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       # taz.de -- Krieg in der Ukraine: Strom als Frage von Leben und Tod
       
       > Der 17-jährige Dima aus Sosniwka ist seit einer Gehirnblutung auf
       > Medizintechnik angewiesen. Stromausfälle gefährden sein Leben.
       
   IMG Bild: Hoffen, dass es nicht zum Äußersten kommt: Dima und sein Vater
       
       Sosniwka/Lwiw taz | „Dimotschka lächelt gerne. Aber heute ist ihm irgendwie
       nicht danach zumute“, sagt die 40-jährige Oksana Kit. Sie spricht mit
       ruhiger Stimme, die nicht annähernd die angespannte Stimmung wiedergibt, in
       der sich ihre Familie befindet, und das nicht erst seit gestern.
       
       Ihr Sohn Dima liegt auf einem Bett, umgeben von verschiedenen medizinischen
       Geräten. In der kleinen Wohnung in der Kleinstadt Sosniwka eine Autostunde
       vom westukrainischen Lwiw entfernt gibt es seit mehreren Stunden keinen
       Strom. Dank eines Konzentrators, der an einen großen Akkumulator
       angeschlossen ist, strömt jedoch weiterhin Sauerstoff in seine Lungen.
       
       „Es fällt ihm sehr schwer, allein zu atmen. Dimotschka kann einige Zeit
       ohne die Hilfe des Geräts auskommen, aber es kostet ihn viel Kraft“, sagt
       Oksana. Neben dem Bett, in einem Schrank, befindet sich ein Beatmungsgerät,
       das ebenfalls jederzeit gebraucht werden könnte.
       
       Seit fast 17 Jahren tun Oksana und Dimas Vater Mykhailo alles, um ihrem
       Sohn, der sich weder bewegen noch selbstständig sprechen kann, sein
       schweres Schicksal zu erleichtern. Im Laufe der Jahre haben sie sich darauf
       eingerichtet, sich ganz um ihrem Sohn kümmern zu können, und haben gelernt,
       mit den Folgen der katastrophalen Gehirnblutung umzugehen. Die Blutung
       hatte er einige Wochen nach seiner Geburt erlitten.
       
       ## Gefühl von Hilflosigkeit
       
       Aber manchmal ist da nur noch ein Gefühl von Hilflosigkeit – angesichts der
       Folgen fortdauernder und gezielter russischer Angriffe auf das
       Energiesystem der Ukraine. Diese haben in den vergangenen Monaten [1][die
       Hälfte der verbleibenden Kapazitäten des Landes zerstört].
       
       „Wir wollen gar nicht daran denken, was passiert, wenn es noch weniger
       Strom als jetzt geben wird. Wir hoffen, dass es gar nicht erst so weit
       kommt“, sagt Oksana.
       
       Nachdem als Folge russischer Angriffe auch in Sosniwka immer wieder der
       Strom ausgefallen war, kaufte Mykhailo schnell einige Akkumulatoren, einige
       lieh er sich auch aus. Jetzt kommt die Familie, auch wenn es einen halben
       Tag lang keinen Strom gibt, trotzdem zurecht.
       
       „Es heißt, dass es im Winter jeweils am Tag und abends nur vier Stunden
       Strom geben wird. Das Aufladen einer Batterie dauert aber schon mindestens
       acht Stunden“, erklärt Mykhailo.
       
       ## Keine Garantie
       
       Bereits jetzt sei es unmöglich, sich auf die Technik zu verlassen. Allein
       der Konzentrator sei zweimal ausgefallen, glücklicherweise aber schnell
       repariert worden. Aber es gebe keine Garantie dafür, dass das auch beim
       nächsten Mal so laufen werde, sagt Oksana. Und technische Geräte würden
       wegen der steigenden Nachfrage immer teurer.
       
       Manche Familien nutzen bei Stromausfällen laute Generatoren und geben große
       Summen für Treibstoff aus. Dimotschkas Eltern ziehen diese Option nicht in
       Betracht, da die Abgase des Generators auf dem Balkon in die Wohnung
       gelangen würden. Der Kühlschrank, in dem Oksana zuvor Essen für ihren Sohn
       aufbewahren konnte, hat sich aufgrund ständiger Stromausfälle und Hitze in
       einen „Nachttisch“ verwandelt.
       
       Im Winter funktioniert die Heizung in der Wohnung ohne Strom nicht und
       Dimotschka droht eine Lungenentzündung. „Es gibt immer so viele
       Kleinigkeiten zu beachten. Hier können wir wirklich alles tun, um ihm
       seinen Zustand erträglich zu machen“, erklärt Oksana und zeigt die Polster
       unter Dimas Füßen. Sie sollen den Druck des Bettes auf seinen
       bewegungsunfähigen Körper verringern.
       
       „Unter russischem Beschuss ist es viel schwieriger geworden, in Würde zu
       leben und zu sterben“, sagt Hania Poliak, Gründerin der kleinen
       polnisch-ukrainischen Wohltätigkeitsstiftung „Pallium (Lateinisch für
       „Mantel“; die Red.) für die Ukraine“. Seit mehreren Jahren hilft Poliak
       dabei, Dutzende unheilbar erkrankte ukrainische Kinder mit spezieller
       medizinischer Ausrüstung auszustatten. Selbst in Friedenszeiten [2][seien
       diese Kinder oft „unsichtbar“ und sehr verletzlich]. Der Krieg und die
       Stromausfälle hätten die Situation jedoch weiter verschlimmert.
       
       ## Totale Verzweiflung
       
       In den vergangenen Monaten hat Poliak zahlreiche Hilferufe erhalten, doch
       bisher konnte sie nur einige wenige Akkumulatoren für diese Familien
       besorgen. „Das ist eine Katastrophe. Ich bin total verzweifelt“, sagt sie.
       Poliak glaubt, dass für viele Familien eine Evakuierung ins Ausland die
       beste Option wäre.
       
       Aber nicht alle Betroffenen würden die Ukraine verlassen können. Manche
       Eltern hätten Angst, die Kontrolle über die Behandlung ihrer Kinder zu
       verlieren und Ärzte, die sie gut kennen, zurückzulassen. Und im Ausland
       könnten sie nicht einmal verstehen, was ihnen im Krankenhaus gesagt werde.
       
       „Betroffene Familien können nicht normal irgendwo in einem Hotel, an Orten
       fernab von medizinischer Versorgung, inmitten großer Menschenmengen leben“,
       sagt Poliak. Unter solchen Umständen habe die Stiftung nicht das moralische
       Recht, ihnen dazu zu raten, die Ukraine zu verlassen.
       
       Laut Wolodymir Omeltschenko, Energieexperte des Kyjiwer Rasumkow-Zentrums,
       könnte sich die Situation bei der Stromversorgung zum Herbst verbessern –
       wenn die Hitze nachlasse. „Aber selbst im besten Fall droht der Ukraine im
       Winter ein erheblicher Strommangel, der noch zunehmen könnte, da Russland
       weiter die Infrastruktur angreift“, warnt der Experte.
       
       ## Mit den Kräften am Ende
       
       „Wenn Russland nicht gestoppt wird – indem die ukrainische Luftverteidigung
       deutlich gestärkt und Kyjiw erlaubt wird, Militärflughäfen und andere
       militärische Ziele in Russland anzugreifen –, werden russische Truppen
       früher oder später unser Energiesystem zerstören“, betont Omeltschenko.
       
       Oksana hofft, dass es vorerst nicht zum Äußersten kommen wird und sie zu
       Hause bleiben können. Aber wer weiß schon, was kommt. Wenn sie das Gefühl
       hat, dass sie mit ihren Kräfte am Ende ist, legt sie sich neben ihren Sohn.
       „Er lächelt, trotz allem“, sagt sie. „Sein Beispiel hilft uns,
       durchzuhalten.“
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung
       
       19 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Rostyslav Averchuk
       
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