URI: 
       # taz.de -- 7. Oktober – ein Jahr danach: „Zukunft liegt in Gottes Hand“
       
       > Fast die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens ist auf der Flucht,
       > Zehntausende sind tot. Abu Amsha hofft auf Frieden und Wiederaufbau.
       
   IMG Bild: Seit Monaten auf der Flucht, Leben im Zelt: Abu Amsha im Gazastreifen im Oktober 2024
       
       Gaza/Beirut taz | Genau ein Jahr ist es nun her, dass Eid Moeen Eid Abu
       Amsha mit seiner Frau und seinem Sohn die gemeinsame Wohnung in Beit
       Hanoun, Nordgaza, verlässt. Sofort nachdem klar wird, was auf der anderen
       Seite des Checkpoints Erez, auf dessen palästinensischer Seite er lebt, vor
       sich geht. Sie beladen das Auto mit dem Nötigsten und fahren Richtung
       Süden. [1][Acht Mal, sagt er, seien sie insgesamt vertrieben worden.]
       
       Abu Amshas Geschichte ist eine von vielen. Vor dem Krieg lebten im
       Gazastreifen etwa 2,3 Millionen Menschen. Etwa 83 Prozent davon, ungefähr
       1,7 Millionen Menschen, sind innerhalb Gazas Vertriebene, nach Angaben des
       Internal Displacement Monitoring Center. Viele von ihnen mehrfach.
       
       Abu Amshas Irrweg durch Gaza geht so: von Beit Hanoun, ganz im Norden
       Gazas, in das Flüchtlingslager Jabaliyah. Dann weiter nach al-Nasser, einem
       Stadtteil der Metropole Gaza-Stadt. Von dort ziehen sie weiter in das
       Al-Shifa-Krankenhaus, ebenfalls in Gaza-Stadt. Von dort in das südlichere
       Khan Yunis, dann nach Rafah, ganz im Süden des Küstenstreifens, an der
       israelischen Grenze. Und schließlich von dort nach al-Mawasy, das heute als
       „humanitäre Zone“ bekannt ist. An Abu Amshas langer Flucht lassen sich die
       verschiedenen Phasen des Krieges in Gaza erkennen. Und wie das israelische
       Militär – und auch die Hamas – diesen führt.
       
       ## Ständige Flucht innerhalb des Gazastreifens
       
       Erkennen lässt sich das etwa am Camp Jabaliyah, die erste Station der
       langen Flucht von Abu Amsha. Der Begriff täuscht: Jabaliyah existiert seit
       1948. Die Menschen, die darin leben, sind in jenem Jahr aus ihren
       Heimatorten im heutigen israelischen Staatsgebiet geflohen. Hier stehen
       keine Zelte, sondern Häuserzeilen an engen Straßen, das kleine Gebiet ist
       extrem dicht besiedelt. Dort sei es nicht sicher gewesen, sagt Abu Amsha.
       Rund um den 22. Oktober, erzählt er, verlässt er mit seiner Familie das
       Camp.
       
       Er und seine Familie haben Glück: Am 31. Oktober fliegt das israelische
       Militär einen Luftangriff auf das Camp, er gilt nach israelischen Angaben
       einem für den 7. Oktober verantwortlichen Hamas-Anführer. Der Krater, den
       die Explosion hinterlässt, ist enorm: Der Guardian berichtet von einem
       Durchmesser von zwölf Metern. Wie viele Menschen sterben, lässt sich
       unabhängig nicht überprüfen.
       
       Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium des Gazastreifens
       spricht von über 190 Toten. Anfang November beginnt die Bodenoffensive des
       israelischen Militärs, Ende November ist das Gebiet umstellt. Als sich das
       Militär im Januar aus Jabaliya zurückzieht, berichten verschiedene Medien
       von der massiven Zerstörung, die die Offensive hinterlassen hat. Das
       israelische Militär gibt damals an, die Bataillone der Hamas zerstört zu
       haben.
       
       Im Mai 2024 – Abu Amsha ist mit seiner Familie in Rafah untergekommen –
       starten die Israelis erneut eine Offensive auf Jabaliya. Für die
       Zivilbevölkerung ist das eine Katastrophe: Wer in der Zwischenzeit
       zurückgekehrt ist, muss wieder flüchten. Es gibt keinen Ort, an dem die
       Menschen in Sicherheit sind. Stattdessen wartet man. Kommt eine
       Evakuierungsaufforderung des israelischen Militärs? Und wenn ja, wohin als
       Nächstes flüchten?
       
       ## Immer wieder von vorne beginnen
       
       Auch militärstrategisch betrachtet, sagt Seth Frantzman, könne er die Art,
       wie das Militär in Gaza Krieg führt, kaum nachvollziehen. Er schreibt unter
       anderem als Korrespondent für die israelische Zeitung Jerusalem Post. Auch
       nach rund einem Jahr, erklärt er im Frühsommer, habe Israel seine Ziele in
       Gaza – die Befreiung der Geiseln sowie die Hamas zu zerstören – nicht
       erreichen können. Stattdessen erlaube die Kriegsführung Israels der Hamas,
       sich immer wieder zu regruppieren. Auch an Orten, die bereits als von ihr
       befreit galten.
       
       Denn jedes Mal, wenn sich das israelische Militär zurückziehe, hinterlasse
       sie ein Machtvakuum. Und das fülle die Hamas schnell wieder. Mit jeder
       Evakuierungsaufforderung schicke Israel die Zivilbevölkerung wieder in die
       Hände der Hamas. Frantzman zieht den Vergleich mit der Schlacht um Mossul
       gegen den „Islamischen Staat“ 2014. Damals hätten das irakische Militär und
       seine Verbündeten Zivilistinnen und Zivilisten aus der Stadt evakuieren
       lassen – und sie somit hinter die kämpfenden Soldaten gebracht.
       
       Das sieht man auch an dem Weg, den Abu Amsha nimmt. Als er von Beit Hanoun
       nach Jabaliyah flüchtet, bewegt er sich in ein Gebiet, in dem Israel starke
       Strukturen der Hamas verortet. Frantzman sagt: Das erlaube der
       Terrorgruppe, ihre Kontrolle über die Bevölkerung und damit über die
       Verteilung von Hilfslieferungen zu behalten. Im Juli schreibt er in der
       Jerusalem Strategic Tribune: Die Strategie des israelischen Militärs ähnele
       in Gaza immer mehr der Strategie im Westjordanland: Die Kampagnen, die das
       israelische Militär dort immer wieder durchführt, sind für die
       Zivilbevölkerung eine Katastrophe.
       
       Auch in Gaza ist [2][die Zivilbevölkerung zwischen der harten Kriegsführung
       des israelischen Militärs und der anhaltenden Unnachgiebigkeit der Hamas
       gefangen]. Das zeigt sich etwa am Al-Shifa-Krankenhaus, Abu Amshas vierter
       Station auf seiner Flucht quer durch den Gazastreifen. Die israelische
       Bodenoffensive ist einer der Momente aus dem vergangenen Kriegsjahr, die im
       kollektiven Gedächtnis der Öffentlichkeit besonders haften geblieben sind:
       Als das israelische Militär seine Kampagne ankündigt, flieht Abu Amsha
       weiter. Und muss schon wieder von vorne beginnen: einen Wohnort suchen,
       Versorgung mit Strom, Essen, Wasser, Internet.
       
       ## Vorletzte Station Rafah
       
       In der Al-Shifa-Klinik, so das israelische Militär, befinde sich ein
       Kommandozentrum der Hamas – oder vielmehr darunter. Unter dem Krankenhaus
       ist ein Bunker. Israel hat ihn, so berichtet das konservativ-jüdische
       Medium Tablet Magazine, 1983 selbst gebaut. Unter dem Krankenhaus befindet
       sich außerdem ein Tunnel. Und wie die New York Times, basierend auf
       israelischen Geheimdienstpapieren, schreibt, nutze die Hamas das
       Krankenhaus, um Waffen darin zu lagern und den darunter gelegenen Tunnel
       mit Wasser, Strom und Luftzufuhr zu versorgen.
       
       Vom israelischen Militär heißt es: Man habe Hunderte Verdächtige
       festgenommen und über 200 Kämpfer getötet, darunter auch „Top-Kommandeure“
       der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad. Mit der
       Militärkampagne wird aus dem Krankenhaus eine Kampfzone. Die
       Gesundheitsversorgung in Gaza, sagt Abu Amsha, sei eine Katastrophe. Viele
       Kinder hätten Läuse, viele Menschen Hautkrankheiten. Auch in al-Mawasy, wo
       Abu Amsha heute lebt, erfolgt der Großteil der Versorgung der Menschen über
       Feldkliniken.
       
       Abu Amshas [3][vorletzte Fluchtstation ist Rafah], das lange als relativ
       sicherer Hafen gilt und in dem mindestens ein Krankenhaus noch relativ gut
       funktioniert. Mitte Mai – als Israel auch in Jabaliyah wieder mit seiner
       Militärkampagne beginnt – muss das Gebiet schließlich evakuiert werden.
       
       Andrew Fox, ehemaliger Major in der britischen Armee, nennt die Strategie
       einen Erfolg – trotz des hohen Preises, den die Zivilbevölkerung zahlt. Bei
       Tablet Magazine schreibt er: Die Taktik, Gebiete einzunehmen und zu halten
       und alternative Kontrollstrukturen aufzubauen, sei personalintensiv. Er
       gibt zu: Die Hamas zerstören, sie also vollkommen kampfunfähig zu setzen,
       sei nicht möglich. Sie zu besiegen, sei aber möglich, schreibt er.
       „Besiegen“ bedeute, die Kampfstärke der Organisation auf mindestens etwa
       die Hälfte zu reduzieren. Dafür müsse es die Möglichkeit der Hamas, Israel
       anzugreifen, zerstören.
       
       ## Hoffen auf den Wiederaufbau
       
       Eine langfristige Lösung, den Aufbau einer alternativen Regierung, etwa die
       Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde als kontrollierende Macht
       in das Gebiet, hält er für unrealistisch. Dass es einen solchen Plan bis
       heute nicht gibt, ist einer der Kritikpunkte, den etwa westliche Staaten,
       und auch Frantzman, an Israel richten. Von Anfang an, sagt er, habe es kein
       klares Kriegsziel gegeben.
       
       Abu Amshas Haus im Norden Gazas ist zerstört. Er hat seine Arbeit verloren.
       Essen, sagt er, bekomme seine Familie von den Charity-Küchen. In seinem
       Zelt in al-Mawasy träumt er davon, in einem Zelt neben seinem zerstörten
       Haus leben zu können. Doch zwischen al-Mawasy und Beit Hanoun liegt der
       Netzarim-Korridor, den die Israelis kontrollieren und der das Gebiet
       faktisch teilt. Seine Hoffnung liegt in dem, was bisher als Plan weltweit
       fehlt: „Meine Zukunft liegt in Gottes Hand. Ich hoffe, dass eine neue
       Regierung die Kontrolle über Gaza ergreifen und es wieder aufbauen wird.“
       
       Sami Zyara arbeitet als Journalist im Gazastreifen. Seit dem 7. Oktober hat
       er alles verloren. Er lebt in einem Zelt in Südgaza.
       
       Lisa Schneider ist Nahost-Redakteurin der taz und berichtet zurzeit aus
       Beirut im Libanon
       
       7 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Flucht-durch-den-Gazastreifen/!6006935
   DIR [2] /Palaestinenser-in-Israels-Gefaengnissen/!6021130
   DIR [3] /Krieg-im-Gazastreifen/!6007455
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sami Zyara
   DIR Lisa Schneider
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Gaza
   DIR Humanitäre Hilfe
   DIR Palästina
   DIR Benjamin Netanjahu
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR GNS
   DIR 7. Oktober 2023
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Zweistaatenlösung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR 7. Oktober – ein Jahr danach: (K)ein neues Leben
       
       Hamas-Kritiker Howidy verließ im Sommer 2023 Gaza. Er wollte den Nahen
       Osten hinter sich lassen, dann kam der 7. Oktober. Ein persönliches
       Protokoll.
       
   DIR Plädoyer im Nahost-Konflikt: Militärisch nicht lösbar
       
       Krieg ist für alle Beteiligten furchtbar und außerdem wenig zielführend.
       Frieden ist einzig mit Diplomatie machbar.
       
   DIR Historikerin über Nahost-Konflikt: „Israelis umarmen, Netanjahus in den Hintern treten“
       
       Israels Regierung hat längst die Unterstützung von großen Teilen der
       Bevölkerung verloren, sagt die Historikerin Fania Oz-Salzberger.
       
   DIR Pro-Palästina-Bewegung: Eine Entfremdungsgeschichte
       
       Akteure der propalästinensischen Bewegung bestreiten eine Radikalisierung.
       Stattdessen kritisieren sie die einseitige Rolle des Staates.
       
   DIR Aktivist über Frieden im Nahen Osten: „Will Herzl für Palästinenser sein“
       
       Ahmed Fouad Alkhatib ist Menschenrechtsaktivist. Hier spricht er über die
       Lage in Gaza und einen Weg zur Zweistaatenlösung.