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       # taz.de -- Künstlerischer Gentransfer: Zwischen K-Pop und Punk
       
       > Die interdisziplinäre Künstlerin Mizi Lee macht Musik mit ihrer Punk-Band
       > Horizontaler Gentransfer. Und sie stellt im Kunstraum Bethanien aus.
       
   IMG Bild: Horizontaler Gentransfer (von links nach rechts: Mizi Lee, Jerry Ahn, Hanseo Oh, Yun Park, Seonha Park, Lilian Gonzalez)
       
       Mit dem Kopf durch die Butterbreze. Nein, das ist keine neuartige
       Redewendung, sondern eine realitätsgetreue Beschreibung des Eingangs zur
       Ausstellung von Mizi Lee im Kunstraum Bethanien. Dort stellen die 15
       Stipendiatinnen des Goldrausch Programms für die Förderung von
       Künstlerinnen ihre Werke aus. Zur [1][Ausstellung mit dem Titel „I only
       work with lost and found]“ hat Mizi Lee eine raumfüllende Assemblage
       beigetragen.
       
       Den Türrahmen ziert ein Vorhang aus kleinen glänzenden Perlen, die sich
       mosaikartig zum Motiv einer Butterbreze zusammenfügen. Beim
       Hindurchschreiten gleiten einzelne Perlenstränge über die Stirn und nehmen
       hinter Besucher_innen mit einem leisen Klirren wieder Gebäckform an. Der
       Raum ist klein, aber so voll mit Artefakten, flimmernden Bildschirmen und
       unterschiedliche Texturen, dass eine Stunde kaum reicht, alles aufzunehmen.
       
       ## Künstlerischer Gentransfer
       
       Mizi Lee ist interdisziplinäre Künstlerin und Musikerin aus Südkorea. Heute
       lebt sie in Stuttgart, wo sie an der Kunstakademie studierte und die
       Punk-Band Horizontaler Gentransfer gründete. Gemeinsam mit Jerry Ahn,
       Seonha Park, Yun Park, Lilian Gonzalez und Hanseo Oh macht sie Musik, die
       herkömmlichen Punk um popkulturelle Referenzen und K-Pop Klänge erweitert.
       
       Benannt ist die Gruppe nach einem biologischen Prozess. Allen, die nicht
       gerade Biologie studiert haben, hilft Chat-GPT auf die Sprünge:
       „Horizontaler Gentransfer (HGT) ist der Prozess, bei dem genetisches
       Material zwischen Organismen übertragen wird, die nicht in einer
       Eltern-Nachkommen-Beziehung stehen.“ Für die Band bedeutet das ein
       Verschmelzen der Grenzen der unterschiedlichen Disziplinen und Einflüsse
       der einzelnen Mitglieder. Es findet also eine Art künstlerischer
       Gentransfer statt. Dieser liegt der Ausstellung und dem 2023
       veröffentlichten Debütalbum „Ereignishorizont“ zugrunde.
       
       Zwar erhielt Mizi Lee das Stipendium, aber im Interview mit der taz wird
       klar: Mizi Lee arbeitet nicht allein, der Horizontale Gentransfer gehört
       dazu. „Für uns ist Kunst etwas Kollektives“, sagt auch Seonha Park und
       blickt in die Runde. Mizi, Yun, Lilian, Jerry und Hanseo nicken.
       
       ## Mit Humor und Punk-Attitüde
       
       Seit über zehn Jahren studiert Mizi Lee Kunst. Der Kunstakademie ging ein
       Bachelor in Bildender Kunst in Seoul voran. Inzwischen hinterfragt sie die
       elitären Strukturen des Kunstbetriebs. „Was ist das? Diese Kunstszene,
       dieser Ausstellungsscheiß? Es ist so steif. Immer eine Rede, immer Sekt.
       Darauf habe ich keinen Bock. Unsere Ausstellung ist punkig und locker. Wir
       wollen Spaß mit der Kunst haben.“
       
       Dass Spaß und Punk-Philosophie großgeschrieben werden, zeigt sich auch bei
       den Auftritten von Horizontaler Gentransfer. Dabei kann es ganz schön
       krachen. In bunten Kostümen (gestaltet von Hanseo Oh) stehen Mizi Lee und
       Band auf der Bühne und besingen zu jaulenden Gitarren das Meckern der
       Deutschen, Bahnfahren, Bürokratie, zu hohe Semestergebühren und
       Bahnhof-Brezen für einen Euro und achtzig Cent.
       
       In eingängige Songtexte gehüllt und mit Humor serviert, sprechen
       Horizontaler Gentransfer gesellschaftliche Probleme wie antiasiatischen
       Rassismus, Diskriminierung und Kolonialismus an. Der Song „Ching Chang
       Chong“ zum Beispiel schreit die rassistische Beleidigung gegen asiatisch
       gelesene Personen zurück ins Publikum. Dieses reagiert beim
       Eröffnungskonzert im Bethanien eher zögerlich, als Mizi Lee zum Mitsingen
       auffordert.
       
       Für die Band ist Humor ein Weg, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und sich
       gegen Diskriminierung zur Wehr zu setzen. Humor als Werkzeug des
       Empowerments und etwas, das die sechs Bandmitglieder gemeinsam haben, wie
       sich bei ihrem Herumalbern während des Interviews zeigt. „Humor ist so
       wichtig. In der Kunst und im Leben. Er macht schwere Situationen leichter.
       Wenn über harte oder ernste Themen gesprochen wird, zeigen Leute oft mehr
       Verständnis, wenn es auf eine humorvolle Art und Weise geschieht“,
       kommentieren die Mitglieder von Horizontaler Gentransfer.
       
       ## K-Pop und Butterbrezeln
       
       Auf ihrem Album inszenieren sie sich ironisch als „Moderatoren des
       Musikamts“. In kurzen Interludes interviewen sie sich gegenseitig,
       besprechen die Inhalte der Texte und musikalische Referenzen. „Musikamt“
       ist dabei eine Anspielung auf deutsche Bürokratie und ihre strikten Regeln.
       In gespielten Interviews erzählt die Band, dass „Butter (Brezel)“ von der
       weltberühmten [2][K-Pop Boygroup BTS] inspiriert ist. Weitere musikalische
       Referenzen sind die [3][K-Pop Gruppen Blackpink] und aespa.
       
       Neben dem Kunststudium in Stuttgart verbindet die Band nämlich die Liebe
       zum K-Pop. „Als Schülerin wollte ich cool sein und habe absichtlich keinen
       K-Pop gehört. Stattdessen habe ich Umberto Ecos Bücher gelesen – als ob ich
       die mit 14 verstanden hätte“, grinst die 1990 geborene Lee. „Erst in der
       Pandemie habe ich mich richtig mit K-Pop und seiner Bedeutung beschäftigt.“
       Und das hat sowohl die Kunst als auch die Musik beeinflusst.
       
       Inzwischen ist Mizi Lee tief in die K-Pop Materie eingetaucht. Sie hat
       dabei beobachtet, wie sich die Themen der K-Pop Bands verändert haben. Vor
       allem BTS habe einen Umschwung mit sich gebracht. Die wahrscheinlich
       bekannteste K-Pop Band hat eine weltweite Fangemeinde und ihre Songs werden
       mehrere Millionen Mal gestreamt. „Früher ging es meistens um Sex oder
       Liebesbeziehungen. Jetzt geht es mehr um Themen wie Selbstliebe und
       Weltfrieden“, so Mizi Lee. „K-Pop ist auch etwas Besonderes für Personen
       aus asiatischen Ländern. Zu sehen, wie Personen, die wie wir aussehen, zu
       internationalen Superstars mit so einer großen Reichweite werden, ist
       ermutigend.“
       
       ## Die Geschichte des koreanischen Schlagers
       
       Auf ihrem 2025 erwarteten Album „Everything PossiBBong“ erweitern
       Horizontaler Geldtransfer ihr musikalisches Repertoire um einen Abstecher
       in die Welt der Schlager – neben Butterbrezel und Bier wohl eines der
       zentralen deutschen Kulturgüter. „Deutscher Schlager ist dem japanischen
       und koreanischen Schlager sehr ähnlich“, sagt Mizi Lee. „Da gibt es einen
       interessanten historischen Zusammenhang. Wir haben herausgefunden, dass ein
       deutscher Komponist während des Zweiten Weltkriegs Militärmusik für Japan
       komponiert hat. Diese wurde dann, durch die japanische Besetzung, nach
       Korea gebracht und hat die lokale Musikszene beeinflusst.“
       
       Die traditionelle koreanische Musikrichtung wird auch Trot, Ppongjjak oder
       umgangssprachlich Bbong genannt. Für Mizi Lee ist das eine schmerzhafte
       Verbindung. „Wir lernen viel darüber, wie wir unter japanischer Herrschaft
       und im Krieg vernichtet wurden. Das hat die gesamte koreanische Kultur
       geprägt. Ich selbst trage viel des Traumas in mir, obwohl ich den Krieg
       nicht selbst erlebt habe. Die Selbstliebe, die K-Pop-Songs jetzt in den
       Vordergrund rücken, ist für mich eine Art der Heilung dieses Traumas“, sagt
       sie.
       
       Obwohl viele Augen auf Koreas K-Pop-Szene gerichtet sind, wird selten auf
       die Geschichte der Kultur des Landes geblickt. Horizontaler Gentransfer
       nutzen ihre Arbeiten, um das zu ändern. So ist auch ihre Musik in
       politische und soziohistorische Kontexte gebettet.
       
       In Berlin performten sie auf der Gedenkfeier an die sogenannten Trostfrauen
       – koreanische Frauen und Mädchen, die unter japanischer Besatzung
       sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Es ist auch ein Kampf um den Erhalt
       der Erinnerung, denn erst im [4][Mai 2024 forderte der Berliner
       Bürgermeister Kai Wegner die Entfernung der den „Trostfrauen“ gewidmeten
       Friedensstatue in Moabit]. Gegen das Vergessen organisierten Horizontaler
       Gentransfer auch in Stuttgart eine Performance.
       
       ## Nur eine Zelle des Gesamtkunstwerks
       
       Die Ausstellung im Kunstraum Bethanien ist nur ein kleiner Einblick in den
       Kosmos und die Themen von Horizontaler Geltransfer. Die Band und Mizi Lee
       schaffen mit ihrer Musik und Kunst ein multidisziplinäres Gesamtkunstwerk.
       Bedruckte Bandshirts, K-Pop-Sammelkarten und gehäkelte Kostüme hängen an
       der Wand. Daneben eine Videoinstallation des sich ständig drehenden
       Bandlogos.
       
       Die andere Wand wird von einem übergroßen Bild des DIY-Proberaums der Band
       geziert. Auf einem Röhrenfernseher laufen Textfetzen und auf einem
       Wühltisch stapeln sich Papierausschnitte von K-Pop-Bands und HGT-Sticker.
       Eine Rebellion gegen rigide Vorstellungen von Kunst. „Ich will
       grundsätzlich, dass den Leuten ein bisschen schwindelig wird“, lacht Mizi
       Lee. K-Punk eben.
       
       Die Ausstellung „I only work with lost and found – Goldrausch 2024“ ist
       noch bis zum 3. November im Kunstraum Bethanien zu sehen.
       
       21 Sep 2024
       
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