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       # taz.de -- 35 Jahre nach der Wende: Das neue Ostbewusstsein
       
       > Nicht nur die Rechten beanspruchen den Osten für sich, auch vielen
       > progressiven jungen Menschen ist ihre Herkunft wichtig. Wie kommt das?
       
       Anna Stiede steht im Kosmonautenanzug in einem Hinterhof in Strausberg und
       fängt an zu weinen. Sie soll hier heute eine Ausstellung eröffnen, mit
       Musik und ein bisschen Show. „Ist die Wende zu Ende?“ heißt die
       Ausstellung, sie zeigt Interviews mit ehemaligen DDR-Bürger:innen über
       deren Wendeerlebnisse, über Rassismus und Arbeitskampf, Treuhand und
       Arbeitslosigkeit. Als „Erinnerungswerkstatt“ ist sie angekündigt, eine
       Mischung aus sozialwissenschaftlicher Forschung und Kunst.
       
       Rund 40 Leute sitzen an diesem Septemberabend auf Plastikstühlen vor Anna
       Stiede. Die Spätsommerhitze liegt über der brandenburgischen Kleinstadt, es
       gibt Bier aus Flaschen. Auf Stiedes weißem Ganzkörperanzug steht in blau
       „Zukunft“ und „W-Ende“. Zusammen mit einem Musiker ist sie das Team
       „Zurück in die Zukunft“, ein Performance-Duo.
       
       „Wir haben gerade die Wahlen in Sachsen und Thüringen hinter uns“, sagt
       Stiede ins Mikrofon, dann bricht ihre Stimme. Tränen steigen in ihre Augen,
       sie dreht sich weg. Ein spontaner Ausbruch, das war so nicht geplant.
       
       Über den Sommer sind Stiede und ihr Team durch ostdeutsche Kleinstädte
       getourt, sie waren in Bautzen, Apolda, Freital. Dort haben sie die
       Wendegeschichten gezeigt, haben mit den Menschen gesprochen, haben deren
       Erinnerungen angehört, aufgenommen und auch: ertragen. Die Wut, den Frust.
       Eine Art demokratische Graswurzelarbeit. Und jetzt hat ein Drittel der
       Menschen in Thüringen und Sachsen eine faschistische Partei gewählt. Stiede
       kann das nicht fassen, auch heute nicht, fünf Tage nach der Wahl.
       
       Als Anna Stiede sich wieder gefangen hat, hält sie einen Stapel Postkarten
       in der Hand. Auf denen hat sie in den letzten Ausstellungsorten die
       Wendegeschichten der Menschen notiert. Zu getragener Gitarrenmusik liest
       Stiede vor: Von einem, der schreibt, wie die FDJ an seiner Schule
       zerschlagen wurde, von einem, für den die Wende Freiheit bedeutete. Von
       jemandem, der enttäuscht war, dass die Ossis lieber das schnelle Geld
       wollten als die bessere Gesellschaft.
       
       Stiede war zwei Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie ist 1987 in Jena
       geboren. Und trotzdem, sagt sie, lässt der Osten sie nicht los. Er ist das
       zentrale Thema ihrer Arbeit. Stiede ist Performerin, sie kuratiert,
       schreibt und spielt Theater. Mit dem von Susann Neuenfeldt gegründeten
       Theaterkollektiv „[1][Panzerkreuzer Rotkäppchen]“ spielte sie die
       Massendemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz vom 4. November 1989
       nach. Mit ihrer Kunstfigur [2][Annamedea] tritt sie auf ostdeutschen
       Plätzen auf, singt und schimpft: „Ey, nich mal mehr ’n Bäcker hat hier auf.
       Is doch kackeee.“ Eine ostdeutsche Wutbürgerin, ihr Publikum wird zum
       „Meckerchor“.
       
       „Ostige emotroublemaker“ nennt sich Anna Stiede bei Instagram. So hart die
       Wahlergebnisse aus ihrer Heimat sie nun auch treffen, Anna Stiede findet:
       „Wir sind die erste Generation, die stolz darauf sein kann, ostdeutsch zu
       sein.“
       
       Ostidentität, das klingt nach Trabi-Parade über die Karl-Marx-Allee. Nach
       Soljanka und Ostrock-Party. Aber Sozialwissenschaftler:innen
       beobachten seit Jahren, dass auch abseits von Osttümelei ein neues
       Ostbewusstsein entstanden ist. Der [3][Soziologe Steffen Mau] schreibt in
       seinem neuen Buch „Ungleich vereint“, ostdeutsche Identitätsdiskurse fänden
       heute nicht mehr nur im Trümmerfeld der Linkspartei statt. Sie seien
       vorgedrungen in Literatur und Theater, in die Fußballstadien und
       Führungskräfteseminare. Und das gilt, so schreibt Mau, nicht nur für die
       Generationen, die die DDR erlebt haben. „Selbst in der Nachwendegeneration
       verstehen sich viele als Ostdeutsche, sie bemerken Unterschiede zwischen
       Ost und West, die durch Westdeutsche kaum noch wahrgenommen werden.“
       
       Dabei ist es gar nicht neu, dass sich junge Ostdeutsche mit ihrer Herkunft
       beschäftigen. Die Autorin Jana Hensel veröffentlichte vor gut 20 Jahren
       ihren Essayband „Zonenkinder“. Das Buch erzählte, was der Mauerfall und die
       Nachwendejahre für die ostdeutschen Kinder und Jugendlichen bedeuteten. Es
       folgten weitere Bücher, Netzwerke gründeten sich wie „Dritte Generation
       Ost“ oder „Wir sind der Osten“, es gab Biografie-Workshops, in denen junge
       Ostdeutsche ihre Herkunft aufarbeiten konnten. Das Ziel all dieser
       Initiativen war zu zeigen, dass der Osten vielfältig ist und dass auch die,
       die die DDR kaum noch erlebt haben, von ihr geprägt sind. Aber es war auch
       eine Suche nach Anerkennung, wie ein Schrei: Uns gibt es auch. Wir gehören
       auch zu eurem Deutschland dazu.
       
       Eine Art ostdeutsches Empowerment, könnte man sagen. Oder ein endloses
       Fortschreiben von Ost-West-Differenzen?
       
       Der Fall der Mauer jährt sich im November zum 35. Mal. 35 Jahre – in dieser
       Zeit ist eine ganze Generation nachgewachsen. Die Berliner Mauer ist
       inzwischen länger weg als sie gestanden hat. Wer kurz vor oder nach dem
       Mauerfall geboren ist, gehört zur ersten Ost-Generation, deren Kindheit auf
       Farbfotos festgehalten ist. Die Coca-Cola statt Vita-Cola trinken konnte
       und ganz legal MTV gucken durfte. Sie sind heute längst erwachsen, haben
       ihr ganzes Leben im wiedervereinten Deutschland verbracht, auch wenn es im
       brüchigen Nachwende-Ostdeutschland begonnen hat. Und trotzdem wendet sich
       ausgerechnet diese Generation dem Osten zu.
       
       Der Brandenburger [4][Rapper Finch], 1990 in Frankfurt/Oder geboren, nennt
       sich in seinen Songs einen „ostdeutschen Hasselhoff“. Bei Youtube
       dokumentiert die „Simson-Bande“, zehn Jugendliche aus Thüringen, wie sie an
       alten DDR-Mopeds rumschraubt.
       
       Nach einer aktuellen Studie des MDR nehmen 84 Prozent der nach der Wende
       geborenen Ostdeutschen im Osten ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl
       wahr, bei den Älteren sind es 71 bis 75 Prozent. Eine Studie der
       Otto-Brenner-Stiftung von 2019 fand heraus, dass sich 68 Prozent der jungen
       Ostdeutschen noch mit Ostdeutschland verbunden fühlen. Eine ähnliche
       Westverbundenheit spüren im Westen demnach nur 59 Prozent. Der Osten gilt
       für viele junge Ostdeutsche offenbar immer noch als zentraler Bezugspunkt,
       als einer, der sie bis heute prägt.
       
       Woher kommt dieses Ostbewusstsein bei Menschen, die kurz vor oder sogar
       nach der Wende geboren sind? Und was macht es aus?
       
       Für Anna Stiede ist die Auseinandersetzung mit der DDR vor allem eine
       politische. Sie war in linken Gruppen aktiv, hat die [5][Blockupy-Proteste]
       zur Zeit der Finanzkrise mitorganisiert. Ostalgie interessiert sie nicht,
       sagt sie. Sie will verstehen, wie die Treuhand gewütet hat, wieso der
       Sozialismus gescheitert ist, woher die Wut vieler Ostdeutscher heute kommt.
       
       Aufgewachsen ist sie in den 90ern in der thüringischen Kleinstadt Apolda.
       Die Innenstadt ist damals grau, abgefuckt, wie Stiede sagt, aber sie selbst
       schillert. Stiede trägt bunte Doc Martens Schuhe, hat rot gefärbte Haare
       und hört Rage Against the Machine: „Fuck you, I won’t do what you tell me“.
       Regelmäßig seien sie und ihre Punker-Freunde von Nazis gejagt worden,
       erzählt sie.
       
       Nach dem Abi 2005 will sie nur eines: weg aus dem Osten. Mit einem alten
       Opel Corsa und einer Freundin auf der Rückbank zieht sie nach Marburg, um
       dort zu studieren. Stiede erzählt davon an einem Nachmittag im September
       2024 in Berlin, wo sie heute lebt.
       
       Im Studium geht Stiede nach Italien. Dort beginnt sie, sich mit ihrer
       ostdeutschen Geschichte zu beschäftigen. „Die Arbeitskämpfe in Norditalien
       haben mich fasziniert“, sagt Stiede. Sie streift durch verfallene Fabriken,
       fotografiert die Ruinen und interviewt Zeitzeug:innen. „Je mehr ich mich
       damit beschäftigt habe, desto deutlicher wurde mir, dass diese Geschichten
       gar nicht so weit weg sind von der DDR.“ Auch in ihrer Familie gab es
       Arbeitskämpfe. Ihr Großvater hat beim VEB Automobilwerk Eisenach
       gearbeitet. Als 1990 Opel die Eisenacher Werke übernimmt und die Treuhand
       sie 1991 abwickelt, organisiert Stiedes Opa die Streiks mit. 4.500
       Mitarbeiter:innen verlieren damals ihre Jobs, Stiedes Opa ist einer
       von ihnen.
       
       Stiede lebt noch in Italien, als 2008 die Weltwirtschaftskrise das Land
       heftig trifft – und wieder fühlt sie sich an den Zusammenbruch der DDR
       erinnert. „Plötzlich wurden überall die Ellenbogen ausgefahren, eine krasse
       Privatisierungswelle lief über das Land, die Gesellschaftlichkeit musste
       dem Wettbewerb und der Konkurrenz weichen.“ Stiede kann die Parallelen kaum
       übersehen, ihre westdeutschen Freund:innen wissen nicht, was sie meint.
       
       Das passiert ihr in dieser Zeit immer wieder: Ihre westdeutschen
       Freund:innen reden von 1968, in ihrer Geschichtsschreibung kommt die DDR
       nicht vor. Westdeutsche Politgruppen feiern die Individualität als
       Emanzipation, Stiede sucht lieber das Kollektiv.
       
       Stiede, inzwischen in Berlin, gründet einen Ostsalon, ausschließlich mit
       Freund:innen aus dem Osten. Sie reden darüber, warum die Wende sie nicht
       loslässt obwohl sie damals noch so jung waren. Stiedes Salon wird zu so
       etwas wie einem safe space – ein Ort, an dem sie unter Ostdeutschen
       diskutieren können, ohne sich erklären zu müssen.
       
       Es ist die Zeit, in der „Identitätspolitik“ zum Kampfbegriff wird. Linke
       auf der ganzen Welt sprechen öffentlich über Herkunft und
       Identitätsmerkmale. Es geht um Hautfarbe, um Stigmata, um Diskriminierung.
       Arbeiterkinder machen darauf aufmerksam, dass sie es schwerer in deutschen
       Schulen haben, Menschen mit türkischem Nachnamen, dass sie seltener eine
       Wohnung finden. Ist, in dieser Logik, Ostdeutschsein einfach eine weitere
       Checkbox in der langen Liste der Identitätsmerkmale?
       
       In der Identitätspolitik geht es um Macht, wer sie hat und wie sie verteilt
       ist. In der Debatte über die Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschland
       werden immer wieder die gleichen Fakten aufgezählt: kaum Ostdeutsche in
       DAX-Vorständen, geringere Einkommen, geringere Renten, geringere
       Lebenserwartung. Rechnet man Berlin raus, werden nur zwei Prozent der
       gesamtdeutschen Erbschaftssteuer im Osten gezahlt. Das ist die Folie, vor
       der sich manche Ostdeutsche als Bürger:innen zweiter Klasse sehen.
       
       Die Berliner Soziologin Naika Foroutan hat sogar die These formuliert, dass
       [6][Ostdeutsche letztlich auch Migrant:innen] sind. Ein bisschen
       zumindest. Denn beide, sagt Foroutan, machen ähnliche Erfahrungen. Sie
       haben ihre Heimat verloren, fühlen sich fremd in der Mehrheitsgesellschaft,
       erfahren Abwertung. Foroutan ist für diese These heftig kritisiert worden,
       schließlich machen Ostdeutsche, zumindest weiße Ostdeutsche mit deutschem
       Namen, eine zentrale Erfahrung nicht: Sie erleben keinen Rassismus.
       
       Was Ostdeutsche zu Ostdeutschen macht, sind geteilte Erfahrungen – und der
       Blick von außen.
       
       Der Soziologe Daniel Kubiak hat das Ostbewusstsein der Nachwendegeneration
       erforscht. Für seine Promotion hat er Menschen befragt, die zwischen 1990
       und 1995 in Ost- und Westdeutschland geboren sind. Auch Kubiak stellt fest,
       dass junge Ostdeutsche ihre Identität sehr deutlich herausstellen. Viele
       von ihnen sagten, dass der Westen noch immer als Norm gesetzt sei, der
       Osten hingegen als das andere gelte, ausnahmslos als das Negative. Sie
       hätten das Gefühl, sie müssten den Osten verteidigen. Osttrotz statt
       Opfererzählung.
       
       Junge Ostdeutsche zögen ihr Ostbewusstsein vor allem aus ihren
       Nachwendeerlebnissen, den eigenen, aber auch aus den Erzählungen der
       Eltern, sagt Kubiak. Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, nicht anerkannte
       Bildungsabschlüsse – daraus sei bei der Nachwendegeneration Solidarität mit
       der Elterngeneration erwachsen. Wie bei Stiede, die durch die
       Streikgeschichte des Großvaters zu ihrer Auseinandersetzung mit dem Osten
       kam.
       
       Olivia Schneider entdeckt den Osten während des Studiums. Ihre
       Kommiliton:innen aus dem Westen kennen Jägerschnitzel, Würzfleisch und
       süße Tomatensoße – das Essen aus Schneiders Kindheit – gar nicht, stellt
       sie fest. Ostdeutsch sein geht für die 28-Jährige durch den Magen, bis
       heute.
       
       Olivia Schneider sitzt an einem Nachmittag Ende Juli im Eisgarten Huß in
       Dresden. Hier kam sie erst neulich her, nachdem sie ihre Bachelorarbeit
       abgegeben hatte. „Ein richtiger Old-School-Eisbecher ist das Beste, um so
       was zu feiern“, sagt Schneider. Auf Instagram hat sie dazu dann direkt ein
       paar Bilder geteilt. Als [7][@tumvlt] kocht Olivia Schneider dort Rezepte
       aus dem DDR-Kochbuch „Wir kochen gut“ nach, sie filmt sich beim Eisessen an
       Orten, die am ehesten mit dem Wort „ostig“ zu beschreiben sind.
       „Ostfluencerin“ nennt sie sich auf ihrem Kanal, 27.000 Menschen folgen ihr
       dort.
       
       Der Eisgarten Huß im Osten von Dresden, direkt an den Elbwiesen in
       Laubegast, ist ein Klassiker: Seit über 100 Jahren stellt Familie Huß Eis
       her. Die Sitzgarnituren im Eisgarten – sechs runde Höckerchen fest montiert
       an einem runden Tisch – sind noch aus den 70ern. Drinnen gibt es Eisbecher,
       natürlich den ostdeutschen Klassiker Schwedenbecher mit Vanilleeis,
       Apfelmus, Eierlikör und Sahne. Und Softeis, heute die wilde Mischung
       Kokos-Ananas.
       
       Softeis ist keine DDR-Erfindung, aber es war das Eis, das es überall gab
       und das immer aus derselben VEB-Maschine kam. Viele Menschen in
       Ostdeutschland verbinden Kindheitserinnerungen mit diesem Eis – auch
       jüngere, wie Olivia Schneider, die erst 1996 in Bielatal bei Pirna geboren
       wurde. Das Eis, das ihre Eltern ihr als Kind kauften, war soft. Es war wie
       das Jägerschnitzel, das sie im Kindergarten bekam, ein Überbleibsel der
       Esskultur eines Landes, das es nicht mehr gibt.
       
       Als Schneider Kunst in Dresden studiert, kommen viele ihrer
       Kommiliton:innen aus dem Westen Deutschlands. Es ist 2015, Pegida
       marschiert jeden Montag in Dresden auf. Die westdeutschen Studierenden
       sagen „Alles voll rechts hier“ und meinen, dass man hier ja nicht leben
       könne. Der Dresdnerin Schneider wird es in der eigenen Stadt unangenehm zu
       sagen, woher sie kommt. „Erst als ich mich mit meiner ostdeutschen
       Identität beschäftigt habe, konnte ich aussprechen, dass ich diese
       Abwertung von außen nicht cool finde“, sagt Schneider. Sie ändert ihre
       Haltung, wird selbstbewusster: Ostdeutsch zu sein geht auch in gut, nicht
       nur in Nazi.
       
       Schneider tauscht sich mit ostdeutschen Freund:innen über
       Kindheitserinnerungen aus und merkt, dass sie manche Erfahrungen teilen.
       Etwa Erziehungsmethoden aus einer anderen Zeit: „Jeder musste aufessen,
       jeder musste schlafen.“ Vor allem aber stellen sie fest, dass das Essen
       ihrer Kindheit ein anderes war als das der westdeutschen Freund:innen. „Mir
       war auch gar nicht bewusst, dass diese süße Tomatensauce ein echtes Rezept
       ist“, sagt Schneider amüsiert. Die Sauce besteht vor allem aus Tomatenmark
       und Ketchup, im Internet findet man sie heute auf diversen Rezept-Websites:
       „[8][Tomatensoße wie aus der DDR Schulküche]“.
       
       Im gemeinsamen Lesekreis arbeiten Schneider und ihre Freund:innen das
       Buch „Ostbewusstsein“ von Valerie Schönian durch. Die Zeit-Journalistin ist
       1990 in Sachsen-Anhalt geboren. Dreißig Jahre später hat sie ein Buch über
       ihre Ostidentität als Nachwendekind geschrieben. Sie sucht Antworten auf
       die Frage, was der Osten heute noch ist und porträtiert dabei eine
       Generation von Nachwendekindern, die noch immer ein Bewusstsein für die
       Unterschiede zwischen Ost und West hat – ein Ostbewusstsein. Schönian
       befragt auch ihre eigene Familie und lernt sie auf einmal kennen, die
       ostdeutsche Perspektive, in der die DDR für viele ein gutes Leben bot, die
       nach der Friedlichen Revolution zusahen, wie Infrastruktur und
       Arbeitsplätze verschwanden und die neuen Mitbürger:innen auf einen
       herabblickten.
       
       Wenn man die Ostperspektive einmal hat, wird man sie nicht mehr los. Bei
       Olivia Schneider verändert sie grundlegend den Blick auf Essen. Einen
       Instagram-Kanal hatte sie sich bereits für ihr Kunstdiplom zugelegt und
       eine Influencer-Persönlichkeit entwickelt. Im März 2021 macht sie ein Video
       mit Tomatensoße, Jagdwurst und Nudeln. Caption: „offizielle ossi account
       jetzt“. Im Januar 2022 steht Schneider auf einem Foto mit Mettigel vor
       einer mit Stickern beklebten Altbauhaustür.
       
       Im Sommer 2023 dann: „living la ostdeutsche vita“. Aus ihrer Perspektive
       ein ganz normales kleines Video mit Alltagsszenen ihres Sommers in Sachsen.
       Zu leichter Jazz-Musik zeigt Schneider im Video: selbstgeerntete Tomaten,
       einen Regenbogen über der Stadt, eine leere Kaufhalle Ost, einen
       Nussknacker, eine Flasche Vita Cola, eine Sachsenfahne im Garten und, wie
       im Eisgarten Huß zu besichtigen: einen Eisbecher und eine Sitzbank aus
       Waschbeton. Dieses Video macht Olivia Schneiders Account schlagartig
       bekannter. „Zu dem Zeitpunkt hatte ich 1.500 Follower, das Video bekam
       520.000 Klicks, 11.000 Likes und so viele Kommentare!“ Extrem viel für
       einen so kleinen Account, wie Schneider ihn zu der Zeit betreibt.
       
       Plötzlich folgen ihr auch AfD-Politiker und andere aus dem rechten bis
       rechtsextremen Spektrum. „Die Leute haben nicht verstanden, dass ich das
       ironisch meine, wenn ich eine Sachsenfahne zeige“, sagt sie heute.
       Schneider blockiert die Rechten nach und nach.
       
       Keine andere Partei weiß das Thema Ostdeutschland so gut für sich zu nutzen
       wie die AfD. Im Wahlkampf plakatierte sie „Vollende die Wende“ und „Im
       Osten geht die Sonne auf“. Auf einem Plakat fährt der Thüringer AfD-Chef
       Björn Höcke lässig auf einem Simson-Moped, darüber steht „Ja zur Jugend!“
       
       Die kleine Schwalbe, die zu DDR-Zeiten in Suhl gefertigt wurde, ist
       Ost-Kult. Die jährlichen Simson-Treffen ziehen vor allem junge Männer an.
       Beim letzten Treffen im Juli in Zwickau dokumentierten Journalisten
       Hitlergrüße, „Sieg Heil“-Rufe, DDR- und Reichsflaggen. Dass das Thema
       Ostidentität vor allem Rechts mobilisiert, hört man auch in den Fankurven
       ostdeutscher Fußballstadien. Bei Spielen von Dynamo Dresden grölt die
       Fankurve regelmäßig „Ost-, Ost-, Ostdeutschland“.
       
       Diese neue Ostidentität, sagt der Soziologe Daniel Kubiak, sei
       mitverantwortlich für den Erfolg der AfD bei den jungen Erwachsenen im
       Osten. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen wurde die AfD bei
       den 18- bis 24-Jährigen stärkste Kraft.
       
       Dabei war die AfD gar nicht die einzige Partei, die das Thema Ostidentität
       im Wahlkampf gespielt hat. Auch die sächsische Spitzenkandidatin der
       Linken, Susanne Schaper, posierte vor einem Trabi mit dem Slogan
       „Ostdeutsch, sächsisch, links“. Denn gerade diejenigen linken Ostdeutschen,
       die auch wirklich in Ostdeutschland bleiben, bestehen oftmals darauf zu
       sagen: Das hier ist meine Heimat, die lasse ich mir von Nazis nicht
       wegnehmen und von Westdeutschen nicht kaputt reden.
       
       Letztlich sind auch Anna Stiedes Kunstaktionen der Versuch, ostdeutsche
       Identität als etwas Diverses sichtbar zu machen. Nur dringt die AfD mit dem
       Thema offenbar viel stärker durch. Stiede jedenfalls steckt seit den Wahlen
       in Sachsen und Thüringen in einer Krise. Sie fragt sich, ob ihre Arbeit zu
       Ostdeutschland überhaupt noch Sinn macht.
       
       Lisa Trebs und Vanessa Beyer, beide 1997 im Leipziger Umland geboren, sind
       zehn Jahre jünger als Anna Stiede. Mit ihrem Projekt (K)Einheit wollen sie
       der Generation Z im Osten eine Stimme geben, also Menschen, die zwischen
       1997 und 2012 geboren sind. Kurze Videos sollen die vielfältige
       Lebensrealität der ostdeutschen Gen Z zeigen. Das Projekt startete 2022,
       die Videos sind noch in Arbeit, aber mit Ausschnitten machen Trebs, Beyer
       und ihr Team deutschlandweit Workshops, arbeiten Handlungsempfehlungen aus.
       Die Gen Z im Osten wünscht sich Offenkundiges: Orte zum Treffen, und dass
       der Bus öfter fährt.
       
       Trebs und Beyer erklären den Osten aus junger Sicht, waren beim
       Ostbeauftragten der Bundesregierung zu Gast, vernetzen sich mit
       Interessengruppen vor ihnen wie Dritte Generation Ost. Sie werden
       wahrgenommen. Trotzdem sagt Lisa Trebs im Gespräch mit der taz: „Wegen der
       Landtagswahlen schauen jetzt alle auf den Osten – aber sonst?“
       
       Steffen Mau liefert in seinem Buch „Ungleich vereint“ Zahlen für das
       gefühlte Desinteresse. 2019 ergab eine Umfrage der ARD, dass etwa 17
       Prozent der Westdeutschen noch nie privat im Osten des Landes waren – von
       den Ostdeutschen waren zu dem Zeitpunkt nur zwei Prozent noch nie „drüben“.
       
       Das Gefühl von Minderwertigkeit wird jungen Menschen auch heute noch
       vermittelt. Vanessa Beyer erzählt von einem Gleichaltrigen aus Hessen. „Er
       hat mich gefragt, ob ich exotische Früchte essen möchte. Die gebe es bei
       uns ja nicht.“ Wie auch Olivia Schneider lesen Beyer und Trebs das Buch
       „Ostbewusstsein“ von Valerie Schönian und erkennen sich darin wieder. Ihnen
       gefällt der Begriff Ostbewusstsein auch besser als Ostidentität: „Unser
       Anliegen ist es nicht, dass alle, die irgendwie ostdeutsch sind oder
       fühlen, dies als Teil ihrer Identität anerkennen. Wir wollen eher ein
       Bewusstsein dafür schaffen, dass es immer noch Unterschiede gibt zwischen
       Ost und West“, sagt Beyer.
       
       Mit ihrem Video „living la ostdeutsche vita“ visualisiert Olivia Schneider
       diese Unterschiede: den Waschbeton, aus dem die Blumenkästen in der DDR
       waren; die Gartenzäune, die sich im ganzen Land ähnelten; der B22-Bungalow,
       der überall stand. In der DDR gab es viel Einheitlichkeit, sie ist bis
       heute Teil des Alltags. Das zeigt Schneider.
       
       In einem Video kreiert sie einen „deftigen Schlemmerbecher“ aus Bautz’ner
       Senf-Eis: Zu 80er-Jahre-Tanzmusik holt sie einen Eimer Bautz’ner Senf aus
       dem Tiefkühlfach, formt daraus drei Kugeln Eis und garniert sie mit
       Spreewald-Gürkchen, Röstzwiebeln, Filinchen Knäckebrot und einem Stängel
       Dill. Genüsslich löffelt sie ihn aus. So funktioniert Internetironie: Mehr
       als 1,4 Millionen Mal wurde das Video angeschaut, 24.000 Leuten gefällt es.
       
       Schneider nutzt ihren Kanal vor allem zur Unterhaltung, Geld verdient sie
       damit nicht. Die Firmen, deren Produkte auftauchen, bezahlen nichts dafür.
       Von Filinchen bekam sie einmal ein Probepaket mit Knäckebrot und
       Filinchen-Käppy zugeschickt.
       
       Olivia Schneider findet, dass mit ihrer Reichweite auch Verantwortung
       einhergeht, aber nach ihrer Rolle sucht sie noch. Vor einigen Wochen
       schreibt Schneider auf Instagram, dass sie zweifle, ob sie angesichts der
       politischen Lage überhaupt das Schlemmerbecher-Video posten solle. Viele
       ermutigten sie, also macht sie weiter – und wird gefeiert, auch von linken
       sächsischen Aktivist:innen. Schneiders Kanal ist wohl auch deshalb so
       erfolgreich, weil sie nicht von oben herab auf Sachsen guckt. Weil sie
       Klischees so sehr ins Lächerliche zieht, dass sie niemandem mehr wehtun
       können.
       
       Wer Schneiders Obsession mit dem Osten zunächst gar nicht versteht, sind
       ihre Eltern. „Mein Vater war total perplex“, erzählt Schneider. Er ist 60,
       die Mutter 53. Beide haben die Wende gut überstanden, er war Elektriker,
       sie Köchin. „Mein Vater fand das anstrengend, dass 30 Jahre nach der
       Wiedervereinigung alle immer noch über die Unterschiede sprechen wollen.“
       
       Auch das ist vielleicht eine ostdeutsche Erfahrung: Erst werden die jungen
       Menschen zu Ostdeutschen gemacht – hier, eine Banane! – und wenn sie diese
       Identität dann annehmen, folgt aus anderer Ecke der Vorwurf, dass es Ost
       und West doch gar nicht mehr gebe.
       
       Mittlerweile sprechen Olivia Schneider und ihre Eltern mehr über deren
       Erfahrungen. Gerade erst war sie mit ihrer Mutter in einer Ausstellung über
       die Jugendwerkhöfe in der DDR. Ihre Bachelorarbeit im Fach Soziale Arbeit
       schreibt Olivia Schneider zum Thema Arbeitslosigkeit nach der Wende: „Drei
       von vier Personen, die ich befragt habe, hatten mir meine Eltern
       vermittelt.“
       
       Auch Anna Stiede hat mit dem Generationenunterschied zu tun. Egal in
       welchem Projekt sie sich zum Thema Ostdeutschland engagiert, in
       Politgruppen oder im Theater, Stiede merkt, dass den jüngeren Ostdeutschen
       viel eher zugehört wird als den älteren. Presseanfragen? Landen bei Stiede.
       Für das 30-jährige Mauerfall-Jubiläum 2019 führten sie und andere aus dem
       Ostsalon Interviews mit Zeitzeugen. Den Applaus dafür bekommen die Jungen.
       Wie war das damals? Solche Fragen sollen plötzlich Stiede und ihre
       Freund:innen beantworten und nicht etwa die, die das Damals erlebt haben.
       „Ich glaube, aus der Sicht der westdeutschen Öffentlichkeit sind wir
       Jüngeren nicht so beschmutzt von der DDR wie die Älteren“, sagt Anna Stiede
       heute dazu. Das Wort beschmutzt setzt sie mit ihren Fingern in
       Anführungszeichen.
       
       Anna Stiede und Olivia Schneider gehen sehr unterschiedlich mit ihrer
       Herkunft um. Die eine führt stundenlange Interviews, die andere bastelt
       kurze lustige Videos für das Internet. Was die beiden verbindet, ist ihr
       Anspruch, Ostdeutschland sichtbar zu machen. Anna Stiede geht es dabei um
       eine verpasste Chance: „In der Wende steckte so viel
       zivilgesellschaftliches Potenzial. Die Runden Tische, die Streiks und
       Betriebsbesetzungen – daraus hätte eine bessere Gesellschaft werden
       können.“ Olivia Schneider sagt, sie wolle vor allem den Charme
       Ostdeutschlands zeigen. Die jetzige Realität von Orten, an denen sich nicht
       viel verändert hat.
       
       Nur, wo ist die Grenze zur Ostalgie, zur Ostdeutschtümelei? Steckt darin
       nicht eine Verharmlosung? Kann man das Gute an der DDR zeigen, ohne das
       Schlechte mitzuerzählen?
       
       Stiede und Schneider sind beide überzeugt, dass das geht. „Ich will nicht
       wieder in der DDR leben“, sagt Olivia Schneider. Eine Einladung auf einen
       Campingplatz an der Ostsee, wo alles wie in der DDR aussieht, hat sie
       dankend abgelehnt. In ihrem Kanal teilt sie einen Podcast über die so
       genannten Tripperburgen in der DDR, Kliniken, in denen Frauen und Mädchen
       wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten eingesperrt wurden. Sie ruft
       zwischen Videos aus dem Nussknackermuseum in Neuhausen zu Spenden für
       Anti-Nazi-Vereine auf. Ihre Videos seien „definitiv keine Ostalgie,“
       versichert sie, es gehe ihr um Sachsen heute, um die Spuren der DDR im
       Jetzt.
       
       Auch Anna Stiede wünscht sich die DDR nicht zurück. Wenn sie sagt, ihre
       Generation könne sich als erste wieder Oststolz erlauben, dann will sie
       damit nicht die Diktatur verharmlosen. Ihr geht es um einen zugewandten
       Blick auf ostdeutsche Erfahrungen, die Bearbeitung von Verlust und die
       Suche nach Selbstwirksamkeit in der Wendezeit. „Unsere Familien haben den
       Westdeutschen viel voraus“, sagt sie. „Wir haben den Versuch von
       Sozialismus erlebt. Wir haben eine große Transformation überstanden und die
       Baseballschlägerjahre überlebt. Wer sich dafür interessiert, wie sich die
       Gesellschaft zum Wohle aller umgestalten lässt, kommt weder an
       migrantischen noch an ostdeutschen Erfahrungen vorbei.“
       
       In Strausberg beendet Anna Stiede ihr Programm. Sie hat gesungen, den
       Soundtrack aus dem DDR-Klassiker „Solo Sunny“, und die Postkarten mit den
       Erinnerungen vorgelesen. Die Beklemmung vom Anfang ist verflogen, die
       Stimmung gelöst.
       
       Nun beginnt der inoffizielle Teil. Auf dem Marktplatz in Strausberg steht
       ein großer Kasten aus Aluminium, wie ein kleines Haus. Stiede schließt eine
       Tür auf, öffnet eine Klappe nach vorn. Ein Kiosk entsteht, der „Kiosk of
       Solidarity“. Er ist Teil des Konzepts, hier werden Stiede und ihr
       Performance-Partner Hans Neva in den kommenden Tagen Suppe und Getränke
       austeilen, sie wollen mit den Strausberger:innen ins Gespräch kommen.
       Über ihre Wendeerinnerungen, ihr Ostdeutschsein, ihren Blick auf
       Deutschland heute.
       
       Es ist der 5. September, noch gut zwei Wochen bis zu den Wahlen in
       Brandenburg. In allen Umfragen liegt die AfD aktuell auf dem ersten Platz.
       
       21 Sep 2024
       
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