URI: 
       # taz.de -- Essensausgabe bei der Tafel: Nicht anfassen!
       
       > Als alleinerziehende Mutter ist unsere Autorin auf die Tafel angewiesen.
       > Doch sie geht dort nicht mehr hin, weil sie sich gedemütigt fühlt.
       
   IMG Bild: Es gibt einen Stand, für den sich der Besuch lohnt: Es sind die Brote
       
       „Nicht anfassen!“, raunzt jemand durch den Raum. Das Erste, was man bei
       unserer Tafel lernt, ist: „nichts anfassen“. Dabei wollte ich nur sehen, ob
       Zucker in dem Zwieback ist. Jetzt weiß ich es. Doch immer, wenn jemand neu
       ist, höre ich das „Nicht anfassen“-Raunzen durch die Kirche hallen.
       
       Man lernt auch das Wartesystem kennen: Vor dem Eingang verteilt jemand
       Nummern, die darüber entscheiden, wie lange man warten muss. Der Mann, der
       die Karten verteilt, mag es nicht, wenn die Leute drängeln. Dann macht er
       besonders langsam, zieht den Kartenfächer ein und sagt: „So nicht“. Er
       scheint dieses Machtspiel zu mögen. Er sitzt am längeren Hebel.
       
       Bei mir hält er den Kartenfächer fest, als ich eine Nummer ziehen möchte,
       und fragt, in welcher Gruppe ich sei. Die Nachnamen sind in Gruppen und
       Zeitfenster eingeordnet. Ich nenne meinen Nachnamen, und er lässt den
       Kartenfächer locker, ich kann eine Karte ziehen. Es ist eine 7, Glück
       gehabt. Es gibt auch eine 25, dann muss man sehr lange warten.
       
       Wessen Nummer aufgerufen wird, der bezahlt einen Euro und wird auf der
       Liste abgehakt. Zuvor habe ich mich und meine Kinder mit meinem Bescheid
       registrieren lassen. Man bekommt drei laminierte Karten: ein Erwachsener,
       zwei Kinder, und darf sich eine Süßigkeit nehmen.
       
       ## Ein distanzierendes Wir/Sie-Gefühl
       
       Ein Ehrenamtlicher kommt mit einer riesigen Kiste Schokoladeneier und sagt:
       „Für die Kinder.“ Doch Ostern ist schon lange vorbei. Ich soll meinen
       Beutel aufmachen, und bevor ich widersprechen kann, habe ich Massen von
       Schokoladeneiern darin.
       
       Dann geht es zum Gemüse. Ich sage, was ich möchte, und bekomme es. Beim
       Tisch mit dem Obst staut es sich. Der Ehrenamtliche dort führt gern
       Gespräche und lässt sich nicht hetzen. Schließlich wollen wir was von ihm
       und nicht andersrum. Ein distanzierendes Wir/Sie-Gefühl ist sofort
       bemerkbar.
       
       Ich will nur schnell nach Hause, die Lebensmittel verstauen und ab zur
       Kita, mein jüngstes Kind abholen. Das Gespräch an der Obstausgabe zieht
       sich in die Länge. Ich schaue nervös auf die Uhr. Gerne würde ich das Obst
       überspringen und zum nächsten Tisch gehen, doch das wird nicht gern
       gesehen.
       
       Beim Stand mit der Fertignahrung gibt es Pudding und Trinkpäckchen mit
       Zuckerwasser. Ich entscheide mich für die Haferflocken. Pudding für die
       Kinder wird mir trotzdem hingestellt. Bei meinem dritten Tafelbesuch
       schaffe ich es endlich, all das abzulehnen. Die vorherigen Male habe ich
       mich nicht getraut und nicht gewusst, was ich mit dem Zuckerwasser – nach
       der Sonne benannt – machen soll. Keinem Kind wollte ich so etwas anbieten.
       Schließlich nahm es mir dankbar der obdachlose Mann am Bahnhof ab – der
       hatte keine Zähne mehr.
       
       ## Zucker ohne Ende
       
       Gesunde Ernährung ist bei der Tafel nicht so leicht. Salat, das meiste
       Gemüse und Obst halten sich auch im Kühlschrank nicht lange. Schließlich
       stand es vorher auch schon eine Weile im Supermarkt herum. Kartoffeln,
       Mohrrüben, Kohl und Wurzelgemüse halten sich dagegen lange.
       
       Sehr hilfreich sind das gute Vollkornbrot und die Milch, zwar meistens
       halbfett, aber immerhin. Wenn ich Glück habe, gibt es auch mal
       Naturjoghurt, den essen wir zu Hause oft mit Müsli. Ansonsten gibt es viele
       hochverarbeitete Lebensmittel. Fleisch und Fleischersatz mit vielen
       Zusatzstoffen. Es gibt auch Basics wie Haferflocken, Senf oder Frischkäse.
       Ansonsten haben viele Produkte Zucker und viele Zusatzstoffe. Kann man mal
       mitnehmen, aber ich möchte es nicht als festen Bestand in unserer
       Ernährung.
       
       Viele Lebensmittel sind abgelaufen. Ich habe Kinder und bin gerade bei
       Milchprodukten eher vorsichtig. Manchmal muss ich zu Hause Lebensmittel
       wegschmeißen, da beispielsweise Gemüse oder Aufschnitte verschimmelt sind.
       
       Ungesundes Süßes gibt es on top, wenn ich die Karte mit der Aufschrift „2
       Kinder“ vorzeige. Auch hier lerne ich mit der Zeit abzulehnen. Limonade,
       Kekse, Frühstücksflocken, die eigentlich zerbröselte Kekse sind,
       Schokoriegel oder Gummitiere sind mal drin, doch nicht in dem Ausmaß und
       nicht jede Woche.
       
       Gerade in ärmeren Familien mit wenig Bildungsressourcen besteht ein
       Zusammenhang zu weniger gesunder Ernährung. Wenn Kinder eines nicht
       zusätzlich brauchen, sind es Süßigkeiten. Selbst dem ärmsten Kind in der
       Stadt mangelt es nicht an Süßigkeiten, im Gegenteil. Süßigkeiten und
       Fertignahrung gibt es an jeder Ecke. Meine Kinder bekommen auch ständig
       Süßigkeiten zugesteckt.
       
       Davon abgesehen haben das Essen und der Nachtisch in Schule und Kita auch
       nicht gerade wenig Zucker. Das besagte Trinkpäckchen hat beispielsweise
       mehr Zucker, als an einem Tag für Kinder empfohlen wird. Mit Blick auf die
       Zunahme von Diabetes Typ 2 ein nicht unerhebliches Problem.
       
       Draußen kommen mir Kinder, die kreischend die Kirchentreppe
       hinuntersteigen, mit Chipstüten entgegen. Hinter ihnen kommt die Mutter.
       Ihre schwere Tasche schlägt gegen den langen Rock. Ich sehe Pudding mit
       Kühen drauf, Tiefkühltorte und Kekse.
       
       ## Demütig und gedemütigt
       
       Bei meinem ersten Tafelbesuch zitterten meine Knie. Es riecht nach fauligen
       Gemüse. Ich bin demütig und gleichzeitig fühle ich mich gedemütigt. Ich bin
       dankbar und gleichzeitig denke ich Undankbares. Mir fällt der Spruch ein:
       Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.
       
       Es gibt hier ganz spürbar eine asymmetrische Machtbeziehung. Hinter den
       Tischen stehen die Ehrenamtlichen, die Gutes tun und sich gut fühlen
       dürfen, und vor der Kirche warten diejenigen, die die Spenden in Empfang
       nehmen und brauchen.
       
       Ich möchte nicht Projektionsfläche für das berechtigte gute Gefühl von
       Ehrenamtlichen sein. Mir wäre es lieber, Bürgergeldempfänger*innen
       würden sich selbst organisieren. Ich spüre den Machtunterschied. Ich schäme
       mich.
       
       Ich habe einen Master mit einer Note von 1,0. Doch es gibt nur ein
       Einkommen, in der Elternzeit nichts und es ist unmöglich, zwei kleine
       Menschen mit einer halben, wenn auch nicht schlecht bezahlten, Stelle
       großzuziehen. Die Miete frisst einfach alles auf. Für mich allein würde es
       locker reichen. Alleinerziehende werden durch das System arm gemacht. Fast
       die Hälfte aller Alleinerziehenden gilt in Deutschland als arm, und das
       nur, weil sie eben alleinerziehend sind.
       
       ## Spürbare Machtunterschiede
       
       Ich finde die Tafel nicht falsch. Essen denjenigen zukommen zu lassen,
       deren Regelsatz so niedrig ist, dass vieles nicht möglich ist, hilft
       vielen. Es würde auch den Grenzgänger*innen helfen, die knapp über der
       Bedarfsgrenze liegen, aber nicht wie ich von allen möglichen
       Vergünstigungen (ÖPNV, reduzierter Beitrag für das Mittagessen in der Kita,
       ermäßigte Eintrittspreise etc.) profitieren.
       
       Letztendlich ist es ja auch eine Maßnahme gegen Lebensmittelverschwendung.
       Doch durch die Rahmenbedingungen, durch das ganze Ambiente und die
       spürbaren Machtunterschiede fühlt sich der Besuch für mich unwürdig an.
       Immerhin – beim dritten Mal heule ich nicht mehr.
       
       Ich merke, dass die Tafel für mich, die sehr auf gesunde Ernährung achtet,
       nur minimal finanzielle Erleichterung bringt. Weil Obst und Gemüse nicht
       lange halten, gehe ich ein paar Tage später doch wieder Salat, Gurke,
       Tomaten und Paprika einkaufen. Und 79 Cent für Haferflocken, die die Kinder
       fast täglich mit Rosinen, Nüssen oder Tiefkühlbeeren essen, habe ich noch
       übrig. Ich entscheide mich, nur noch selten hinzugehen. Denn der
       Tafel-Besuch kostet auch viel Zeit, Wartezeit, und ich komme in
       Abholstress.
       
       Doch es gibt einen Stand, für den sich der Besuch lohnt. Es sind die Brote.
       Gute, dicke, gesunde Laibe Vollkornbrot, die im Laden fast 5 Euro pro Stück
       kosten und die mein ältestes Kind so liebt. „Das beste Brot“, sagt es und
       genießt es mit Gouda. Ich bekomme zwei ganze Brote, schneide sie zu Hause
       in Scheiben und friere sie ein. Alle paar Tage taue ich ein paar Scheiben
       auf. Das reicht dann fast drei Wochen, da das ältere Kind auch oft bei
       Freund*innen, Großeltern oder dem befreundeten Nachbarskind isst.
       
       Mitnehmen zur Tafel würde ich mein ältestes Kind nicht. Es würde mein
       Schamgefühl und die Anspannung wahrnehmen. Es würde den fauligen Geruch
       riechen. Es würde den manchmal rauen Ton hören. Es würde viele Menschen auf
       Bänken, die Arme auf den Einkaufskarren gestützt, warten sehen. Es würde
       viele Fragen stellen. Ich müsste die Themen Machtunterschiede,
       Gerechtigkeit und Geld erklären.
       
       Doch dafür braucht es einen anderen Ort und eine gefasste erklärende Mama
       und nicht eine, die sich selbst bei der Tafel völlig fremd und beschämt
       fühlt.
       
       30 Sep 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Liese Rheim
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Berliner Tafel
   DIR Alleinerziehende
   DIR Scham
   DIR Ernährung
   DIR Würde
   DIR Lebensmittelverschwendung
   DIR Bürgergeld
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Alleinerziehende
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Tafel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Maßnahme gegen Lebensmittelverschwendung: Kein Essen in die Tonne
       
       Auf der Grünen Woche stellt der Senat einen Plan gegen
       Lebensmittelverschwendung vor. Die Menge an weggeworfenem Essen soll bis
       2030 halbiert werden.
       
   DIR Neuer Familienbericht: Hohes Armutsrisiko für Alleinerziehende
       
       Vor allem für alleinerziehende Mütter ist das Armutsrisiko groß. Der neue
       Familienbericht empfiehlt die gezielte Unterstützung Alleinerziehender.
       
   DIR BVG-Fahren mit Sozialticket: Ein Gefühl von Zwangsouting
       
       Unsere Autorin schildert, wie stigmatisierend es ist, wenn man vor anderen
       Menschen in Bus und Bahn den Leistungsbescheid der Behörde vorweisen muss.
       
   DIR Alleinerziehende in Berlin: Allein gefährdet
       
       Alleinerziehende leiden oft an psychischen und körperlichen Problemen. Bei
       der Landesgesundheitskonferenz werden Gesundheitsziele für sie vorgestellt.
       
   DIR Alleinerziehende Mütter: Das Leben im Nacken
       
       Seit Christina Sander Mutter geworden ist, ist sie von Armut gefährdet, und
       die Preise steigen. Wie sich eine Alleinerziehende durch die Krise boxt.
       
   DIR Weniger Lebensmittel, größerer Andrang: Tafeln unter großem Druck
       
       Mehr als zwei Millionen Menschen nutzten 2022 die Lebensmittelausgaben für
       Bedürftige. Das sind etwa 50 Prozent mehr als im Vorjahr.