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       # taz.de -- Verletzte Taube auf Straßenbahnschienen: Der letzte Flügelschlag
       
       > Ein hilfloses, todgeweihtes Tier zu retten, ist ein menschlicher Impuls.
       > Aber ist es auch in jedem Fall richtig?
       
   IMG Bild: Als würde sie sich den Hals aus- und einrenken: eine Taube
       
       Wir stehen am Bahnsteig und warten. Neben uns verlaufen zwei
       Schienenstrecken, auf denen Straßenbahnen in unterschiedliche Richtungen
       fahren. „Was ist das?“, fragt mein Gesprächspartner. Wir hören ein scharfes
       Geräusch, es klingt unangenehm, gefahrvoll. Unsere Augen wandern: Woher
       kommt es? Da sehen wir auf dem Gleis vor uns zwischen den Schienensträngen
       [1][eine Taube]. Eine helle Taube. Eine [2][Türkentaube].
       
       Sie zappelt, schlägt mit ihren Flügeln, sodass sie über den Boden ratschen.
       Sie wirft ihren Hals vor und zurück. Es ist, als würde er sich aus- und
       einrenken. Hat sie sich das Genick gebrochen? Es tut weh zu sehen, wie sie
       sich so windet. Dann wird die Taube still. Die Bewegungen hören auf. Sie
       sitzt zitternd da.
       
       Es ist klar, die nächste Straßenbahn wird sie erwischen. Ich suche im Handy
       nach der Nummer der [3][Stadttaubenhilfe], einer Organisation, von der ich
       weiß, dass sie verletzte Tiere abholt. Doch in dieser Stadt finde ich
       keine.
       
       Ich schaue die Straße hinauf und hinunter, es ist keine Bahn in Sicht. Kann
       ich es wagen, denke ich. Aber wie fasse ich sie an? Dann fällt mir etwas
       ein. Ich ziehe meine Jacke aus, leere die Taschen. Es ist eine weiche
       Wolljacke, meine Lieblingsjacke. „Sag frühzeitig Bescheid, wenn Du hinten
       an der Straße eine Bahn siehst“, sage ich zu meinem Gesprächspartner. Dann
       trete ich zu der Taube.
       
       ## Als läge etwas Heiliges in meinen Händen
       
       Ich gehe in die Hocke, umfasse das Tier vorsichtig mit meiner Jacke und
       hebe sie hoch. Die Jacke bleibt dabei fast an einem Zweig hängen, der aus
       dem Gleis wächst. Die Taube bleibt ganz ruhig. Es ist fast, als hätte sie
       darauf gewartet, dass sie jemand aufhebt.
       
       Ich spüre durch die Jacke etwas Lebendiges. Etwas Warmes, Stimmiges, fast
       ist es, als läge da etwas Heiliges in meinen Händen. Ich habe noch nie eine
       Taube gehalten. Vorsichtig steige ich über die Schiene und trage sie auf
       ein gegenüberliegendes Rasenstück. Als ich die Taube auf dem Gras ablege,
       beginnt sie wieder zu zucken. Sie schlägt mit den Flügeln um sich, verdreht
       den Hals. Der Kopf zuckt, so dass ich kaum zuschauen kann. Dann plötzlich
       beruhigt sie sich wieder. Ihr Kopf rastet ein. Sie sitzt still da. Zu
       still.
       
       Sie wird es nicht schaffen, denke ich. Sie wird sterben. Vielleicht müsste
       man sie erlösen. Aber das schaffe ich nicht. Die Fahrbahn ist frei. Ich
       gehe wieder über die Schienen zurück.
       
       „Hattest Du keine Angst, dass sie dich beißt“, fragt mich der Freund. „Dass
       sie mit dem Schnabel zuschnappt?“ Komisch, denke ich. Daran hatte ich gar
       nicht gedacht. In dem Moment in meinen Händen schien die Taube so weit
       davon entfernt, mich zu verletzen. Aber ja, was hätte passieren können.
       
       Wir steigen in die Bahn und fahren zu einem Konzert. Und noch später, als
       ich umhüllt von Musik und Menschen da stehe, denke ich an die Taube. An
       dieses Gefühl, als ich sie hielt. Wie warm und weich sie sich durch die
       Jacke anfühlte. Plötzlich treten Bilder vom Heiligen Geist in meinen Kopf,
       der so oft durch eine Taube, gehalten von Händen, dargestellt wird. Was war
       an dem Erlebnis so besonders? Wie es der Taube jetzt wohl geht?
       
       Später erzähle ich einer Freundin von der Taube: „Bist Du sicher, dass sie
       nicht gerade auf das Gleis wollte“, fragt sie und lacht etwas. „Vielleicht
       wollte sie ja sterben. Vielleicht hat sie sich ja den ganzen Tag dorthin
       geschleppt.“
       
       Ich blicke sie an. Ja, warum nicht, denke ich dann. Erst einmal ist es eine
       bizarre Vorstellung. Aber auch eine, die mein Denken umstellt.
       
       Vielleicht ist es tatsächlich ja gar nicht so richtig, die Dinge in Ordnung
       bringen zu wollen. Etwas zu retten. Und sich womöglich selbst sogar damit
       noch in Gefahr zu bringen.
       
       Vielleicht stand die Taube auch für etwas anderes. Wir bringen eine
       Kraftanstrengung auf, um jemanden zu retten und auf die vermeintlich
       sichere Seite zu bringen. Doch wann ist das richtig? Vielleicht ist das ja
       gerade der Untergang. Für beide.
       
       6 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Christa Pfafferott
       
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