# taz.de -- Rudolf Steiners Menschenbild: Dämonenkinder und Heuschreckenmenschen
> In der Waldorfpädagogik haben Kinder kein eigenständiges „Ich“. Manche
> seien sogar ganz verloren. Dieses Menschenbild erlebte auch unsere
> Kolumnistin.
IMG Bild: Dr. phil. Rudolph Steiner, um 1920
Ich dachte ja immer, die Waldorfpädagogik sei besonders menschenfreundlich
und moralisch überlegen – bis ich anfing, in der
Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe zu lesen.
Beispielsweise Mitschriften aus den Lehrerkonferenzen der ersten
Waldorfschule, die Bände 300a–c: Da ging es am 3. 7. 1923 um L., eine
Erstklässlerin, und [1][Dr. phil. Steiner meinte], da wär nicht mehr viel
zu machen. Dann erläuterte er dem Kollegium, dass Kinder geboren würden
„die keine Menschen sind, sondern Dämonen in Menschengestalt.“
L. sieht also aus wie ein Kind, ist aber keines. Und das käme seit den
1890er Jahren immer häufiger vor. Den „Dämonenkindern“ fehle laut Steiner
das „Ich“, weshalb sie sich nicht zu moralischen „Vollmenschen“ entwickeln
können, aber man könne „unter Umständen in den Gehirnautomatismen eine
Pseudomoral züchten“.
Ein gutes Jahr später schätzt Steiner in einem Vortrag, dass bereits ein
Drittel der Erwachsenen „geistig getötet wurden“. Diese ichlosen
„Heuschreckenmenschen“ müsse man „wie bleibende Kinder erziehen“.
## Während Schulzeit nie als vollwertiger Mensch gesehen
Das wiederum fußt auf seiner fixen Idee, dass selbst echte Menschenkinder
vor dem 21. Lebensjahr nicht über ein eigenständiges „Ich“ verfügen. Zwar
inkarniert das „Ich“ von einem Leben ins nächste, entwickelt sich aber erst
während des jeweiligen Erdenlebens: Das Kind erlangt mit etwa drei Jahren
das „Ich-Bewusstsein“, mit etwa 9,5 Jahren verändert sich der
„Ich-Begriff“, aber die „Ich-Geburt“ kommt erst um das 21. Lebensjahr.
Die Erkenntnis, dass ich während meiner ganzen Schulzeit nie als Mensch mit
eigenständigem „Ich“ gesehen wurde, war hart. Aber es fühlt sich schlüssig
an, weil es sich mit meinem Erleben als Waldorfkind deckt – vom
alltäglichen Umgang bis hin zum Lehrplan. Alles lief im Gleichmaß, und
ernst genommen wurde man von den „Vollmenschen“ eh nur vordergründig.
Ich weiß, sie meinten es gut, aber die anthroposophische „Erziehungskunst“
ist kein Prozess auf Augenhöhe. Sie waren diejenigen mit der künstlerischen
Vision – die [2][des in sich harmonischen Kindes] –, und ich war das
Material. Die Ohnmachtsgefühle bei scheinbarer Unterstützung meiner
Individualität waren riesig und verwirrend.
## Angst vor Popkultur
Zudem ist man offenbar nie sicher vor „dämonischen Gewalten“, die den
Körper anfüllen, „wenn sich die Seelen nicht dazu bequemen wollen“,
spirituelles Wissen aufzunehmen. Vor diesem Hintergrund erschließen sich
mir die vielen religiös-spirituellen Rituale und die tägliche
Moralerziehung mit Märchen, Fabeln, Bibelgeschichten besser.
Auch die Angst der Erziehungskünstler vor Fernsehen, Comics, Popmusik und
Co, die ich als Jugendliche wahrnahm, macht mehr Sinn – immerhin war unser
„eigenständiges Ich“ noch nicht geboren und wir daher besonders leicht
beeinflussbar.
Schule als Inkarnationshilfe zum gesunden und gegen dämonische
Widersachermächte wehrhaften „Vollmenschen“? [3][Dagegen ist so ein Abitur
doch echt banal].
Übrigens sind die drei Konferenzbände 2019 neu kommentiert aufgelegt
worden. Der Verlag verspricht: Diese einmaligen Dokumente „zeigen
vorbildlich, wie pädagogische Beratung verlaufen kann“. Die Stelle über die
„Dämonenkinder“ steht dort weiterhin unkommentiert drin. Ich frage mich
daher nun immer, wenn von anthroposophischer Seite die Rede von „Menschen“
oder „Kindern“ ist, wer damit gemeint ist – und wer nicht.
6 Oct 2024
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## AUTOREN
DIR Frau Lea
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