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       # taz.de -- Abschiebungen nach Afghanistan: Eine Frage der Sicherheit
       
       > Erstmals ist wieder ein Abschiebeflieger nach Afghanistan gestartet. An
       > Bord saß auch ein verurteilter Sexualstraftäter. Er fürchtet jetzt
       > Verfolgung durch die Taliban.
       
   IMG Bild: Erstmals seit der Machtergreifung der Taliban schiebt die Bundesregierung wieder Menschen nach Afghanistan ab
       
       Geschlafen habe er seit Wochen nicht mehr richtig, sagt Baran Ahmadi. „Es
       ist zu viel Stress in meinem Kopf“, seine Stimme am Telefon klingt
       angespannt. Er übernachte jeden Tag woanders, bei Freunden, Bekannten. Auf
       dem Weg zu ihnen passe er auf, dass ihm niemand folge.
       
       Ahmadi heißt eigentlich anders, für diesen Text wurde er anonymisiert. Er
       gehört zu den 28 Männern, die am frühen Morgen des 30. August mit einem
       Qatar-Airways-Flug aus Leipzig nach Afghanistan abgeschoben wurden.
       
       Bis zu jenem Tag saß Ahmadi in der JVA Landsberg, drei Monate Haft hatte er
       noch vor sich. Das Amtsgericht Augsburg sah es als erwiesen an, dass Ahmadi
       im Juni 2022 eine 16-Jährige zum Oralsex gezwungen habe. Ahmadi, damals 24
       Jahre alt, bestreitet die Tat. Das Gericht verurteilte Ahmadi im Dezember
       2022 wegen Vergewaltigung zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft.
       
       Nicht erst seit dem Anschlag von Solingen Ende August wird viel über
       Sicherheit gesprochen. Deutschland ist eines der sichersten Länder der
       Welt, aber derzeit findet fast die Hälfte der Deutschen, man fühle sich im
       öffentlichen Raum nicht mehr sicher. Und weil es Rechte geschafft haben,
       dass Unsicherheit vor allem als Folge von Migration dargestellt wird,
       betreffen die meisten Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung die
       Sicherheit erhöhen will, die Migrationspolitik: Grenzkontrollen,
       Leistungskürzungen für Asylbewerber:innen – und mehr Abschiebungen,
       auch nach Afghanistan.
       
       Aber ist Deutschland sicherer, weil jemand wie Ahmadi jetzt in Kabul statt
       in Bayern lebt? Und ist es rechtens, dass die Bundesregierung Abschiebungen
       in die Hände der Taliban durchsetzt?
       
       Für diesen Text haben wir Menschen aus Ahmadis Umfeld befragt,
       Gerichtsakten und persönliche Dokumente von ihm eingesehen, mit deutschen
       und afghanischen Behörden gesprochen, um seine Angaben zu überprüfen. Die
       Frage, wie stark er in diesen Tagen tatsächlich Verfolgung durch die
       Taliban fürchten muss, lässt sich nicht endgültig klären. Klar ist, dass er
       Angst davor hat.
       
       ## Katar vermittelte mit den Taliban
       
       Diese Geschichte wäre womöglich bequemer, wenn Ahmadi nicht wegen
       Vergewaltigung verurteilt wäre. Wenn in dem Abschiebeflieger am 30. August
       nur Menschen gesessen hätten, die keine schlimmen Verbrechen begangen
       haben. Aber die Abschiebungen nach Afghanistan wurden nach der
       Machtübernahme der Taliban 2021 aus zwei Gründen ausgesetzt: weil jede
       Abschiebung auch eine Kooperation mit dem islamistischen Regime dieser
       Terroristen bedeutet, das Menschen so brutal unterdrückt wie kaum eine
       zweite Regierung auf der Welt; und weil es unmöglich ist zu prüfen, was
       genau die Abgeschobenen in Afghanistan erwartet – also auch eine konkrete
       Gefahr für ihr Leben nicht ausgeschlossen werden kann.
       
       Warum sollte all das nicht mehr gelten, wenn es sich bei den Abgeschobenen
       um Straftäter handelt? Finden wir, dass afghanische Vergewaltiger anders
       behandelt werden müssen als deutsche Vergewaltiger? Ist die Abschiebung die
       doppelte Strafe, die sie aufgrund ihrer Nationalität verdient haben?
       
       Für den Abschiebeflug am 30. August hat Katar auf Bitten Deutschlands die
       Vermittlung mit den Taliban übernommen. „Unsere Sicherheit zählt, unser
       Rechtsstaat handelt“, hatte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) an jenem
       Morgen verkündet. Es handele sich um eine „Maßnahme nach dem Messerangriff
       von Solingen“, erklärte ihr Ministerium, auch wenn es die Aktion gemeinsam
       mit dem Kanzleramt schon seit etwa zwei Monaten vorbereitet hatte. Als
       islamistische Gefährder eingestufte Personen waren laut Angaben der
       Bundesländer nicht dabei, dafür Straftäter. Womöglich hatte die Ampel dabei
       eher die zwei Tage später anstehenden Wahlen in Thüringen und Sachsen im
       Blick als die Terrorprävention. Das Innenministerium behauptet, es sei für
       die Abschiebung „keine Gegenleistung in Aussicht gestellt“ worden. Ein
       Vertreter des Flüchtlingsministeriums der Taliban in Kabul sprach gegenüber
       der taz jedoch von einer hohen Geldsumme, die über Katar an die Regierung
       in Kabul geflossen sei.
       
       ## Fünf Tage nach Solingen wird Ahmadi in eine Einzelzelle verlegt
       
       Auf Anfrage erklärt das Bundesinnenministerium zunächst, es habe „nicht
       entschieden, welche Personen rückgeführt werden“ – zuständig dafür seien
       die Länder gewesen. Doch die streiten das ab. Die taz hat in allen 16
       Bundesländern abgefragt, wie viele Straftäter aus dem jeweiligen Land in
       der Maschine saßen, wegen welcher Straftaten sie verurteilt worden waren
       und wie die Männer ausgewählt wurden. Mehrere Länder gaben an, dem
       Bundesinnenministerium eine Liste vorgelegt zu haben, die finale Auswahl
       habe dann das Ministerium getroffen. Ein Sprecher Faesers räumt daraufhin
       ein, dass die Länder Personen benannt haben und der „Austausch aller
       Beteiligten […] letztlich zur Rückführung“ der einzelnen Personen führte.
       
       Nach welchen Kriterien diese ausgesucht wurden, bleibt offen. Mehrere
       Sexualstraftäter sind unter den Ausgewählten, auch versuchter Mord,
       Körperverletzung und Raub tauchen mehrfach in der Liste der Straftaten auf.
       Viele von ihnen wurden direkt aus dem Gefängnis abgeschoben, einige hatten
       ihre Freiheitsstrafe bereits vollständig verbüßt.
       
       Unter anderem fiel die Wahl auf Baran Ahmadi. Drei Monate hatte er noch
       vor sich, dann wären seine 30 Monate in Haft verstrichen gewesen. Ahmadi
       sagt, er habe Pläne gehabt für die Zeit nach seiner Entlassung: eine
       Ausbildung zum Kfz-Mechaniker beginnen, einen weiteren Deutschkurs belegen.
       Zum Zahnarzt gehen.
       
       Doch es kommt anders. Am Mittwoch der letzten Augustwoche, fünf Tage nach
       dem Attentat auf dem Stadtfest in Solingen, wird Ahmadi in eine Einzelzelle
       verlegt. Er fragt nach dem Grund, erhält aber keine Antwort. Am
       Donnerstagabend kommen fünf Justizbeamte zu ihm in die Zelle. Er werde
       jetzt nach Leipzig in eine andere JVA verlegt, heißt es. Ahmadi wird aus
       dem Gefängnis herausgeführt, steigt ins Auto zu zwei Polizisten.
       
       ## 1.000 Euro Handgeld bekommen die Abgeschobenen
       
       Während das Auto durch Bayern fährt, ist Innenministerin Faeser gerade in
       den „Tagesthemen“ zu sehen. Sie hat heute das „Sicherheitspaket“ der
       Bundesregierung präsentiert. Jetzt verspricht sie, „schon bald“ werde die
       Regierung auch beim Thema Abschiebungen nach Afghanistan erfolgreich sein.
       „Ich habe es gesagt, da geht die Sicherheit in Deutschland vor“, sagt
       Faeser, „und deswegen muss man Menschen, die hier unsere Gesetze nicht
       achten, auch wieder abschieben können.“ Mit den Taliban wolle die Regierung
       nicht reden, wohl aber mit „Nachbarstaaten“. Dabei sei man auch schon
       „relativ weit“.
       
       Gegen zwei Uhr nachts kommt das Auto, in dem Ahmadi sitzt, in Leipzig an.
       „Als ich durch das Autofenster den Flughafen gesehen habe, wusste ich, was
       jetzt wirklich passiert“, sagt er.
       
       Am Flughafen werden ihm Hand- und Fußfesseln angelegt. Dort trifft er die
       anderen 27 Menschen, die heute mit ihm abgeschoben werden sollen. Sie
       müssen noch einige Stunden warten, dann, im Morgengrauen, steht das
       Flugzeug bereit. Er bekommt einen Boardingpass von Qatar Airways.
       „Boarding Time: 05:15, Departure: 06:00, Seat: Any“.
       
       1.000 Euro „Handgeld“ bekommen sie, was im Netz wütende Reaktionen auslöst.
       Es sei ein übliches Verfahren, um nicht zu riskieren, dass Gerichte die
       Entscheidung aufheben, weil eine Verelendung der Abgeschobenen drohe, sagt
       Faeser am Abend.
       
       ## „Wer nicht betet, bekommt eine Kugel“
       
       Während des Flugs habe er versucht zu schlafen, sagt Ahmadi, aber es sei
       ihm nicht gelungen, den anderen ebenso wenig, auch wegen der
       zusammengebundenen Hände und Füße. Nach der Landung betreten vier Taliban
       das Flugzeug, ein Kommandant und drei Mitarbeiter. Nach Informationen der
       taz handelt es sich um Angehörige des Geheimdienstes GDI. Ahmadi sagt, sie
       hätten überrascht gewirkt, als wüssten sie nicht, was es mit diesem
       Flugzeug und seinen Insassen auf sich habe. Das katarische Personal, das
       den Flug begleitet hat, überlässt die 28 Männer den Taliban.
       
       Für Ahmadi folgen mehrere Tage in Untersuchungshaft, direkt am Flughafen,
       alle 28 im gleichen Raum. Berichte, etwa in der Bild-Zeitung („Die irrsten
       Details: Kakerlaken, Schimmel-Brot und Eimer-Klos! Hier sitzen die Mörder
       und Vergewaltiger – und vermissen die bequemen deutschen Gefängniszellen“),
       die Männer seien in das Pul-e-Charkhi-Zentralgefängnis gebracht worden,
       weisen sowohl das Innenministerium als auch Ahmadi zurück.
       
       Ahmadi wird, wie alle anderen, von den Taliban befragt, immer wieder. Sie
       wollen wissen, wer er ist, warum er in dem Flugzeug saß, was er in
       Deutschland gemacht hat, warum er dort im Gefängnis saß. Ahmadi glaubt,
       dass sie ihn verdächtigen, ein Spion Deutschlands zu sein. Jeden Tag hätten
       die Taliban verkündet, die Gruppe werde am folgenden Tag freigelassen, doch
       das geschieht nicht. „Wer nicht betet, bekommt eine Kugel“, habe einer der
       Wachmänner gesagt. Also beten sie.
       
       Ein deutscher Freund habe seine Eltern verständigt, seinem Vater sei es
       schließlich gelungen, ihn am Flughafen ausfindig zu machen, sagt Ahmadi.
       Sein Vater muss den Mietvertrag für seine Wohnung und den elektronischen
       Ausweis E-Tazkira vorlegen, Fingerabdrücke und die „Zamanat“ genannte
       Bürgschaft abgeben. Dann kommt Ahmadi frei. Auf Bewährung, machen ihm die
       Taliban klar. „Wenn wir dich erwischen, auch wenn es nur bei einer
       Kleinigkeit ist, bringen wir dich um“, sei ihm zum Abschied gesagt worden.
       Etwa die Hälfte der anderen habe ebenfalls gehen können. Der Rest werde,
       soweit er wisse, von den Taliban festgehalten.
       
       ## Zehn Prozent aller Ausreisepflichtigen in Deutschland sind aus
       Afghanistan
       
       Als er mit seinen Eltern zu deren Wohnung fährt, werden sie von zwei
       Motorrädern verfolgt. Am folgenden Tag macht sich Ahmadi wieder auf. Er
       will seine Eltern nicht weiter in Gefahr bringen. Ahmadi hat den Taliban
       nicht gesagt, warum er in Deutschland im Gefängnis saß. Seine größte Angst
       ist, dass sie das doch erfahren, vielleicht von den deutschen Behörden. Er
       glaubt, dass er sterben muss, wenn die Taliban wissen, dass er wegen
       Vergewaltigung verurteilt wurde.
       
       Im Februar 2016 hatte Deutschland nach Jahren zuerst „freiwillige
       Ausreisen“, kurz darauf auch Abschiebeflüge nach Afghanistan wieder
       aufgenommen. Die Bundesregierung argumentierte damals, dass es in dem
       Bürgerkriegsland ausreichend sichere Regionen für Afghanen gebe, die wegen
       der Bedrohung durch die Taliban ihre Häuser verlassen müssten. Nach einem
       Anschlag auf die deutsche Botschaft im Mai 2017 wurden die Abschiebungen
       vorübergehend unterbrochen, nach dem Sieg der Taliban im August 2021 dann
       eingestellt – bis jetzt.
       
       Dass Afghan:innen immer wieder im Fokus der Abschiebediskussion stehen,
       liegt auch daran, dass sie seit Langem die zweitgrößte Gruppe von
       Geflüchteten in Deutschland sind. Ende 2023 lebten rund 322.600 afghanische
       Schutzsuchende im Land, davon sind ein Drittel unter 18 Jahre alt. Etwa
       252.000 sind als Flüchtlinge anerkannt, etwa 24.000 Afghan:innen waren
       Ende Juni 2024 ausreisepflichtig und wurden aufgefordert, das Land zu
       verlassen. Das sind etwa zehn Prozent aller Ausreisepflichtigen in
       Deutschland. Rund 1.000 Afghan:innen wurden seit 2016 direkt nach
       Afghanistan abgeschoben. Grundlage dafür war ein Abkommen, das zunächst
       „Joint Way Forward“ („Gemeinsamer Weg nach vorn“) hieß und das die EU mit
       dem damaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karsai abgeschlossen hatte.
       
       ## Mehr als die Hälfte der abgeschobenen Afghanen aus Bayern
       
       Die taz hat alle Bundesländer zu den Abschiebungen zwischen 2016 und 2021
       befragt. Die Praxis unterschied sich erheblich. Insbesondere Bayern sticht
       aus der Auflistung heraus: 2018 und 2019 kamen jeweils mehr als die Hälfte
       der abgeschobenen Afghanen aus Bayern. Insgesamt wurden aus Bayern zwischen
       2016 und 2021 570 Afghanen abgeschoben. In fast allen anderen Bundesländern
       waren es insgesamt weniger als 100 abgeschobene Personen, in fünf Ländern
       sogar weniger als 15.
       
       Auch in der Auswahl der Abzuschiebenden gingen die Bundesländer damals
       unterschiedlich vor. In den meisten Ländern wurde nur abgeschoben, wer
       wegen einer oder mehrerer Straftaten verurteilt worden war oder von der
       Polizei als Gefährder geführt wurde. In Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt
       gab es hingegen keine Beschränkung auf Straftäter. Das Innenministerium des
       Saarlands antwortet auf die taz-Anfrage, es habe sich bei den Abgeschobenen
       um „alleinstehende junge Männer ohne ‚Integrationshintergrund‘ “ gehandelt.
       
       In derselben Zeit – 2016 bis zur Taliban-Machtübernahme 2021 – sind etwa
       2.100 Afghan:innen mit einer Rückkehrförderung in Höhe von jeweils etwa
       1.500 Euro „freiwillig“ zurück nach Afghanistan gegangen. Darüber hinaus
       wurden Tausende Afghan:innen aus Deutschland in Staaten wie die Türkei
       zurückgeschickt, die ihrerseits nach Afghanistan abschieben.
       
       Tina Harms engagiert sich seit über einem Jahrzehnt in der Flüchtlingshilfe
       Landsberg am Lech – dort, wo Baran Ahmadi seit 2014 lebte. In jenem Jahr
       war er vor den Taliban nach Deutschland geflüchtet. Im Dezember 2016 bekam
       er Asyl, jobbte dann als Pizzafahrer. Tina Harms heißt eigentlich anders,
       möchte aber aus Angst vor Anfeindungen nicht mit ihrem echten Namen in der
       Zeitung stehen. Sie half afghanischen Geflüchteten bei Bewerbungsschreiben.
       „Er war oft zu Besuch im Haus anderer Afghanen“, sagt sie über Ahmadi.
       Harms begleitet ihn im Gefängnis und hält bis heute den Kontakt zu ihm.
       2022 half sie ihm dabei, eine Stelle als Kleinbusfahrer zu finden. Die trat
       er im Mai 2022 an.
       
       ## „Er ist in dieser Nacht zu weit gegangen“
       
       Sechs Wochen später, am 18. Juni, besucht der damals 24-Jährige die Disco
       PM in Lechfeld, rund 20 Kilometer nördlich von Landsberg. Dort trifft er
       ein zu dieser Zeit 16-jähriges Mädchen. Tina Harms sagt: „Er ist in dieser
       Nacht zu weit gegangen.“
       
       Ahmadi selbst streitet die Tat ab, im Prozess sagt er aus, alles zwischen
       ihm und der 16-Jährigen sei einvernehmlich gewesen. Die junge Frau
       widerspricht. Das Gericht hält Ahmadis Darstellung nicht für glaubhaft,
       gegen ihn spricht unter anderem, dass er erst dann von sexuellen Handlungen
       zwischen den beiden berichtet, als er erfährt, dass an seinem Körper DNA
       der Frau nachgewiesen werden konnte.
       
       Ahmadi ist also ein verurteilter Sexualstraftäter. Ein Islamist ist er
       nicht. Im Gegenteil, subsidiären Schutz hatte er in Deutschland nur
       einklagen können, weil ein Gericht es als erwiesen ansah, dass er in
       Afghanistan persönlich von den Taliban bedroht worden war.
       
       Als Ahmadi in U-Haft in Augsburg sitzt, nimmt Tina Harms sich mit einem
       Freund Ahmadis seiner an. Sie holen sein im Halteverbot geparktes Auto,
       öffnen seine Briefe, melden das Auto ab, lösen schließlich die Wohnung auf,
       verkaufen Möbel und den Wagen. Besuch, mit dem er Paschtu sprechen kann,
       darf er in der Haft nicht empfangen. „Also war ich die Einzige, die kommen
       durfte“, sagt Harms.
       
       Sie gibt dem Anwalt 500 Euro extra, den Erlös aus dem Verkauf des Autos.
       „Aber ich glaube, es hat nichts genützt“, sagt sie. Erst am Abend des 1.
       Dezembers 2022 ruft der Anwalt sie an. So ist Harms dabei, als Ahmadi am
       folgenden Tag schuldig gesprochen wird.
       
       „Weil er nicht geständig war und es Aussage gegen Aussage stand, lag das
       Strafmaß höher“, glaubt sie. Ahmadi folgt dem Rat des Anwalts, Berufung
       einzulegen. Das Urteil wird so vorerst nicht rechtskräftig, er bleibt
       deshalb in U-Haft – und Tina Harms die einzige Person, die ihn besuchen
       darf. Im April 2023 zieht er die Berufung zurück. „Er fürchtete, dass eine
       noch höhere Strafe herauskommen könnte“, sagt sie.
       
       ## „Hat er kein Recht auf eine zweite Chance?“
       
       Er kommt in die JVA Landsberg am Lech, dort dürfen Freunde und Verwandte zu
       ihm. „Wir dachten, nach zwei Dritteln der Strafe darf er raus“, sagt Harms.
       „Sein Freund hat einen Pizzalieferdienst. Der wollte ihn beschäftigen,
       hatte das bestätigt. Und ich habe bestätigt, dass ich ihm Wohnraum
       vermieten kann.“ So wäre er im Frühjahr 2024 entlassen worden. Doch das
       Landgericht Augsburg lehnt dies wegen der Schwere der Tat ab. Im Gefängnis
       war Ahmadi für eine „sozialtherapeutische Maßnahme“ vorgemerkt, aber es gab
       keinen Platz. „Das wurde ihm dann negativ ausgelegt“, sagt Harms.
       
       Über seinen Anwalt bemüht Ahmadi sich vergeblich um eine Verlängerung
       seines Aufenthaltstitels. Am 8. August kommt ein Brief vom Landratsamt
       Landsberg. Er müsse Deutschland verlassen, eine Frist zur freiwilligen
       Ausreise werde nicht gewährt, die Ausreisepflicht werde mittels Abschiebung
       vollzogen, heißt es darin.
       
       Tina Harms schickt eine Kopie des Briefs an den Anwalt und den
       Flüchtlingsrat in München. „Alle meinten, es werde nicht nach Afghanistan
       abgeschoben.“ Bis zum 10. September kann Ahmadi Widerspruch gegen die
       Ausweisung einlegen.
       
       Harms will darüber mit ihm sprechen. Am 28. August bittet sie telefonisch
       im Gefängnis um einen Termin. „Sie sagten, es gehe erst am Montag wieder.“
       Am 30. August liest Harms im Netz von dem Abschiebeflug. „Ich hätte nie
       geglaubt, dass er da mit dabei war.“ Am folgenden Montag geht Harms zum
       Gefängnis. „Da sagten sie nur, er sei nicht mehr da.“
       
       Aus Angst, dass die Taliban doch noch erfahren könnten, dass er in
       Deutschland wegen Vergewaltigung verurteilt wurde, versteckt Ahmadi sich
       jetzt. Per Whatsapp hat er sich bei Tina Harms gemeldet. „Ich wundere mich,
       von was die leben“, sagt sie. „Es wird unmöglich für ihn sein
       zurückzukommen. Es gibt da aber keine Perspektive, er hat keine Arbeit und
       Angst, wieder ins Gefängnis zu kommen. Nachdem er seine Strafe fast verbüßt
       hat, war die Abschiebung eine doppelte Bestrafung. Hat er kein Recht auf
       eine zweite Chance?“
       
       Wie es jetzt in Afghanistan für ihn weitergehen solle, wisse er nicht, sagt
       Baran Ahmadi der taz. „Ich weiß, dass ich mich nicht ewig verstecken kann,
       aber ich weiß auch nicht, was ich sonst tun soll.“ Dass er noch einmal die
       Chance haben wird, nach Deutschland zu kommen, glaubt er nicht.
       
       Mitarbeit: Emran Feroz
       
       22 Sep 2024
       
       ## AUTOREN
       
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