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       # taz.de -- Mehr „Schlepperei“-Urteile in EU: Wenn Solidarität bestraft wird
       
       > Immer mehr Geflüchtete und Helfer:innen werden wegen „Schlepperei“
       > unverhältnismäßig hart bestraft. Damit vergrößern die Staaten die
       > Probleme.
       
   IMG Bild: Bewaffnete Soldaten auf dem Öltanker „El Hiblu 1“, den Geflüchtete 2019 in Malta kaperten
       
       Berlin taz | Am kommenden Dienstag steht der 60-jährige Homayoun Sabetara
       [1][in Thessaloniki] vor Gericht – mal wieder. Seit drei Jahren sitzt der
       krebskranke Iraner in Griechenland im Gefängnis. Er hatte 2021 versucht,
       aus Iran nach Deutschland zu seinen beiden Töchtern zu fliehen. Weil er das
       Auto steuerte, in dem er mit sieben anderen Menschen saß, wird ihm
       Schlepperei vorgeworfen.
       
       „Ihm waren die Konsequenzen nicht bewusst“, sagt seine Tochter Mahtab, die
       sich seit Jahren öffentlich für die Freilassung ihres Vaters einsetzt. In
       erster Instanz wurde Sabetara – nach vier Terminverschiebungen – zu 18
       Jahren Haft verurteilt.
       
       Der Prozess „zerstört alle mentalen Ressourcen der Angeklagten und ihrer
       Angehörigen“, sagt Mahtab Sabetara. Die Folge sei ein „mentaler
       Zusammenbruch“, Hoffnung werde zu „einem Wort, von dem man nur träumen
       kann“. Ohne Unterstützung [2][von NGOs] wäre es unmöglich, die Reisekosten
       nach Griechenland und die Anwaltsrechnungen zu bezahlen.
       
       Anfang September präsentierte deshalb die NGO [3][medico international] in
       Frankfurt einen neuen „Fonds für Bewegungsfreiheit“. Der soll künftig die
       Rechtshilfe für Menschen mitfinanzieren, die wegen „Solidarity Crimes“ oder
       der eigenen Fluchtgeschichte als Schlepper vor Gericht stehen – wie
       Homayoun Sabetara.
       
       „Immer wieder werden Geflüchtete als Schleuser gebrandmarkt. Sie werden in
       juristischen Schnellverfahren zu überdimensionalen Haftstrafen verdonnert,
       ohne dabei auf einen adäquaten Rechtsbeistand hoffen zu können“, sagt
       Valeria Hänsel von medico.
       
       ## Vorwurf gegen 2.000 Menschen
       
       Sie verweist darauf, dass der Straftatbestand der „Beihilfe zur unerlaubten
       Einreise“ teils strenger bestraft wird als Mord. Allein in Griechenland
       sitzen nach einem Bericht Zählung der NGO Borderline Europa über 2.000
       Menschen aufgrund des Vorwurfs der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ im
       Gefängnis.
       
       Die meisten von ihnen sind Geflüchtete. Borderline hat viele Prozesse
       besucht und ausgerechnet, dass nach Schnellverfahren von durchschnittlich
       rund 30 Minuten Dauer am Ende durchschnittlich 46 Jahre Haft und
       Geldstrafen von über 300.000 Euro stehen.
       
       „Häufig verstehen die Angeklagten – auch aufgrund unzureichender
       Übersetzungen – bis zuletzt nicht, was ihnen eigentlich vorgeworfen wird
       und warum man sie verurteilt“, sagt Hänsel.
       
       Auch in Italien, Spanien und England werde von „beinahe jedem ankommenden
       Flüchtlingsboot mindestens ein Mensch festgenommen und bezichtigt, anderen
       bei der Einreise geholfen zu haben“.
       
       Medico nennt eine Zahl von rund 3.200 Beschuldigten in Italien seit 2013
       und rund 500 Menschen in den Jahren 2022 und 2023 in Spanien. „Die
       Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein“, so medico.
       
       Zu einem der Aufsehen erregendsten Fälle gehört jener der „El Hiblu 3“.
       Dabei handelt es sich um ein seit 2019 in Malta laufendes Verfahren gegen
       drei zur Tatzeit 15, 16 und 19 Jahre junge Männer aus Guinea und der
       Elfenbeinküste. Die Staatsanwaltschaft hatte sie wegen „terroristischen
       Handlungen“, „illegalem Freiheitsentzug“, „rechtswidriger Abschiebung ins
       Ausland“ sowie „Gewalt“ angeklagt.
       
       Sie waren mit 100 anderen Menschen von dem Öltanker „El Hiblu“ aus Seenot
       gerettet worden. Auf Anweisung Maltas wollte der Kapitän sie zurück nach
       Libyen bringen – was illegal gewesen wäre. Die drei hatten zwischen dem
       Kapitän und aufgebrachten Migrant:innen vermittelt.
       
       Neil Falzon vertritt die drei Männer seit fünf Jahren als Anwalt. Falzon
       ist Gründer und Direktor der aditus foundation, einer NGO in Malta, die
       Anfang September dafür den Menschenrechtspreis von Pro Asyl bekam.
       
       ## Klageschrift angefochten
       
       „Die drei können nicht verstehen, dass sie als Terroristen verfolgt werden,
       nachdem sie nur vermittelt hatten“, sagt er. Die drei hätten „ihr Leben
       noch vor sich gehabt – und nun sehen sie einem Leben im Gefängnis
       entgegen.“
       
       Einer der Angeklagten lebt mit Frau und Kind auf Malta. Das Ganze sei eine
       „Show, mit der die Regierung Maltas den anderen EU-Staaten beweisen will,
       dass sie ein guter Wärter der südlichen EU-Grenze ist“, sagt Falzon.
       Deshalb – „und natürlich um andere Menschen abzuschrecken“ halte die Justiz
       an den Tatvorwürfen fest.
       
       „Wir haben die Klageschrift der Staatsanwaltschaft angefochten“, sagt
       Falzon – unter anderem, weil maltesische Gerichte auf hoher See nicht
       zuständig seien. Doch das Gericht wies den Widerspruch zurück, ein
       Berufungstermin ist anhängig. Falzon rechnet für November mit dem Beginn
       einer Hauptverhandlung.
       
       Er selbst sei von der Regierung Maltas bisher nicht behindert worden. Aber
       wir „müssen uns auf sehr harte Zeiten einstellen, die nicht nur den
       Flüchtlingen schaden werden, sondern auch unseren Organisationen“, sagt er.
       
       Dass Flüchtlinge, Migrant:innen und Helfer:innen vor Gericht landen,
       ist EU-weit ein Trend, auf den Menschenrechtsorganisationen seit Jahren
       hinweisen. Immer mehr EU-Staaten ahnden die Beihilfe zur illegalen Einreise
       auch dann als Schlepperei, wenn kein Geld fließt – Fachleute sprechen von
       Solidarity Crimes.
       
       ## Hoffnung nach einigen Gerichtsentscheiden
       
       Zuletzt hatten einige Gerichtsentscheide Hoffnung gemacht. In Italien und
       Griechenland waren Verfahren – etwa gegen [4][Überlebende der
       Schiffskatastrophe von Pylos], Seenotretter aus [5][Lesbos] oder [6][die
       Besatzung des Rettungsschiffs „Iuventa“ – überraschend eingestellt] worden.
       „Das hat uns natürlich Hoffnung gegeben“, sagt Falzon. Doch bei den noch
       laufenden Verfahren sei weiter alles offen.
       
       Ende August veröffentlichten 15 NGOs, darunter Amnesty International und
       Ärzte ohne Grenzen, [7][einen Appell an die Bundesregierung], um dem ein
       Ende zu setzen. Seit 2023 arbeitet die EU an einer neuen Richtlinie, die
       die Strafbarkeit der Beihilfe zur illegalen Einreise neu regeln soll.
       
       „Um Schutzsuchenden und Menschenrechtsverteidiger*innen endlich
       Rechtssicherheit zu garantieren, muss jedoch dringend nachgebessert
       werden“, heißt es in dem Appell der NGOs über den vorliegenden Entwurf. Sie
       fürchten, dass sonst auch in Zukunft Unterstützer als Schlepper vor Gericht
       landen können.
       
       18 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kontrollen-an-deutschen-Aussengrenzen/!6032949
   DIR [2] /Warnrufe-aus-der-Zivilgesellschaft/!6021313
   DIR [3] /Medico-zu-Entwicklungspolitik/!5047935
   DIR [4] /Prozess-zu-Schiffsunglueck/!6011332
   DIR [5] /Lesbos/!t5248797
   DIR [6] /Illegalisierte-Seenotrettung/!6003040
   DIR [7] https://www.amnesty.de/pressemitteilung/deutschland-asylrecht-fluechtlingsschutz-appell-27-organisationen-bundesregierung
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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