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       # taz.de -- Erzählungen von Mauricio Rosencof: Erinnerungen eines Guerilleros
       
       > „Das Schweigen meines Vaters“ ist bewegend. Der Ex-Widerstandskämpfer
       > Mauricio Rosencof rekonstruiert das Leben seiner Familie.
       
   IMG Bild: Mauricio Rosencof im Jahr 2010
       
       Verschwinde, geh, du weißt doch nichts,“ verscheucht Leon weinend den
       jüngeren Bruder Moishe. Tatsächlich hatte Mauricio die Tanten und Onkel in
       Bełżyce nie kennengelernt, aber auch die Pogrome in der alten Heimat nicht
       erlebt. Seit Langem waren aus Polen keine Briefe mehr von den Verwandten
       eingetroffen. Nun aber hatte Familie Rosencof Nachricht erhalten. Kaum
       einer von ihnen hatte die Shoah überlebt. „Es ist aus, aus und vorbei.“
       
       Isaac, ihr Vater, war als Schneider 1931 nach Südamerika ausgewandert.
       Einige Zeit später konnte er seine Frau Rosa mit dem Erstgeborenen aus
       Polen nachholen. Und so kommt Mauricio Rosencof 1933 in Uruguay zur Welt.
       
       In seinem jüngsten Erzählband „Das Schweigen meines Vaters“ nähert sich der
       Autor Mauricio Rosencof im Rückblick ein weiteres Mal dem Leben des Vaters.
       Die Erinnerungen an ihn verbinden sich mit dem Gedenken an die ermordeten
       Verwandten und Momenten der eigenen Biografie.
       
       Als ein führendes Mitglied des „Movimiento de Liberación Nacional –
       Tupamaros“, der uruguayischen Stadtguerilla, die ab Mitte der 1960er Jahre
       einen bewaffneten Kampf gegen Oligarchie und Imperialismus führte, wurde
       Mauricio Rosencof 1972 festgenommen. Nach dem Militärputsch 1973 in Uruguay
       wurden er sowie acht weitere Tupamaros zu sogenannten Geiseln des Staates.
       
       Als solche überlebten sie zwölf Jahre die Kerker der Militärdiktatur
       (1973–1985) in Isolationshaft. In einer Dreiergruppe ab 1973 an wechselnden
       Standorten festgehalten, kommunizierten Rosencof, „El Ñato“ und [1][José
       „Pepe“ Mujica, der 2010 Präsident des Landes werden sollte,] während dieser
       Zeit nur durch Klopfzeichen aus ihren Verliesen miteinander.
       
       ## Extreme Erfahrungen
       
       In dem Roman „Der Bataraz“ (1995) und gemeinsam mit „El Ñato“ Fernández
       Huidobro in „Kerkerjahre“ (2019) hat Rosencof diese extreme Erfahrung
       literarisch festgehalten.
       
       „Das Schweigen meines Vaters“ rekonstruiert in kurzen Miniaturen das
       frühere Leben und den Neuanfang der Familie in Uruguay, erst in Florida,
       später in Montevideo. Kurze Szenen handeln vom Zusammenleben in der
       Nachbarschaft oder beschreiben die Werkstatt des Vaters im Viertel Palermo.
       Gerne hört er beim Schneidern im Radio „Die polnisch-israelitische Stunde“
       mit Liedern von Jevel Katz. Zu Hause wird Unzer Fraint, die
       jiddisch-kommunistische Zeitung, gelesen.
       
       Aber über das Schicksal seiner Geschwister, über die Toten spricht der
       Vater zeitlebens nicht mit dem Sohn. Diese Leerstellen füllt Rosencof in
       seiner Erzählung mit den Auszügen jener Berichte, die Zofia Rozenkopf,
       Isaacs Nichte, 1994 der Shoa Foundation als Holocaust-Überlebende
       hinterließ.
       
       Damit setzt der uruguayische Autor seine vielschichtige Auseinandersetzung
       mit dem Schicksal seiner polnisch-jüdischen Familie fort, welche er in dem
       Roman „Die Briefe, die nicht ankamen“ (2004) begonnen hat.
       
       ## Schwere Misshandlungen
       
       Einfühlsam erinnert der inzwischen 91-jährige Schriftsteller an
       beschwerliche Zugreisen, die Isaac Rosencof in den Jahren der Diktatur quer
       durch das Land unternimmt, um für fünfzehn Minuten durch eine Glasscheibe
       getrennt den inhaftierten Sohn zu treffen, und den schwer Misshandelten
       dabei kaum zu erkennen vermag. Große Taschen mit Äpfeln, Orangen oder
       Kleidung werden für ihn jedes Mal sorgfältig gepackt, obwohl nichts davon
       jemals den Gefangenen erreichen wird.
       
       Am Zielbahnhof auf einer dieser Reisen nähert sich dem Vater ein
       unbekannter Junge und nimmt ihm die schwere Markttasche ab. „Ich helfe
       Ihnen, Don Isá.“
       
       In solch beiläufig erzählten Momentaufnahmen setzt Mauricio Rosencof
       Zeichen der Menschlichkeit dem Terror entgegen. Ohne wortreiche Erklärungen
       fügen sich seine zahlreichen Erinnerungssplitter zu einer einzigen
       Erzählung und einem historischen Ganzen zusammen. Viele der
       gegenüberliegenden Buchseiten bleiben in dem umsichtig gestalteten Band
       unbedruckt und schaffen symbolisch Raum für das, was nur zwischen den
       Zeilen zu stehen scheint.
       
       ## Aufbruch nach Südamerika
       
       Eine im Buch und auf dem Cover abgebildete historische Aufnahme zeigt die
       Schneiderwerkstatt von Zofias Vater in Lublin, 1930. Darauf sind
       Familienangehörige und Freunde der Rosencofs bei der Arbeit zu sehen –
       unter ihnen im Vordergrund rechts auch der junge Isaac. Es muss kurz vor
       seinem Aufbruch nach Südamerika aufgenommen worden sein.
       
       „Dieses Foto hing von jeher in der Werkstatt meines Vaters. Als ich zum
       ersten Mal eine Wand sah, hing es schon da. Heute, fast ein Jahrhundert
       später, weiß ich, wovon ich damals nichts wusste.“
       
       7 Sep 2024
       
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