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       # taz.de -- Labour-Parteitag in Großbritannien: Regieren im Regen
       
       > Beim Jahresparteitag kriegt Großbritanniens neue Regierungspartei viel
       > Kritik ab. Aber noch ist für Labour nicht alles verloren.
       
   IMG Bild: Der britische Premier Keir Starmer beim Labour-Jahreskongress in Liverpool, im September 2024
       
       Liverpool taz | Der Liverpooler Konferenzkomplex in der alten Hafengegend
       platzt aus allen Nähten. Um die 20.000 Besucher:innen und Delegierten
       strömen seit Sonntag zum [1][Parteitag der regierenden britischen
       Labour-Partei], der am Mittwoch endet. Die Warteschlangen vor den
       Sicherheitskontrollen sind lang, die Luft im oberen Stockwerk ist stickig
       warm. Man muss früh kommen, um einen Platz zu finden.
       
       „Change begins“ hat sich Labour dieses Jahr, wenige Monate nach dem
       Wahlsieg, als Parteitagsmotto gegeben: Die Veränderung beginnt.
       
       Draußen stehen der Schotte Peter Robinson, 70, sowie Sally Heywood, 72, und
       John Barnes, 71, beide aus Nordwales, wortwörtlich im Regen. Labour lasse
       10 Millionen Rentner:innen in der Kälte stehen, steht auf dem Schild,
       das Robinson hochhält. Er bezieht sich auf die Entscheidung von
       Finanzministerin Rachel Reeves, die sogenannte „[2][Winter Fuel
       Allowance“,] eine Heizkostenbeihilfe für alle Rentner:innen, bis auf die
       Bedürftigsten unter ihnen abzuschaffen.
       
       Die drei im Regen sind Teil einer größeren Gruppe von etwa zwei Dutzend
       Personen älteren Jahrgangs, die gegen die Streichung protestieren. „Es gibt
       viele, die etwas über der Einkommmenschwelle stehen, unterhalb der
       Sozialhilfe beantrangt werden kann. Diese Menschen wird es am härtesten
       treffen. Wir gehören alle drei auch dazu“, sagt Robinson.
       
       ## Gewerkschaften gegen Parteiführung
       
       Auf dem Parteitag sorgt die Heizkostenbeihilfe für Streit. [3][Unite], eine
       der größten britischen Gewerkschaften, hat eine Abstimmung darüber
       beantragt. Die soll nun aber erst am Mittwoch stattfinden – wenn zahlreiche
       Delegierte vielleicht schon auf dem Heimweg sind. Statt die Beihilfe zu
       streichen, solle der Staat lieber Menschen, die mehr als vier Millionen
       Pfund (4,8 Mio Euro) besitzen, mit einer einprozentigen Reichensteuer
       belasten, erklären Gewerkschaftsvertreter am Unite-Infostand der taz.
       
       Für viel Kritik sorgt auch „Wardrobe Gate“. Premierminister Keir Starmer,
       seine Frau Victoria, die stellvertretende Parteiführerin Angela Rayner, die
       Finanzministerin Rachel Reeves und viele andere Minister haben sich
       Klamotten, Urlaubsunterkünfte, Fußballspiele, Musikkonzertkarten und andere
       Nettigkeiten im Wert von vielen tausend Pfund [4][spendieren lassen]. Die
       71-Jahre alte Eileen Flanagan aus Putney in London fasst zusammen, was die
       Basis dazu denkt: „Das ist, was die Tories 14 Jahre lang gemacht haben!“
       Sie hofft, dass Labour während des Parteitags ein bisschen mehr Positives
       zum Vorschein bringen lässt.
       
       Bei Neil Mallett aus Luton, nördlich von London, er trägt seine
       Lebensphilosophie auf einem roten T-Shirt mit dem Spruch „Kapitalismus sehr
       schlecht“, hat Labour unter Starmer keine bessere Karten. Der 70-Jährige
       ist seit seinem 18. Lebensjahr Parteigenosse. Heute, sagt er in der
       Warteschlange, gebe es nichts, was ihn in der Partei halte. „Sie hat sich
       vom demokratischen Sozialismus weg bewegt. Starmer hat dieses Jahr gegen
       die Tories mit weniger Stimmen gewonnen als Corbyn im Jahr 2019 hatte, als
       er gegen Boris Johnson verlor“, sagt er.
       
       Öffentlich sieht das alles glatter aus. Finanzministerin Rachel Reeves wird
       bei ihrer Rede am Montag zwar von zwei Klima-Aktivist:innen aus Protest
       gegen Waffenexporte an Israel unterbrochen, erhält jedoch größtenteils
       stehenden Applaus für den Rest ihrer Ansprache – ein erkennbares
       erleichtertes Lächeln kommt bei ihr erst am Ende auf. Labour müsse zwar
       harte Entscheidungen treffen, werde aber keine Rückkehr zur
       Austeritätspolitik zulassen, sagt sie und listet soziale Vorhaben auf:
       Frühstück für alle Grundschulkinder etwa. Aber das meiste wird sie erst am
       30. Oktober bei ihrer ersten Haushaltsrede im Parlament verkünden.
       
       Höhepunkt des Parteitags ist der Auftritt von Premierminister Keir Starmer
       am Dienstag nachmittag. Zum Auftakt muss er seine Partei erst mal daran
       erinnern, dass sie vor kurzem die Wahlen gewonnen hat. Kritik perle an ihm
       ab wie Wasser an einer Ente, sagt er. Der Wandel habe begonnen, aber es
       werde dauern und ein „schwerer Weg liegt vor uns“. Er mahnt: „Erst die
       Wirtschaft stabilisieren“. Wirklich mitgerissen sieht das Publikum nicht
       aus, es gibt mehr Stille als Applaus. Gejubelt wird erst, als Starmer sich
       klar gegen Rassismus und rechte Gewalt ausspricht.
       
       ## Man sieht auch Positives
       
       Echos der Hoffnung kommen auch aus zahlreichen Nebenveranstaltungen, aber
       nicht unbedingt im Sinne der Regierung. Laura Mofatt, Vorsitzende der
       Flüchtlingshilfsgruppe [5][Gatwick Detainees Welfare Group], welche
       Abschiebehäftlinge unterstützt, dass noch nie so viele Personen Hilfe
       angeboten hätten wie dieses Mal. Die Labour-Regierung hat eigentlich mehr
       Abschiebungen angekündigt.
       
       Der Labour-Abgeordnete [6][Peter Lamb], in dessen Wahlkreis das
       Abschiebezentrum Brook House am Flughafen Gatwick liegt, sagt der taz, er
       wisse noch nichts Konkretes über potenzielle Auslieferungen in neue
       Drittländer wie Albanien – das soll einer der Pläne von Premier Starmer
       sein.
       
       Der ehemalige Gemeinderat Tariq Khan aus Tower Hamlets in London sieht im
       Gespräch die neue Regierung positiv. So gäbe es Verbesserungen in der
       Außenpolitik, etwa im Nahostkonflikt die Forderung nach einer Waffenruhe,
       die Zweistaaten-Lösung und die Wiederaufnahme der Finanzierung von UNRWA.
       „Das ist mehr als ich erwartet habe und geht in die richtige Richtung.“
       
       Khan glaubt, dass Labour verlorenes Terrain zurückgewinnen kann – auch im
       stark muslimischen Tower Hamlets, das von Keir Starmer deutlich weniger
       begeistert ist als einst von Jeremy Corbyn. „Ich habe mich damals für
       Labour schwer eingesetzt, aber wir haben unter Corbyn nicht gewonnen“, sagt
       er. „Jetzt ist Labour an der Macht. Und darum geht es am Ende.“
       
       24 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://labour.org.uk/annual-conference/
   DIR [2] https://www.gov.uk/winter-fuel-payment
   DIR [3] https://www.unitetheunion.org/
   DIR [4] /Teure-Geschenke-an-Labour-Spitzen/!6037967
   DIR [5] https://www.gdwg.org.uk/
   DIR [6] https://peterlamb.org.uk/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
       
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