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       # taz.de -- Prozess nach neun Jahren: Pragmatik geht vor Gerechtigkeit
       
       > Obwohl der Einsatz, bei dem die Hamburger Polizei das „Kollektive
       > Zentrum“ (KoZe) stürmte, rechtswidrig war, einigen sich Streitparteien
       > vor Gericht.
       
   IMG Bild: Die Polizei stürmte das „Kollektive Zentrum“ im Jahr 2015 ohne Rechtsgrundlage
       
       Hamburg taz | Da, wo das Kollektive Zentrum (Koze) war, ist heute nichts
       mehr zu sehen von der ehemaligen Besetzung, der gemeinschaftlichen Nutzung,
       der Stadtaneignung von unten. Nachdem das Koze im Münzviertel, nahe des
       Hamburger Hauptbahnhofs, 2016 geräumt worden war, baute ein Investor ein
       Wohnhaus mit kleinen, teuren Apartments. Das Koze, das zwei Jahre lang in
       den Räumen einer ehemaligen Kita existiert hatte, ist seitdem Geschichte.
       
       Trotzdem beschäftigte sich das Hamburger Landgericht am Donnerstag wieder
       mit der Besetzung. Drei ehemalige Nutzer*innen des Zentrums mussten sich
       wegen Vorwürfen der Nötigung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte
       und in einem Fall wegen vorsätzlicher Körperverletzung verantworten. Eine
       andere Kammer hatte sie im Jahr 2019 freigesprochen. Doch die
       Staatsanwaltschaft wollte das nicht akzeptieren und war in Berufung
       gegangen.
       
       Das Geschehen, das neun Jahre zurückliegt, dreht sich um die von den
       Aktivist*innen [1][sogenannte „Hofinvasion“]. Am 27. Juli 2015 hatten
       morgens um fünf Uhr Bauarbeiter und zwei Hundertschaften der Polizei
       versucht, auf den Hof einer ehemaligen Gehörlosenschule im Münzviertel
       vorzudringen. Im unteren Teil des Gebäudes, mit Zugang zum Schulhof, hatten
       Aktivist*innen die Räume einer ehemaligen Kita gemietet. Offizieller
       Mieter war zwar der [2][Stadtteilverein Kunage], er überließ die Räume aber
       dem Koze.
       
       Die Liegenschaftsverwaltung der Stadt hatte damals angegeben, Asbest in dem
       Schulgebäude gefunden zu haben und rückte unangekündigt mit der Polizei
       samt Wasserwerfern und Räumpanzern an, um Baumaßnahmen zu ergreifen.
       Zugriff verschaffen wollten sich die Invasor*innen über das Schultor,
       das zu dem vom Koze genutzten Teil des Hofes gehörte.
       
       ## Es gab keine abzuwehrende Gefahr
       
       Die Angeklagten stemmten sich mit ihren Körpern gegen das Tor – das brachte
       ihnen den Vorwurf des Widerstands und der Nötigung ein. Eine von ihnen
       sollte einem Polizisten danach in die Kniekehle getreten haben. Beweise
       dafür oder Hinweise darauf brachte die Polizei in der ersten Instanz aber
       nicht vor.
       
       Zudem sei der ganze Polizeieinsatz rechtswidrig gewesen, hatte der Richter
       damals geurteilt. Einen Räumungstitel hatte es nicht gegeben, der kam erst
       ein Jahr später. Das Hausrecht lag also bei den Aktivist*innen. Auch habe
       die Polizei nicht aus Gefahrenabwehr präventiv gehandelt, denn eine
       gefährliche, unübersichtliche Situation habe es nicht gegeben.
       
       Die Staatsanwaltschaft sieht das naturgemäß anders. „Die Polizei hat
       präventiv gehandelt, um eine Störung der öffentlichen Sicherheit und
       Ordnung zu verhindern“, argumentierte die Staatsanwältin am Donnerstag.
       
       Die Richterin hingegen machte gleich zu Beginn des Verhandlungstages
       deutlich, dass auch sie den Einsatz für rechtswidrig hält. „Die
       offensichtliche Rechtswidrigkeit zeigt sich daran, dass ein Polizeizeuge
       noch in der Hauptverhandlung der ersten Instanz davon ausging, dass ein
       Gericht die Räumung angeordnet hatte“, sagte sie.
       
       Doch wieso wurde der Einsatz überhaupt angeordnet, wenn es weder einen
       Räumungstitel noch eine Gefährdungslage gab? Der Einsatzleiter war damals
       kein geringerer als [3][Hartmut Dudde], der spätere G20-Einsatzleiter und
       Chef der Schutzpolizei – bekannt auch wegen mehrerer rechtswidriger
       Einsätze. „Dudde war sich der Problematik sicher bewusst“, sagte die
       Verteidigerin Britta Eder.
       
       Der Einsatzleiter hatte im Jahr 2004 den Bauwagenplatz „Wendebecken“ räumen
       lassen, ohne dass ein Räumungstitel vorgelegen hatte. Das Oberlandesgericht
       hatte daraufhin festgestellt, dass das Hausrecht noch bei den
       Wagenplatz-Nutzer*innen gelegen hatte und der Polizeieinsatz einer
       rechtlichen Grundlage entbehrte. Dudde machte danach noch fast 20 Jahre
       weiter bei der Hamburger Polizei Karriere.
       
       Am Donnerstag einigten sich die Verfahrensbeteiligten, nicht alle
       Ereignisse noch mal in mehreren Verhandlungstagen aufzudröseln. Die
       Angeklagten und die Staatsanwaltschaft stimmten stattdessen einer
       Einstellung zu, für die zwei Angeklagte je 200 Euro zahlen müssen, ein
       Angeklagter 100 Euro – allerdings nicht an die Staatskasse, sondern an
       [4][Women for Justice], einem Verein für die Rechte von Ezidinnen. Die
       Kosten für das Verfahren trägt der Staat.
       
       „Ich möchte betonen, dass das ein riesiges Entgegenkommen unserer
       Mandant*innen ist“, sagte die Verteidigerin Britta Eder zum Schluss. Die
       Entscheidung sei rein verfahrensökonomisch motiviert. Allerdings sei es
       absurd, dass der Staatskasse – also den Steuerzahler*innen – dadurch,
       dass das Berufungsverfahren überhaupt eröffnet wurde, Kosten entstanden
       seien, die den Betrag, den die Angeklagten zahlen müssen, vielfach
       überstiegen.
       
       Der Verteidiger Benjamin Tachau sagte: „Eigentlich müsste der Staat unseren
       Mandant*innen Entschädigung zahlen.“
       
       19 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Streit-im-Muenzviertel/!5215625
   DIR [2] /Stadt-Hamburg-kuendigt-Quartiersverein/!5286089
   DIR [3] /Hardliner-der-Polizei-geht-in-Pension/!5962488
   DIR [4] https://www.womenforjustice.net/de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Schipkowski
       
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