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       # taz.de -- Film „Treasure“ über Erinnerungspolitik: Die Eltern haben dazu geschwiegen
       
       > Der Spielfilm „Treasure“ von Julia von Heinz entfaltet eine
       > Post-Schoah-Familiengeschichte im Jahr 1991. Die Idee des
       > „Schlussstrichs“ liegt ihm fern.
       
   IMG Bild: Tochter und Vater: Ruth (Lena Dunham) und Edek (Stephen Fry) in „Treasure“
       
       Die Erinnerung an die Schoah ist kein dankbares Filmthema. Der Holocaust im
       Film, das ist längst ein eigenes Genre, in dem sich jede neue Bearbeitung
       vor einer Reihe von teils gewichtigen Vorgängern rechtfertigen muss. Dazu
       droht mit dem Verschwinden der letzten Überlebenden, das historische
       Ereignis zur Abstraktion zu werden.
       
       Was bleibt, ist die Frage des Erbes und der Nachfahren. Doch jetzt steht
       auch die deutsche Erinnerungskultur unter Druck. Den einen ist sie zu
       formalisiert, andere beklagen mit Blick auf den Nahostkonflikt die falschen
       Schlüsse aus der Vergangenheit. Das Thema ist ohnehin schon voller
       Fallstricke und wird gegenwärtig noch von den Israel-Debatten überlagert.
       
       Die deutsche Filmemacherin [1][Julia von Heinz] konnte von diesen
       Auseinandersetzungen noch nichts wissen, als sie mit den Arbeiten zu
       „Treasure“ begann. Seit den ersten Überlegungen, den Roman „Too Many Men“
       der australischen Schriftstellerin Lily Brett zu verfilmen, und der jetzt
       präsentierten Arbeit ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen.
       
       ## Intergenerationelles Drama über die Schoah
       
       Auf dem Weg waren einige Hindernisse zu überwinden, doch das Ergebnis ist,
       vor allem angesichts der Risiken des Sujets, sehenswert. Das liegt auch
       daran, dass die Regisseurin mit dem intergenerationellen Drama einen
       geeigneten Stoff gewählt hat, um das Thema Schoah auch in der Gegenwart
       angemessen umzusetzen.
       
       Der Film erzählt von der gemeinsamen Reise einer New Yorkerin mit ihrem
       Vater nach Polen. Ruth (Lena Dunham) will endlich der jüdischen
       Familiengeschichte auf den Grund gehen, von der sie nur so viel weiß, dass
       ihr Vater Edek (Stephen Fry) gemeinsam mit der jüngst verstorbenen Mutter
       das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hat. Zu allem Weiteren haben die
       Eltern geschwiegen, weshalb Ruth nun kurz nach dem Fall des Eisernen
       Vorhangs mit ihrem Vater die Stätten der Vergangenheit besuchen will.
       
       Die hatte dieser jedoch mühsam hinter sich gelassen, weshalb er das Projekt
       seiner Tochter immer wieder zu durchkreuzen versucht. Er möchte lieber das
       Chopin-Museum in Warschau sehen als das Elternhaus in Lodz. Auf dieser
       Basis entfaltet sich eine Post-Schoah-Familiengeschichte, 1991 in Polen
       angesiedelt, die vollkommen ohne Deutsche erzählt wird.
       
       ## Schwieriges polnisch-jüdisches Verhältnis
       
       Diese Abwesenheit deutscher Figuren im Film, mit Ausnahme einer schon zu
       symbolischen Fahrstuhlszene, irritiert zunächst, doch letztlich stehen sie
       in den Erzählungen Edeks ohnehin als Täter immer mit im Raum. Es geht nicht
       um sie, sondern um die Folgen dessen, was sie angerichtet haben. Dass in
       „Treasure“ alles zwischen Polen und dem jüdisch-amerikanischen Paar allein
       ausgehandelt wird, spannt eine Brücke zu einem weiteren Problem, denn das
       polnisch-jüdische Verhältnis ist alles andere als geklärt.
       
       Auseinandersetzungen über polnische Verbrechen an Juden während des Kriegs
       und danach sowie den Stellenwert der Schoah in der nationalen
       Geschichtsschreibung werden bis heute mit aller Schärfe geführt. In Polen
       war es daher zunächst schwer, Partner für die Arbeit zu finden, da die
       aufgeworfenen Fragen dem [2][Geschichtsbild der damaligen PiS-Regierung]
       zuwiderliefen. Die ärmlichen Lebensumstände der frühen Neunziger sollten
       der Welt ebenfalls nicht in Erinnerung gerufen werden.
       
       Die Bilder und das Licht des Films geben die Atmosphäre der Zeit gut
       wieder. Wer in der Umbruchszeit in Osteuropa unterwegs war, fühlt sich an
       die Stimmung erinnert. Die Gerhard-Richter-artige Ästhetik einzelner
       Kameraeinstellungen verstärkt diesen anachronistischen Effekt noch.
       
       ## Trümmer des Realsozialismus
       
       Wie auch die polnisch-jüdische Geschichte bietet die Story manche Härten,
       aber die Darstellung denunziert nicht. Das ökonomische Gefälle zwischen den
       Reisenden aus New York und Polen ist ebenso präsent wie die kulturellen
       Aspekte im Zusammenprall des US-Lifestyles mit den Trümmern des
       Realsozialismus. Die greifbare materielle Not in Polen erklärt vieles ohne
       Worte. Vor allem gibt es äußerst einnehmende Charaktere, wie etwa den vom
       polnischen Superstar Zbigniew Zamachowski gespielten Taxifahrer Stefan.
       
       Auch die Empörung des als Dolmetscher angeheuerten jungen Hotelpagen über
       die Versuche einer polnischen Familie, Ruth die Reste des Interieurs ihrer
       eigenen Großeltern völlig überteuert zu verkaufen, deutet einen Wandel an.
       Die Szene lässt eine andere Zukunft erahnen, getragen von Weltoffenheit und
       Empathie.
       
       Den Figuren wird mit komödienhaften Elementen Spielraum gegeben. Vater und
       Tochter werden nicht nur durch das eine Schicksal bestimmt, sondern haben
       auch Alltagsprobleme: die gescheiterte Ehe, die Diät, die unterschiedlichen
       Auffassungen vom Leben zwischen den Generationen. Und zugleich können sie
       nicht entrinnen.
       
       Gegen Ende erschließt sich besser, dass die bissigen Bemerkungen des Vaters
       über die Kinderlosigkeit seiner Tochter nicht einfach Taktlosigkeit sind,
       sondern mit dem Tod seiner sämtlichen Geschwister und deren Kinder in
       Auschwitz zu tun haben, von deren Existenz die Tochter bis zum Besuch der
       Gedenkstätte nichts wusste.
       
       ## Todeslager, nicht Museum
       
       Die Frage, wie diese Gedenkstätte zu werten ist, für wen die Schoah schon
       zur Geschichte wurde und für wen nicht, scheint ebenfalls im Film auf. Die
       polnischen Hotelangestellten und Tourismusguides sprechen von Auschwitz als
       „dem Museum“, Tochter Ruth korrigiert anfangs noch: „Das Todeslager.“ Ein
       Running Gag ohne jeden Gag, sondern der Verweis auf die in den neunziger
       Jahren lauter werdende Diskussion zur Historisierung der Schoah.
       
       Schon damals wurde der Boom der Vergangenheitsbewältigung von skeptischen
       Zeitgenossen aufmerksam beobachtet. [3][Zu schnell könne Gedenken in
       Deutschland zur Routine werden, um der Welt nach der Wiedervereinigung die
       Läuterung zu demonstrieren und einen Riss in der eigenen Geschichte
       kulturindustriell zu verkleben, der sich jedoch nicht schließen lasse].
       Tatsächlich steht seit der Wandlung einst kritischer Impulse zur
       offiziellen Geschichtspolitik jede Produktion zum Thema unter dem Verdacht,
       einen Beitrag zu dieser nationalen „Wiedergutwerdung“ zu leisten.
       
       Heute, in Zeiten des Geschreis von „German Guilt“ und „Schuldkult“, haben
       sich die äußeren Bedingungen geändert. Hinter mancher Kritik steht wieder
       der Impuls, nichts mehr wissen zu wollen. Einem Schlussstrich durch
       Historisierung steht der Film schon durch die Konstellation Vater-Tochter
       entgegen. Statt abzuschließen, wird – durchaus ganz materiell – die Frage
       nach dem Erbe aufgeworfen und damit ein adäquater Umgang mit dem realen
       Verschwinden der Zeitzeugen gefunden. So beleuchtet „Treasure“ das
       Fortwirken des Traumas in der Folgegeneration und ist das Gegenteil eines
       Schlussstrichs.
       
       Nach irgendeiner deutschen Perspektive wird glücklicherweise gar nicht erst
       gefragt, ebenso ist klar, dass der Riss innerhalb der Opferfamilie nicht
       geschlossen werden kann. Die Vorfahren wurden ermordet, die Überlebenden
       haben vor allem geschwiegen – um die Tochter und sich selbst zu schützen.
       Für den Vater war dies die Bedingung, um überhaupt weiterleben zu können.
       Doch unter diesem Schweigen konnten auch die familiären Traumata Jahrzehnte
       wirken.
       
       Der Film nutzt humoristische Momente, um sichtbar zu machen, wie dieses
       Schweigen zwischen Vater und Tochter langsam durchbrochen wird. Damit ist
       nicht alles gut, aber etwas in Bewegung geraten. Am Ende steht daher auch
       keine klassische Versöhnung, nur der Beginn eines langsamen Verstehens
       zwischen den Generationen und somit vielleicht ein neuer Anfang.
       
       22 Sep 2024
       
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