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       # taz.de -- Internationale Beziehungen: Global bescheidener auftreten
       
       > Die Welt ist zu komplex, um vom „Westen“ versus Autokratien zu reden.
       > Diese Arroganz ist bei der Suche nach neuen Partnern wenig dienlich.
       
       Der Westen – das ist mehr als die Himmelsrichtung, aus der das Wetter nach
       Europa kommt. Es gibt auch den politischen Westen. Deutschland wie Europa
       wird „der Westen“ gerne als politische Identität angeboten. Der politische
       Westen teilt sich in die Idee vom Westen und den realen Westen. Die Gegner
       der Idee des Westens ebenso wie die Verteidiger des realen Westens haben
       Interesse daran, die Differenz zwischen Idee und Realität zu leugnen.
       
       Die Idee des Westens – das ist die Französische Revolution, das ist die
       Westminsterdemokratie Englands, das ist die amerikanische Verfassung – und
       das [1][deutsche Grundgesetz]. Es ist Demokratie, Herrschaft des Rechts,
       Gewaltenteilung, Meinungs- und Pressefreiheit ebenso wie die
       Gewerbefreiheit. Die Idee des Westens mündete im demokratischen
       Kapitalismus. Sie brachte Freiheit und Wohlstand weit über Europa und
       Nordamerika hinaus.
       
       Die Idee des Westens hat sich universalisiert und fand ihren
       augenfälligsten Niederschlag in der [2][Allgemeinen Erklärung der
       Menschenrechte], die alle Mitglieder der Vereinten Nationen ratifizierten.
       Die Gegner der Idee des Westens, wie China oder Russland, versuchen, die
       Staaten des globalen Südens hinter Autokratien zu versammeln. Sie sehen
       eine Bipolarität zwischen Nord und Süd.
       
       Die Vertreter des Status quo in Europa wie den USA teilen die Welt gerne in
       eine neue Blockkonfrontation zwischen Demokratie und Autokratie. Beide
       bipolaren Sichtweisen werden der Realität einer multipolar gewordenen Welt
       mit vielen Akteuren und Machtzentren nicht gerecht. Heute gefallen sich
       Länder wie China und Russland darin, die universellen Rechte der UN-Charta
       als „westliche“ Werte zu diskreditieren und zu denunzieren. Das ist falsch
       und gefährlich.
       
       ## Keine reine Weste
       
       Der reale Westen aber hat viel dazu beigetragen, dass Autokraten das
       gelingen kann. Von Beginn an stand der reale Westen im Konflikt zur Idee
       des Westens. Die Herausbildung der Vereinigten Staaten von Amerika geschah
       auf der Basis einer großartigen Verfassung, begleitet vom Rassismus und der
       Sklaverei gegen Schwarze, der Gewalt und dem Vertragsbruch gegenüber den
       indigenen Völkern Nordamerikas – zu besichtigen in zwei großartigen Museen
       in Washington D.C. Die Westminsterdemokratie England beutete seine Kolonien
       in Indien und Afrika brutal aus.
       
       Das Land der Französischen Revolution hielt sich Kolonien von Vietnam über
       Algerien bis zum Sahel. Die kaiserliche deutsche Kolonialmacht war weit von
       der Idee des Westens entfernt – trotzdem brauchte Deutschland 50 Jahre
       Demokratie, bis es seinen [3][Völkermord in Namibia] anerkannte. Es gibt
       nicht nur diese finstere Geschichte. Der reale Westen hat Europa –
       gemeinsam mit Stalins Sowjetunion – [4][vom Faschismus befreit]. Eine große
       historische Leistung.
       
       Mit dem Sieg über Nazi-Deutschland entstand die bis heute bestehende
       völkerrechtliche Ordnung im Rahmen der Vereinten Nationen. Aber sie
       spiegelt auch die Machtverhältnisse von 1945 wider, als Indien und China
       arm und kolonialisiert waren – während Frankreich und Großbritannien
       Weltmächte zu sein glaubten. Die Welt hat sich seitdem verändert. Die Idee
       des Westens aber blieb auch nach 1945 global im Widerspruch mit der
       Realität.
       
       Indien musste sich die Demokratie im gewaltlosen Widerstand gegen England
       erkämpfen. Algerien und Vietnam befreiten sich gewaltsam von Frankreich.
       Vietnam musste danach erleben, wie die großen USA versuchten, das kleine
       Land „in die Steinzeit zurück zu bomben“. Die USA überzogen ganz Südamerika
       mit Militärdiktaturen. Sie überfielen nicht nur das winzige Grenada,
       sondern griffen völkerrechtswidrig den Irak an.
       
       ## Auf Kosten der Demokratie
       
       Der demokratische Kapitalismus Europas wie der USA lebte den Widerspruch
       zwischen Demokratie und Kapitalismus im Zweifel regelmäßig zulasten der
       Demokratie aus. Ob Südafrika, Brasilien oder Chile, in all diesen Ländern
       musste die Idee des Westens gegen den realen Westen erkämpft werden, von
       der Zivilgesellschaft und mit der Waffe in der Hand. [5][Nelson Mandela]
       und Ronnie Kasrils in Südafrika, [6][Lula da Silva] und Dilma Rouseff in
       Brasilien verkörpern beeindruckend die Idee des Westens.
       
       Aber Südafrika und Brasilien sind mit dem demokratischen Indien Mitglieder
       der [7][Staatengemeinschaft BRICS], die sich explizit gegen „den Westen“
       gegründet hat und China wie Russland zu seinen Mitgliedern zählt. Der
       globale Süden hat die Widersprüche des demokratischen Kapitalismus Europas
       wie der USA aufmerksam wahrgenommen. Denn sie reihen sich in die lange
       Kette von kolonialer Selbstüberhöhung und Demütigung der Nicht-Weißen ein.
       
       Der US-Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington („Clash of
       Civilizations“), bestimmt kein antiimperialistischer Ideologe, schrieb:
       „Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen
       oder Werte oder seiner Religion (…), sondern vielmehr durch seine
       Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen
       Westler diese Tatsache; Nichtwestler vergessen sie niemals.“
       
       Der [8][Globalhistoriker Jürgen Osterhammel], der 2014 Festredner zum 60.
       Geburtstag von Angela Merkel war, bemerkt zu Recht, dass „in den
       Begriffskern des Westens die Vorstellung der eigenen Überlegenheit
       eingebaut ist. Der Nicht-Westen wird stets inferior gesehen. Westen ist
       deshalb ein Begriff der Arroganz“. Und: „Kein Westen ohne
       Zivilisationsgefälle“. Westen ist kein durchweg positiver und erst recht
       kein unschuldiger Begriff.
       
       ## „West gegen den Rest“ ist passé
       
       Es ist im pragmatischen Eigeninteresse Europas und Deutschlands, sich von
       diesem Konstrukt Westen zu verabschieden und global bescheidener
       aufzutreten. Die Zeiten, als der Westen, die USA und Europa, sich diese
       Arroganz global leisten konnte, sind vorbei. Der demokratische Kapitalismus
       ist nicht mehr das Rollenmodell für Wachstum und Wohlstand – zu besichtigen
       am wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.
       
       Die Befreiung von 800 Millionen Menschen aus absoluter Armut, die
       Herausbildung einer globalen Mittelschicht war nicht möglich ohne die
       Globalisierung. Aber sie geschah ohne Demokratie und ohne Freiheit. Auch
       wenn es bitter ist: Das Wohlstandsmodell des demokratischen Kapitalismus
       hat einen echten Konkurrenten bekommen. Wer in dieser Welt den Kampf „West
       gegen den Rest“ ausruft, wird in weiten Teilen der Welt als hochmütiger
       Erbe einer finsteren Geschichte gesehen.
       
       Verkannt wird, dass es unzählige große und kleine, demokratische wie
       semiautokratische Länder gibt, die sich weder exklusiv China noch den USA
       zuordnen wollen. Das gilt für Länder, die in ihrer Sicherheit von den USA,
       aber im Handel von China abhängig sind, von Japan über Südkorea bis
       Singapur. Das gilt für das autokratische Vietnam. Es gilt für Demokratien
       wie Südafrika oder Indien, obwohl sie militärisch mit Russland
       zusammenarbeiten.
       
       Die multipolare Welt, in der wir schon jetzt leben, wird nicht von starren
       Blöcken wie vor 1989 bestimmt. In ihr dominieren komplizierte
       Aushandlungsprozesse, in denen konkrete Angebote und Interessen den
       Ausschlag geben. Europa kann da durchaus selbstbewusst auftreten. Im
       Verhältnis zu Indonesien oder Vietnam, Südafrika oder lateinamerikanischen
       Staaten hat Europa auch in der Konkurrenz mit China viel zu bieten – zumal
       die Realität der Zinszahlungen im Rahmen der chinesischen [9][Belt and
       Road] Initiative im Globalen Süden zunehmend sauer aufstößt.
       
       ## Ein ökonomisch resilientes Europa
       
       Die Idee Europa ist, so Jürgen Osterhammel, weit weniger „ideologisch,
       moralisch und normativ aufgeladen“ als die des Westens, trotz seiner
       Kolonialgeschichte. Ein souveräneres Europa lebt nicht in Äquidistanz zu
       den USA und China. China ist für Europa Partner, Wettbewerber und
       systemischer Rivale. Die USA sind Partner, insbesondere in der
       Sicherheitspolitik, und Wettbewerber. Ob sie unter einer neuen
       Trump-Administration auch zu einem systemischen Rivalen würden, weil sie
       sich von der Idee des Westens verabschieden würden, ist eine offene Frage.
       
       Ökonomisch aber ist der Westen eine Fiktion. Auf den Märkten sind die USA
       und Europa Konkurrenten, keine Verbündeten. Joe Biden hat den Zollkrieg von
       Trump gegen Europa, das „worse than China“ sei, nicht beendet, sondern
       zuletzt bei den Zöllen draufgesattelt. In einer multipolar gewordenen Welt
       ist die zukünftige Ausgestaltung der internationalen Ordnung offen. Europa
       hat ein großes Interesse an der Bewahrung der regelbasierten Ordnung auf
       der Basis der UN-Charta, am Schutz unserer Lebensgrundlagen.
       
       Dafür muss Europa sich ertüchtigen. Dazu gehört mehr ökonomische Resilienz,
       wie sie [10][Mario Draghi] gerade treffend skizzierte. Und dazu gehören
       auch die von Ursula von der Leyen geforderten verstärkten gemeinsamen
       Rüstungsanstrengungen. Es geht um mehr europäische Souveränität. Die
       globalen Herausforderungen, von der Klimakrise, Ungleichheit, Pandemien bis
       hin zu Kriegen und Konflikten, kann Europa nicht allein, auch nicht allein
       mit den USA angehen.
       
       Dafür braucht es Partner in der Welt. Alte, bewährte Partnerschaften, aber
       eben auch neue Partner. Die gewinnt man nicht, in dem man „den Westen“
       beschwört. Es ist höchste Zeit, das Gerede von „dem Westen“ ad acta zu
       legen. Es schadet Europa mehr, als es nützt. Denn der politische Westen,
       der 1789 und die Französische Revolution, der die amerikanische Verfassung
       und die Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte meint, war nie der reale
       Westen.
       
       Wir leben in einer multipolar gewordenen Welt. Wer in ihr den Süden
       gewinnen will, muss sich von „dem Westen“ verabschieden. Von seiner
       arroganten Rhetorik, aber vor allem von der Gewalt des realen Westens. Nur
       so kann die Idee des politischen Westens als universelle Vision überleben.
       
       30 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /75-Jahre-Grundgesetz/!6009175
   DIR [2] https://www.ohchr.org/en/human-rights/universal-declaration/translations/german-deutsch?LangID=ger
   DIR [3] /Deutscher-Voelkermord-in-Namibia/!5907656
   DIR [4] /Gedenktag-8-Mai/!5930089
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