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       # taz.de -- Stimmungslage in Brandenburg: Rechtsruck im Aufschwungsland
       
       > Brandenburg ist das erfolgreichste Bundesland im Osten. Dennoch liegt die
       > AfD in Umfragen vor der Wahl vorne. Warum das so ist? Eine Spurensuche.
       
   IMG Bild: Hoffnung auf den Aufschwung: Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) besucht die Eröffnung des Tesla-Werks in 2022
       
       Schon lange vor der heißen Phase des Wahlkampfs versuchte Dietmar Woidke
       Zuversicht zu verbreiten. „Wir sind die attraktivste Wirtschaftsregion in
       ganz Deutschland“, [1][sagte Brandenburgs SPD-Ministerpräsident im Februar]
       und verwies auch auf den demografischen Aufwärtstrend. „Wir haben als
       Flächenland wieder so viele Einwohnerinnen und Einwohner wie 1990, das ist
       nicht selbstverständlich.“
       
       Brandenburg wächst. Brandenburg boomt. Tesla hat weitere Neuansiedlungen
       nach sich gezogen. In der Lausitz wird [2][der mit Milliarden geförderte
       Strukturwandel] langsam sichtbar. Warum liegt dann noch immer die AfD in
       den Umfragen für die Landtagswahl am 22. September vorne? Warum wird der
       Aufschwung in der Mark von den Wählerinnen und Wählern nicht honoriert.
       
       Eine richtige Antwort hat auch der 62-jährige Dietmar Woidke auf diese
       Frage nicht. „Warum es diese Unzufriedenheit gibt, ist für mich schwer zu
       fassen“, sagt er zehn Tage vor der Wahl. „Es enttäuscht und nervt mich,
       dass hier permanent versucht wird, den Menschen schlechte Laune zu machen.“
       
       ## Wachstum im Osten
       
       Im mit Türmchen verzierten Landratsamt in Beeskow hat Frank Steffen seinen
       Sitz. Nur knapp hatte der SPD-Politiker im Mai 2023 die Stichwahl gegen
       einen weitgehend unbekannten Bewerber der AfD gewonnen. Dabei ist [3][der
       Landkreis Oder-Spree im Osten Brandenburgs] Tesla-Kreis. „Tesla war für uns
       ein ganz wichtiger Impuls“, sagt Landrat Frank Steffen im Gespräch mit der
       taz und erzählt die Geschichte der jüngsten Einbürgerungsveranstaltung.
       „Von zehn Einzubürgernden arbeiteten fünf für Tesla.“
       
       Der 180.000 Einwohner zählende Landkreis und seine Kreisstadt Beeskow
       stehen gut da. Schon 2020 hat das Wirtschaftsforschungsinstitut [4][Prognos
       den Landkreis Oder-Spree in die Top Ten der deutschen Landkreise mit den
       besten Wachstumsaussichten bis 2030 befördert.] Nicht nur die Wirtschaft
       boomt zwischen Erkner und Eisenhüttenstadt, auch die Bevölkerung wächst.
       [5][2023 hatte LOS einen positiven Wanderungssaldo von 2.446 Personen].
       
       Sind wachsende Regionen immuner gegen Rechtspopulismus als schrumpfende,
       Herr Steffen? Der Landrat zögert, sagt dann, dass die AfD bei der Stichwahl
       zur Landratswahl in den berlinnahen Gemeinden schlechter abgeschnitten habe
       als weiter im Osten. „Dort sind die Leute eher bereit, populistischen
       Parteien ihre Stimme zu geben, weil sie das Gefühl haben, dass sie nicht so
       im Blick sind oder manchmal vergessen werden“, sagt Steffen.
       
       Der SPD-Politiker setzt deshalb verstärkt auf eine Bürgerbeteiligung, die
       zu konkreten Ergebnissen führe. „Wir machen das jetzt beim Fahrplan für die
       [6][Busverkehrsgesellschaft], wo wir rausgehen und mit Schülerinnen und
       Schülern ganz konkrete Probleme besprechen“, sagt er. „Warum fährt der Bus
       nicht drei Minuten früher, damit ich den Regionalexpress erreiche?“
       
       Frank Steffen weiß aber auch, dass frischer Wind guttut: „Es braucht
       Impulse, also Leute, die moderne Themen hineintragen, aus einem anderen
       Umfeld kommen und auch mal eine Dorfgemeinschaft im positiven Sinne
       aufbrechen. Warum soll man die Dinge nicht auch anders machen?“, fragt er.
       Solche Impulsgeber können Berlinerinnen und Berliner sein, die aufs Land
       ziehen. „Aber auch Rückkehrer sind wichtig.“
       
       ## Gründe für den Rechtsruck
       
       Wird die AfD bei den Landtagswahlen am 22. September in Brandenburg weniger
       erfolgreich sein als in Sachsen oder Thüringen? [7][Folgt man der
       Sozialwissenschaftlerin Katja Salomo vom Wissenschaftszentrum Berlin],
       müsste die Antwort Ja lauten. Demokratieskeptische und fremdenfeindliche
       Einstellungen, hat sie herausgefunden, sind nicht nur in wirtschaftlich
       abgehängten Regionen besonders häufig anzutreffen, sondern auch in solchen
       mit einer „prekären demografischen Entwicklung“.
       
       „Menschen in Regionen, die geprägt sind von hoher Abwanderung und einer
       starken Alterung“, sagt Salomo, „fühlen sich benachteiligt und haben Angst,
       auf die Verliererseite des Lebens zu geraten – unabhängig von der konkreten
       wirtschaftlichen Lage.“ Nicht nur eine gefühlte Abwärtsspirale sei das,
       sondern auch eine ganze reale. „Bevölkerungsschwund senkt die Kaufkraft vor
       Ort, Angebote für Einkauf und Freizeit verschwinden, Infrastruktur und
       Verkehrsanbindungen zu größeren Zentren dünnen sich aus.“
       
       Tatsächlich hat Brandenburg weniger mit Abwanderung zu kämpfen als Sachsen
       oder Thüringen. Seit 2015 wurde in den meisten der 14 Landkreise und vier
       kreisfreien Städte die negative Bevölkerungsentwicklung gestoppt,
       Brandenburg wächst seitdem. Der Landkreis Dahme-Spreewald könnte
       Bevölkerungsprognosen zufolge bis 2030 sogar an der Spitze der deutschen
       Landkreise stehen. Zwar haben Sachsen und Thüringen mehr Großstädte, aber
       Brandenburg hat Berlin.
       
       Anders sieht es im Süden des Landes aus. In den an Sachsen grenzenden
       Landkreisen Spree-Neiße, Oberspreewald-Lausitz und Elbe-Elster wird die
       Bevölkerung noch zurückgehen. Wachstum gibt es dort nur beim
       Wohnungsleerstand. Im Kreis Spree-Neiße, der rund um die Boomtown Cottbus
       liegt, beträgt er bei kommunalen Wohnungsunternehmen 20,1 Prozent.
       
       ## Die Währung der Demokratie
       
       Auch [8][Welzow] verzeichnet seit zwei Jahren wieder einen leichten
       Bevölkerungsrückgang. 3.250 Menschen leben in der kleinen Stadt am Rande
       des noch aktiven Tagebaus Welzow-Süd im Kreis Spree-Neiße. Für die bereits
       stillgelegten Flächen hat die Stadt vor Jahren ein Beteiligungsverfahren
       gestartet. Eine [9][„Neue Landschaft Welzow“] soll entstehen. „Doch der
       Elan ist längst verpufft“, hat Bürgermeisterin Birgit Zuchold beobachtet.
       „Wir wissen auch noch gar nicht, ob wir das als Stadt überhaupt betreiben
       können.“
       
       Welzow ist klamm. Von den Milliarden, die nach Cottbus fließen, kommt nur
       wenig im ländlichen Raum an. Eine Zukunft nach der Kohle zu schaffen, muss
       die Stadt nahezu alleine stemmen, zum Beispiel eine Genossenschaft
       unterstützen, die Wohnraum für Zuzügler schaffen will. „Einen
       Bürgerhaushalt kann sich die Stadt nicht leisten“, sagt Zuchold. Zu viel
       Verwaltungsaufwand. Also fragt die Bürgermeisterin selbst bei den
       Welzowerinnen und Welzowern, was sie sich wünschen. Vertrauen in die
       Politik ist die Währung der Demokratie.
       
       Und wenn die Mehrheit der Brandenburger am Sonntag die AfD wählt, Frau
       Zuchold? „Wenn die Menschen eine Partei wählen, die nicht für etwas,
       sondern nur gegen alles ist“, überlegt Birgit Zuchold, „muss man den
       Wählerwillen dann nicht ernst nehmen?“ Warum soll sich eine
       Minderheitsregierung der AfD nicht Mehrheiten suchen müssen? Zeigen, ob sie
       überhaupt in der Lage ist, die politischen Aufgaben zu lösen? „Und wenn
       nicht, dann muss es Neuwahlen geben.“
       
       Andrea Wieloch sitzt im Garten des [10][Museums Utopie und Alltag] und
       nippt am Kaffee. Auch Eisenhüttenstadt hat mit dem Strukturwandel zu
       kämpfen. Weil es aber vom Stahl lebt und nicht von der Kohle, gibt es dafür
       keine Mittel vom Bund oder vom Land.
       
       Seit zwei Jahren leitet Wieloch das Museum. Zuvor hat die
       Medienwissenschaftlerin am Brandenburg Museum in Potsdam die
       [11][Ausstellung „Morgen in Brandenburg“] kuratiert. 30 Zukunftsprojekte
       hat die Schau gezeigt, von der Akademie der Dorfhelden in Trebnitz im
       Landkreis Märkisch-Oderland bis zur Villa Marx in Herzberg in Elbe-Elster,
       wo ein „Ort der Partizipation und Begegnung“ entstehen soll.
       
       Andrea Wieloch stammt aus der Nähe von Görlitz und fragt sich schon
       deshalb, was den Unterschied zwischen Sachsen und Brandenburg ausmacht.
       „Anders als Sachsen“, sagt sie dann, „hat Brandenburg das Thema
       Rechtsextremismus in der Vergangenheit nicht verharmlost.“ Die Polizei habe
       Nazikonzerte aufgelöst, das Bündnis Tolerantes Brandenburg wichtige
       Aufklärungsarbeit und Vernetzung geleistet.
       
       Ein gutes Drittel der Zukunftsprojekte, die Wieloch gezeigt hat, war im
       Berliner Speckgürtel beheimatet. Für Wieloch ist das nicht unbedingt ein
       Makel, sondern eher das Abbild eines Flächenlandes, in dem 40 Prozent der
       Menschen am Berliner Stadtrand leben. „Der Unterschied zu Sachsen und
       Thüringen“, sagt sie, „liegt unter anderem in den Austauschbeziehungen
       zwischen der wachsenden Metropolregion und dem ländlichen Raum.“
       
       Berlin, das ist nicht nur ein Magnet, der junge Leute aus der Prignitz, der
       Uckermark oder der Lausitz anlockt. Berlin versorgt umgekehrt auch
       Brandenburg mit neuen Ideen. „Wichtig ist, dass es einen Austausch ganz
       verschiedener Menschen und Ansichten gibt“, sagt Wieloch. „Dass es Leute
       gibt, die sagen, dieses und jenes könnte man auch mal anders machen.“
       
       Zuwanderung ist also ein entscheidender Faktor für Brandenburg, auch die
       aus dem Ausland. Die allerdings ist kein Selbstläufer, das weiß nicht nur
       Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, wenn er über den
       Strukturwandel in der Lausitz spricht und die Willkommenskultur, die es
       brauche, damit die Fachkräfte aus Deutschland und dem Ausland auch kommen.
       
       Auch Landrat Frank Steffen weiß um das Thema. „Die zunehmend ablehnende
       Haltung Fremden gegenüber ist sehr gefährlich“, sagt er. „Jemand, der aus
       dem Ausland kommt und Arbeit sucht, guckt genau, wie das Mikroklima vor Ort
       ist. Bin ich da willkommen? Werde ich da womöglich schräg angeguckt.“
       
       21 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.inforadio.de/rubriken/interviews/2024/02/27/brandenburg-wirtschaft-boomt-woidke.html
   DIR [2] https://wirtschaftsregion-lausitz.de/
   DIR [3] https://www.landkreis-oder-spree.de/
   DIR [4] https://www.wfg-lds.de/fileadmin/user_upload/bilder/aktuelles/news/2020/Dokumente/2020-11-20-factsheet-deutschland-nach-corona-prognos.pdf
   DIR [5] https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/a-i-4-a-v-2-j
   DIR [6] https://www.bos-fw.de/
   DIR [7] https://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/its-the-demography-stupid-3858/
   DIR [8] https://www.welzow.de/index.php/start.html
   DIR [9] https://neuelandschaft-welzow.de/
   DIR [10] https://www.utopieundalltag.de/
   DIR [11] /Ausstellung-Morgen-in-Brandenburg/!5833257
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
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