen an der Grenze abgewiesen und nach
       Polen zurückgeschickt werden. Wenn Menschen tatsächlich vermehrt
       rechtswidrig einfach an der Grenze zurückgewiesen werden, führt dies
       natürlich auch zu sinkenden Asylanträgen.
       
       taz: Was haben Sie denn gegen den Begriff „illegale Einreise“? 
       
       da Silva: Er ist einfach irreführend, weil eine legale Einreise für ganz
       viele geflüchtete Menschen schlicht nicht möglich ist. Die
       Staatsangehörigen fast aller Länder brauchen dafür ein Visum, müssten also
       im Herkunftsland Zugang zur deutschen Botschaft haben, was viele nicht
       haben. Und selbst wenn, würden die meisten kein Visum bekommen. Die Leute
       sind also gezwungen, sich „illegal“ auf den Weg zu machen. Das zeigt die
       ganze Absurdität des Systems: Einerseits gibt es die rechtlich verbriefte
       Regelung, das man mit dem Aussprechen des Worts „Asyl“ das Recht auf ein
       Asylverfahren hat. Aber um überhaupt so weit zu kommen, muss man die Grenze
       illegal übertreten. Hier fängt die Stigmatisierung von geflüchteten
       Menschen an, die sich durch das gesamte weitere Verfahren zieht.
       
       Was ist Ihre größte Befürchtung, sollte die AfD tatsächlich auch in
       Brandenburg stärkste Fraktion werden? 
       
       da Silva: Vor allem befürchten wir, dass es durch die anzunehmenden
       Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung zu noch mehr politischem Hickhack
       kommen wird. Schon in den letzten Monaten gab es ja eine Verschiebung im
       politischen Diskurs: weg von fachspezifischen Inhalten hin zu immer mehr
       Symbolpolitik und einem Überbietungswettbewerb mit populistischen
       Äußerungen. Dadurch ist die Auseinandersetzung mit den eigentlichen
       Problemen in den Hintergrund getreten.
       
       taz: Was sind die eigentlichen Probleme? 
       
       da Silva: Es gibt Probleme auf vielen Ebenen. Es beginnt, wenn Geflüchtete
       in Brandenburg ankommen, denn sie müssen oft viel zu lange in den
       Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben. Dort herrschen denkbar schlechte
       Bedingungen, um ein eigenständiges Leben zu beginnen. Es gibt zum Beispiel
       viel zu wenig Behörden und unabhängige Beratung für Flüchtlinge, wo sie
       Orientierung bekommen, wie es weiter gehen kann. Und wenn die Flüchtlinge
       irgendwann auf die Landkreise verteilt werden, landen sie in aller Regel
       wieder in Sammelunterkünften, wo sie keine Hilfe bekommen, um sich ein
       eigenständiges Leben aufzubauen.
       
       taz: Zumal die Heime nicht selten im Nirgendwo liegen, wo die Menschen auch
       räumlich von allem abgeschnitten sind. 
       
       da Silva: Viele Unterkünfte sind tatsächlich infrastrukturell ungenügend
       und zum Teil denkbar schlecht angebunden. Eigentlich müsste Landespolitik
       hier zweierlei tun: mehr privaten Wohnraum schaffen, auch wenn das
       natürlich nicht einfach ist – und parallel die Infrastruktur ausbauen,
       besonders im ländlichen Raum. Wir alle brauchen mehr öffentlichen Verkehr,
       mehr Schulen, mehr Kitaplätze und und und. Im politischen Diskurs wird das
       aber oft falsch zugespitzt, um Deutsche und Flüchtlinge zu spalten. Das
       sind keine Probleme, die nur Geflüchtete betreffen, geschweige denn von
       ihnen verursacht würden. Fehlende Infrastruktur und Wohnungen geht uns
       alle an.
       
       taz: Wie steht es um die Integration in den Arbeitsmarkt? 
       
       da Silva: Auch hier besteht in Brandenburg Aufholbedarf, sowohl was
       Ausbildungsmöglichkeiten anbelangt als auch die Möglichkeit, schnell in
       Arbeit zu kommen. Wir bekommen immer wieder Berichte von Geflüchteten, die
       sagen, dass sie eine Stelle gefunden hätten, aber sich die Prozesse in den
       Behörden dermaßen verschleppen, dass es doch nicht zur Anstellung gekommen
       ist.
       
       taz: Kommen wir zu konkreten Projekten der Landesregierung. Wie steht es um
       das Abschiebezentrum am BER, das offiziell Behördenzentrum heißt? 
       
       da Silva: Die Geschichte hat zwei Seiten. Zum einen geht es um das geplante
       Abschiebezentrum, ein zugegeben zugespitzter Begriff, den wir aber sehr
       passend finden, denn darum geht es letztendlich. Der Bau ist seit Langem im
       Gange, dafür werden massiv Gelder veranschlagt – und nach unserer Ansicht
       auch verschleudert. Es gibt zum Beispiel einen Pachtvertrag mit einem
       dubiosen Geschäftsmann, der die Landesregierung für 25 Jahre knebeln wird.
       Vor Kurzem sind dann auch noch vergaberechtliche Ungereimtheiten
       aufgetreten, die das ganze Projekt eigentlich infrage stellen müssten. Aber
       natürlich juckt das SPD und CDU nicht, und die Grünen hatten nie den
       politischen Mut, in dieser Sache ordentlich Krach zu machen.
       
       taz: Es gibt ja auch schon ein Abschiebezentrum am BER. Was für Erfahrungen
       machen Sie damit? 
       
       da Silva: Die „Ausreisesammelstelle“ besteht schon lange, hier kann man
       sehen, was passiert, wenn Geflüchtete isoliert von der Öffentlichkeit
       kaserniert werden. Menschen werden unter sehr fragwürdigen rechtlichen
       Bedingungen in Gewahrsam genommen. Asylanträge im sogenannten
       Flughafenverfahren sehr schnell zurückgewiesen, zumeist, ohne dass die
       Menschen darauf angemessen vorbereitet waren. So haben sie zum Beispiel das
       Recht auf eine unabhängige anwaltliche Beratung zum Asylverfahren, die
       müsste das Land proaktiv anbieten. Aber das passiert de facto nicht
       beziehungsweise nur sehr unzureichend.
       
       taz: Hat die Zivilgesellschaft keinen Zugang zu den Gefangenen? 
       
       da Silva: Nein, das ist das Problem, es findet alles unter Ausschluss der
       Öffentlichkeit statt. Auch die seelsorgerische Betreuung, der Zugang zu
       Sozialarbeitern oder psychologischer Hilfe läuft nur gefiltert über die
       Mitarbeiter*innen des Gewahrsams. Letztlich heißt dies, dass Leute,
       die keine Qualifikation haben, darüber entscheiden, wann und ob eine
       untergebrachte Person medizinische oder psychologische Betreuung bekommt.
       Auch die aktuelle Gewahrsamsordnung ist trotz mehrfacher Anfragen nicht
       öffentlich einzusehen. Dadurch bleiben die ganzen Praktiken weitgehend im
       Dunkeln und wir erfahren quasi immer nur von Einzelfällen.
       
       taz: Das Prinzip, Geflüchtete zu isolieren, hat ja Konjunktur. Brandenburgs
       Innenminister will zum Beispiel große „Ausreisezentren“ bauen, etwa auf
       einer kleinen Oder-Insel. Was würde das bedeuten? 
       
       da Silva: Es gab immer wieder Pläne, Leute ohne Bleibeperspektive vorzeitig
       anders unterzubringen, um sie quasi „griffbereit“ zu haben für eine
       schnelle, reibungslose Abschiebung. Sie sollen so zudem isoliert werden von
       Teilhabemöglichkeiten, die geflüchteten Menschen zustehen. Dass solche
       Pläne jetzt wieder hervorgeholt werden, ist natürlich Ausdruck der
       aktuellen Stimmung, die nur an Abschottung und Abschreckung denkt. Anstatt,
       dass man versucht, Bleiberechtsmöglichkeiten auszuloten – und sei es auch
       nur aus pragmatischen Gründen, etwa weil das Land Arbeitskräfte braucht –,
       herrscht zunehmend der Wille vor, Bleiberecht zu verhindern, wo es geht.
       
       12 Sep 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
       ## TAGS
       
   DIR Flüchtlinge
   DIR Flüchtlingsrat
   DIR Grenzpolitik
   DIR Festung Europa
   DIR Menschenrechte
   DIR Asylpolitik
   DIR Landtagswahl Brandenburg
   DIR Brandenburg
   DIR Pushbacks
   DIR Wahlen in Ostdeutschland 2024
   DIR Schwerpunkt Ostdeutschland
   DIR Landtagswahl Brandenburg
   DIR Landtagswahl Brandenburg
   DIR Die Grünen Brandenburg
   DIR Grenzkontrollen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Junge Wähler*innen in Templin: Jugend auf dem rechten Weg
       
       Bei der U-16 Landtagswahl in Brandenburg hat die AfD am besten
       abgeschnitten. Auch in Templin, einer Station des Projekts Demokratie Tour
       Uckermark.
       
   DIR Dietmar Woidke vor der Landtagswahl: „Deutschland muss härter agieren“
       
       Der SPD-Ministerpräsident Brandenburgs will schärfer gegen illegale
       Migration vorgehen, um die AfD zu schlagen.
       
   DIR Landtagswahlkampf in Brandenburg: Fünf Männer beim Monopoly
       
       Ohne AfD und BSW: Bei einem Treffen der Spitzenkandidaten in Potsdam geht
       es entspannt zu.
       
   DIR Landtagswahl in Brandenburg: Grüne ergreifen Flucht nach vorn
       
       Am 22. September müssen die Grünen um den Einzug in den Landtag bangen. Vor
       allem der Wahlkampf von Dietmar Woidke (SPD) macht ihnen zu schaffen.
       
   DIR Grenzkontrollen in Brandenburg: Pushbacks nach Polen
       
       An der deutsch-polnischen Grenze wird immer mehr Migrant*innen die
       Einreise verweigert. Dabei soll es vermehrt zu illegalen Zurückweisungen
       kommen.