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       # taz.de -- Dokumentarfilm „Jenseits von Schuld“: Wenn das eigene Kind getötet hat
       
       > Niels Högel tötete als Krankenpfleger mindestens 87 Menschen. Der Film
       > „Jenseits von Schuld“ portraitiert seine Eltern und ihren Umgang mit den
       > Taten.
       
   IMG Bild: Manchmal geht es ihr zu schlecht zum Drehen: Ulla Högel und ihr Mann telefonieren täglich mit ihrem Sohn
       
       Auch sie sind Opfer. Natürlich ist ihr Leid nicht zu vergleichen mit dem
       all der Hinterbliebenen. Aber auch das Leben von Ulla und Dietrich Högel
       hat deren Sohn zerstört. Mindestens 87 Menschen umgebracht zu haben, dafür
       wurde Niels Högel [1][2019 verurteilt]; begangen hatte er die Taten als
       Krankenpfleger in den Krankenhäusern Oldenburg und Delmenhorst. Seine
       Eltern sind nicht mitschuldig, sie waren, soweit dies zu ergründen ist,
       auch keine „schlechten“ Eltern, es führt nichts direkt von ihrer Erziehung
       zum mordenden Sohn.
       
       Aber was ist schlimmer? Wenn andere solche Anschuldigungen erheben – oder
       Eltern sich selbst immer wieder fragen müssen, wie ihr geliebter Sohn sich
       zu solch einem Menschen entwickeln konnte? Und was ist verwerflicher? So
       einen Sohn zu verstoßen – oder ihn trotz seiner Taten weiter zu lieben,
       ihn, wo möglich, zu unterstützen? Das sind so Fragen, deretwegen die
       Filmemacherinnen Katharina Köster und Katrin Nemec sich daran gemacht
       haben, das Elternpaar Ulla und Dietrich Högel zu porträtieren.
       
       2005 wurde [2][Niels Högel] bei einer versuchten Tat erwischt, er sitzt
       seitdem im Gefängnis, ist verurteilt zu lebenslanger Haft. Seine Eltern
       haben sich nicht von ihm abgewandt, sie telefonieren täglich mit ihm und
       besuchen ihn regelmäßig. Sie selbst wurden von den Filmemacherinnen
       besucht, in ihrer Wohnung in einer norddeutschen Stadt. Ein paar Wochen
       lang begleiteten Köster und Nemec das alltägliche Leben der beiden mit der
       Kamera. Sie waren auch bei einem Besuch in der Haftanstalt dabei. Und sie
       zeigen etwa, wie der Prozess gegen Högels ehemalige Vorgesetzte im Herbst
       2022 seine Eltern neuerlich aufwühlte.
       
       Niels Högel selbst bleibt, zumindest als Erwachsener, im Film unsichtbar.
       Seine Stimme ist manchmal durchs Telefon zu hören, leise und
       unverständlich. Die Familienfotos, die ihn als Kind zeigen, sind so banal
       und anrührend wie eigentlich alle Schnappschüsse aller Eltern.
       
       An der Windschutzscheibe des Familienautos hängen immer noch Niels Högels
       Babyschuhe. Es sind solche Details, die noch die alltäglichste gezeigte
       Situation seltsam pointiert wirken lassen: Dietrich Högel bestellt per
       Telefon ein Sachbuch über die Morde seines Sohnes, später sehen wir ihn auf
       dem Sofa darin lesen. Für den Besuch im Gefängnis packen die Eltern ein
       Weihnachtsgeschenk ein, einen Pullover, und immer wieder hören sie im
       Radio, wie in den Nachrichten über ihren Sohn geredet wird.
       
       „Jenseits von Schuld“ ist ein leiser Film. Köster und Nemec vermeiden alle
       Tricks des Erzählkinos, wie sie längst auch im Dokumentarfilm angewendet
       werden, um Spannung oder Empathie zu erzeugen. Sehr sachlich und diskret
       zeigen die Filmemacherinnen, wie das Ehepaar weiterleben kann – und es ist
       tatsächlich beeindruckend, wie liebevoll die beiden noch immer miteinander
       umgehen.
       
       Über die Jahre haben sie eine Art Frieden gefunden, aber Dietrich hat
       Probleme mit dem Herzen und Ulla Tage, an denen es ihr schlecht geht und
       sie nicht gefilmt werden will. In einer Aufnahme sieht man den Aufbau für
       die Interviews in einem Studio. Dietrich muss für seine Frau einen Termin
       absagen, und diese Film-im-Film-Sequenz macht deutlich, dass beide dann
       doch mal Zweifel daran beschleichen, ob es die richtige Entscheidung war,
       das Filmteam in ihre Wohnung zu lassen.
       
       Dem Vertrauen aber, das Ulla und Dietrich ihnen entgegengebracht haben,
       werden die Filmemacherinnen gerecht. Sicher: Manche Detailaufnahme kann
       kitschig wirken, Kuckucksuhr an Zimmerwand, zum Beispiel. Aber Köster und
       Nemec zeichnen mit einem durchaus liebevollen Blick das Porträt eines
       Ehepaars, das eine kaum vorstellbare Tragödie erlitten hat – und
       überstanden.
       
       Klar ist: Für einige Menschen, für Menschen, denen Niels Högel die Liebsten
       raubte, wird so etwas kaum zu ertragen sein. Die Filmemacherinnen haben
       „Jenseits von Schuld“ vor Veröffentlichung auch einigen Angehörigen von
       Ermordeten gezeigt. Dass die ihn abnickten, dürfte das wichtigste
       Gütesiegel sein.
       
       Aber die Monströsität von Niels Högels Verbrechen steht auch keinen Moment
       lang infrage. Für die [3][Eltern] bleiben sie ein Mysterium, aber sie haben
       seine Taten nicht verdrängt. Wie sie damit umgehen, macht „Jenseits von
       Schuld“ zu einem humanistischen Drama jenseits aller voyeuristischen
       Attraktionen des „[4][True Crime]“-Genres.
       
       21 Sep 2024
       
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