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       # taz.de -- Großes Schriftstellertreffen in Berlin: Nur die BDS-Diskussion scheiterte
       
       > Eine BDS-Diskussion ging daneben. Rachel Cusk, Tash Aw und andere
       > Lesungen überzeugten. Eine Bilanz des Berliner Literaturfestivals.
       
   IMG Bild: Eine Entdeckung: die ukrainische Autorin Sofia Andruchowytsch (Mitte) auf dem Festival in Berlin
       
       Wenn im deutschen Stadtbild eines an die alte Bundesrepublik erinnert,
       dann ist es wohl der Waschbeton. Fast möchte man Prognosen wagen, darauf
       wetten, dass sich der Charme der brachialen Bauten der BRD Noir in Zukunft
       den Nachgeborenen neu erschließt – immerhin erfährt auch der Brutalismus
       aktuell ein Revival.
       
       Sie sehen zumindest gut aus, die vielen jungen Menschen vor Waschbeton, die
       in der letzten Woche ins Haus der Berliner Festspiele strömten, um sich der
       Literatur zu widmen. Fürchteten einige noch 2023, [1][das Haus sei
       womöglich zu groß für das internationale literaturfestival berlin (ilb),]
       darf man es mittlerweile als hineingewachsen betrachten. In verschiedenen
       Ecken und Ebenen des Theaterbaus entstehen Lesebühnen. Die Bestuhlung
       wächst dynamisch, analog zur Bekanntheit der Autor:innen.
       
       Die dargebotene Literatur hat mir BRD Noir freilich wenig zu tun. [2][Der
       malaysisch-chinesische Autor Tash Aw], der heute in Großbritannien lebt,
       erzählt in Berlin, wie seine Herkunft immer wieder für Verwirrung sorgt.
       Er, der nie irgendwo nicht fremd war, werde aufgrund seiner diffus
       „neutralen Gesichtszüge“ stets zu den „locals“ gezählt.
       
       In seinem Memoir „Fremde am Pier“ geht Aw dem Schweigen seiner Familie auf
       die Spur, das mit deren wirtschaftlichen Aufstieg zusammenhänge: Letztlich
       gehe es immer um „Dankbarkeit, die mit dem Reichtum des heutigen Asiens
       einhergeht“.
       
       Wie komplex die Migrationsgeschichten entlang der Ländergrenzen in Asien
       verlaufen, lässt sich nur erahnen an diesem Abend, aber die Lesung mit Tash
       Aw stellt auf beiläufige Art die besondere Kraft von Literatur unter
       Beweis; Licht auf Themen, Länder und Komplexe zu werfen, die zum Wettstreit
       um die öffentliche Aufmerksamkeit normalerweise gar nicht erst antreten.
       
       ## Wichtigkeit des Übersetzerfonds
       
       Es ist daher nur folgerichtig, dass im Laufe des Festivals immer wieder auf
       die Wichtigkeit eines gut ausgestatteten Deutschen Übersetzerfonds
       hingewiesen wird, dem [3][aktuellen Plänen aus dem Staatsministerium für
       Kultur zufolge] Mittelkürzungen um etwa 30 Prozent drohen. Die geplanten
       Änderungen sind wohl das Politikum bei diesem Festival – zumindest wenn man
       über den hausgemachten Krach bei einer dem BDS und Antisemitismus
       gewidmeten Diskussion hinwegsieht.
       
       Als katastrophal gescheitert darf man die vom ilb und PEN Berlin initiierte
       Diskussionsveranstaltung am Sonntag bezeichnen. Debattiert werden sollte
       über die Boykottspirale in Kultur und in Wissenschaft, über die
       Israelboykotteure der BDS-Bewegung und die Boykotteure der
       Israelboykotteure.
       
       Doch mit dem [4][Schriftsteller und Historiker Per Leo] und der
       südafrikanisch-jüdischen Künstlerin Candice Breitz auf der einen Seite
       sowie Ruhrbarone-Autor Stefan Laurin auf der anderen Seite ist das Podium
       so polarisiert besetzt, dass es eigentlich nur danebengehen kann. Zwischen
       ihnen sitzt fehlplatziert der Journalist Peter Kuras, der offen bekennt,
       eigentlich überhaupt keine Meinung zu Israel zu haben.
       
       Breitz, deren Ausstellung im Frühjahr in Saarbrücken mit der Begründung
       abgesagt wurde, [5][sie habe sich nicht klar genug von BDS und der Hamas
       distanziert,] betont dabei, sie habe nie eine BDS-Petition unterschrieben.
       Sie sieht sich zu Unrecht diskreditiert und spricht von einer „Cancel
       Culture gegenüber Israelkritiker:innen“ in Deutschland. Als Jüdin
       werde sie von Nichtjuden in die Nähe des Antisemitismus gerückt.
       
       ## Boykott als Mittel gegen Israel
       
       Laurin dagegen sieht die Meinungsfreiheit mitnichten bedroht in Deutschland
       und glaubt, israelkritische Künstler:innen hätten auch deshalb Probleme
       mit der BDS-Resolution, weil sie ihre staatliche Förderung gefährdet sähen.
       Es gebe aber nun mal einen politischen Rahmen für Kunstförderung.
       
       Per Leo insistiert darauf, dass die Autonomie der Kunst gefördert werde,
       dass es ebendiesen politischen Rahmen nicht gebe. Leo sieht gute Gründe
       darin, Boykott als Mittel gegenüber Israel zu wählen, lässt durchblicken,
       dass er die geplante BDS-Resolution für fatal hält (und dass er nicht
       glaubt, dass sie kommt). Und er meint, BDS sei quasi inexistent in
       Deutschland, ein Phantom. Bei einer international agierenden Bewegung, die
       weltweit Künstler:innen unter Druck setzt (wenn sie etwa in Israel
       auftreten) und eben auch in Deutschland extrem wirksam ist, darf man das
       bezweifeln.
       
       Keine:r der Podiumsteilnehmer:innen ist bereit, sich auf die
       Argumentation des Gegenübers einzulassen, allerdings ist Moderatorin
       Stephanie von Oppen auch völlig überfordert. Leo und Breitz tun so, als
       gebe es keine guten Gründe, warum Neudefinitionen von Antisemitismus und
       die BDS-Resolution des Bundestags überhaupt nötig geworden sind. Sind
       antisemitische Äußerungen und Werke unter der Maßgabe der Autonomie der
       Kunst dann zu tolerieren? Gibt es nicht immer einen politischen Rahmen,
       innerhalb dessen sich Kunstförderung bewegt? Wo sind denn die Grenzen der
       Meinungsfreiheit?
       
       ## Autorin aus der Ukraine
       
       Interessante Anknüpfungspunkte gab es zuhauf, doch die meisten gehen in
       Zwischenrufen aus dem Publikum (unter anderem von Deborah Feldman) unter,
       irgendwann ruft [6][PEN-Berlin-Mitgründerin Eva Menasse] dazu auf, zu
       zivilisatorischen Umgangsformen zurückzukehren, und mischt sich gleich auch
       noch in die Moderation ein. Da ist das Chaos dann perfekt.
       
       Konstruktiver wird es im Anschluss auf der Seitenbühne. Die ukrainische
       Autorin Sofia Andruchowytsch stellt dort ihre historische Ukraine-Trilogie
       („Das Amadoka-Epos“) vor. Im Gespräch mit Übersetzerin und Verlegerin
       Kateryna Mishchenko spricht Andruchowytsch, die noch immer in Kyjiw lebt,
       über das Leben und Schreiben im Krieg.
       
       Sie habe zuletzt viel Zeit in Bussen und Zügen verbracht, dort sei sie
       vielen Frauen begegnet, deren Geschichten sie sich angehört habe – dabei
       sei sie aber zurückgekehrt zu Fiktion, Allegorien und Metaphern, weil sie
       merkte, dass dies nötig sei.
       
       Der dritte und letzte Teil von Andruchowytschs monumentalem
       „Amadoka-Epos“ (Residenz Verlag) erscheint im Oktober auf Deutsch; die
       Schauspielerin Meike Rötzer liest an diesem Abend aus allen Teilen so
       eindrücklich und lebendig, dass man sich sofort ein von ihr gelesenes
       Hörbuch des Werks wünscht.
       
       ## Das Muttersein ausloten
       
       Es sind nicht unbedingt die großen Namen, die diese Festivalausgabe
       dominieren, Bücher von einigen der geladenen Autor:innen sind noch nicht
       einmal ins Deutsche übersetzt worden. Als Ausnahme darf [7][die britische
       Autorin Rachel Cusk] gelten, deren jüngstes Buch „Parade“ sich von all
       ihren Werken wohl am stärksten dagegen wehrte, zum Roman zu werden.
       
       Cusk hinterfragt darin die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpftem, was
       ja gewissermaßen eine ihrer Spezialitäten ist, hat Cusk doch auch das
       Muttersein ausführlich ausgelotet. Fast alle Figuren in „Parade“ heißen
       „G“. Ihr ging es darum, sagt Cusk, die heute in Frankreich lebt, sich vom
       „Ich“ wegzubewegen. Sie misstraue der Sprache schon seit Langem.
       
       „Warum ist Kunst so frei, und die Sprache ist es nicht?“, fragt sie, dem
       Pinsel die Fähigkeit zur Abstraktion neidend. Doch des einen Kubismus ist
       des anderen Realismus: Als „G“ in „Parade“ anfängt, auf dem Kopf zu malen,
       erschüttert das seine Frau stark, die in den verdrehten Figuren die
       „Befindlichkeiten ihres Geschlechts“ ausgedrückt findet.
       
       ## Die Moderatorin ist starstruck
       
       Es ist ein großes Publikum an diesem Abend, das gekommen ist, um Cusk zu
       sehen, auch Moderatorin Miryam Schellbach bekennt offenherzig,
       „starstruck“ zu sein. Kleine und große Lichter des Literaturbetriebs lassen
       sich durch das Haus der Berliner Festspiele spülen.
       
       Auch [8][„curator in residence“ Helon Habila,] der für einen großen Teil
       des Programms verantwortlich zeichnet, mischt sich in dunkel glänzendem
       Anzug unter die Gäste. Es ist das erste Mal, dass ein Externer das Festival
       nach der 22 Jahre währenden Regentschaft Ulrich Schreibers nun unter der
       neuen Leiterin Lavinia Frey kuratiert, und es ist auch das erste Mal, dass
       Habila überhaupt etwas kuratiert, wie er der taz kurz vor Festivalbeginn
       verriet. Man darf beides als Erfolg verbuchen.
       
       13 Sep 2024
       
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