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       # taz.de -- Über Fachkräftemangel und Einwanderung: Vom Wandern und Sichwundern
       
       > Deutschland ist auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Doch es
       > gibt so viele Hürden. Über Migrationshintergründe und
       > Begleiterscheinungen.
       
   IMG Bild: Mehr Pflegekräfte und Ärzteschaft braucht das Land
       
       Siebzehn Jahre lang habe ich für die taz über Einwanderung geschrieben,
       davor habe ich im Radio über das Thema berichtet, davor bei einem
       Forschungsinstitut gearbeitet, das sich mit Arbeitsmigration befasst,
       zwischendurch bin ich auch selber mal ein bisschen migriert. Ich habe in
       diesen Jahren Menschen mit den verschiedensten Migrationshintergründen und
       -gründen getroffen und viele Leute kennengelernt, die sich mit dem Phänomen
       und seinen Folgen und Begleiterscheinungen beschäftigen.
       
       Ich erinnere mich an einen Sozialarbeiter, der mir von seinem
       Berufseinstieg in einem Heim für unbegleitete minderjährige Geflüchtete
       erzählte. Mit einem weiteren Berufsanfänger war er dort für 80 Jugendliche
       zuständig, die ihre vertraute Umgebung, ihre Familien verlassen, vor oder
       auf der oft mehrjährigen Flucht teils Furchtbares durchgemacht hatten, und
       die nun eine neue Sprache, teils auch eine neue Schrift lernen, sich an
       neue Lebensbedingungen gewöhnen mussten: knapp eine Sozialarbeiterstunde
       pro Woche für jede*n dieser jungen Menschen.
       
       Auf meinem Berliner U-Bahnhof schliefen eine Zeitlang ein paar junge
       Afghanen, alle so dünn und schmal, als hätten sie ihr Leben lang nicht
       genug zu essen bekommen. Sie bettelten um Geld, für das sie Drogen kauften.
       Sie kommen aus einem Land, das seit 1978 höchstens kurze Phasen ohne Kriege
       und bewaffnete Auseinandersetzungen erlebt hat.
       
       Wer nicht aus sehr privilegierten Verhältnissen stammt, bringt von dort in
       der Regel keinen Schulabschluss mit, der hier eine Chance auf Anerkennung
       hat. Ich weiß nicht, wo die jungen Männer jetzt sind. Ich kann nicht
       glauben, dass sie hergekommen sind, um in Deutschland an Drogen zu sterben.
       
       ## „Wir brauchen diese Jungs!“
       
       Ich erinnere mich an eine Tagung zu Fachkräftemangel mit einer
       Handwerkerinnung, deren Vertreter mir kurz Angstschauer verursachten: ihre
       Kreuze zu breit für die Anzüge, in die sich sich gezwängt hatten, ihre
       Haare zu kurz rasiert. In der Pause stand ich verwundert bei ihnen; sie
       schimpften über den damaligen CSU-Innenminister Seehofer, der es ihnen
       schwer mache, junge Geflüchtete auszubilden. „Die kommen zu uns, machen
       Praktikum, sind fleißig, wollen unbedingt arbeiten! Aber wir dürfen sie
       nicht ausbilden, weil sie keine Schulabschlüsse oder falsche
       Aufenthaltstitel haben“, sagte einer: „Wir brauchen diese Jungs!“
       
       Ich erinnere mich an den Vortrag einer Person, die Pflegekräfte für eine
       Klinik in einer deutschen Großstadt anwirbt. Es ging um Personal mit
       besonderen Kenntnissen, weshalb die Angeworbenen einige Jahre
       Berufserfahrung haben müssen: „Viele haben da schon Familie, Kinder. Wenn
       sie hier den Anerkennungsprozess durchlaufen und genug Deutsch gelernt
       haben, um als Fachkräfte eingesetzt zu werden, können sie ihre Familien
       nachholen – und merken, dass sie mit ihrem Pflegergehalt in unserer Stadt
       gar keine Wohnung finden können, dass es keine Kitaplätze gibt.“ Die Klinik
       verliere dadurch einen Teil der Fachkräfte wieder – nicht durch Rückkehr,
       sondern durch Abwanderung in bezahlbarere Gegenden Deutschlands.
       
       Ich erinnere mich an einen Arzt, der aus einem arabischen Land an ein
       Krankenhaus in Sachsen angeworben worden war. Er erzählte mir, wie eine
       Patientin, der er als Neurologe geholfen hat, nach einem Unfall wieder
       sprechen zu lernen, ihm dann erklärte, Deutschland werde „islamisiert“.
       
       In seiner Abteilung der Klinik war nur der Chef gebürtiger Deutscher – und
       auch der kam aus einem anderen Bundesland. Alle weiteren Ärzt*innen waren
       in anderen Ländern ausgebildet und von dort angeworben worden. Sachsen, so
       las ich kürzlich in einer Studie, habe das beste Bildungssystem in
       Deutschland. Die Studie macht übrigens die [1][„Initiative Neue Soziale
       Marktwirtschaft“].
       
       26 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://lobbypedia.de/wiki/Initiative_Neue_Soziale_Marktwirtschaft
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
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