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       # taz.de -- Konsequenzen nach Österreichwahl: Engagiert und verbissen
       
       > Leidenschaft kann in Sturheit enden. Die österreichischen
       > Sozialdemokraten müssen die Ursachen für das Wahlergebnis auch bei sich
       > selbst suchen
       
   IMG Bild: Andreas Babler, Vorsitzender der Sozialdemokraten (SPÖ), nach der Bundestagswahl in Österreich, 30. September 2024
       
       Manchmal, nein, unglücklicherweise sogar eher häufiger, muss ich an die
       schöne Formulierung von George Orwell denken: „Wie bei den Christen sind
       beim Sozialismus seine Anhänger die schlechteste Reklame.“ Orwell dachte an
       wirre Zausel, aber auch an Doktrinäre, an Besserwisser, die sich so gerne
       selbst reden hören, und an Charaktere ähnlicher Art. Sie kennen das. Sie
       können gerne auch statt „Sozialismus“ eine ganze Reihe unterstützenswerter
       Anliegen einfügen.
       
       Sie stoßen bestimmt in jedem Fall auf ganze Bataillone von Anhängern, die
       „die schlechteste Reklame“ der jeweiligen Sache sind. Nun mag es so sein,
       dass jede gute Sache auch Schrullis und Spinner aller Art anzieht wie das
       Licht die Motten. Hinzu kommt, dass jede echte Überzeugung und die
       Leidenschaftlichkeit, mit der man für sie eintritt, die Gefahr der
       Über-Überzeugtheit schon in sich trägt und damit das Risiko, in einen
       Tunnelblick zu geraten.
       
       Damit geht die Gefahr einher, den Rest der Welt nur mehr in Verbündete und
       Feinde zu unterscheiden. Oder dass wir womöglich glauben: Wenn unsere
       Argumente noch nicht überzeugen, wird es vielleicht besser, wenn wir
       besonders laut und ohrenbetäubend brüllen.
       
       Grundsätzlich sind wir Menschen sowieso gut darin, die Fehler der anderen
       krass wahrzunehmen, den eigenen Unzulänglichkeiten gegenüber aber große
       Nachsicht walten zu lassen. Für die eigenen Fehler, sofern wir ein
       Bewusstsein für diese überhaupt zulassen, finden wir stets mildernde
       Umstände.
       
       ## Unterstützung für Sozialdemokraten
       
       Ganz nebenbei gesagt, um hier nicht selbstgerecht zu erscheinen, glaube
       ich, dass es eine ausgesprochen herausfordernde Aufgabe ist, für die Sache,
       der man sich verschreibt, eine gute Reklame zu sein. Dies nur als eine
       Bemerkung, damit niemand glaubt, ich sei selber mal wieder fein raus.
       
       In Österreich hatten wir gerade Nationalratswahlen. Von Österreich hört man
       nur, wenn wieder einmal etwas mit Nazis ist oder mit gestörten Männern, die
       Frauen in Keller einsperren. Die [1][Rechtsextremisten] landeten mit rund
       29 Prozent auf Platz eins, die Konservativen stürzten auf 26 Prozent ab und
       retteten sich auf Platz zwei, und die Sozialdemokraten landeten weit
       dahinter, bei 21 Prozent.
       
       Ich habe nicht nur die Sozialdemokraten unterstützt, sondern explizit deren
       neuen Vorsitzenden, Andreas Babler. Aus mehreren Gründen, deren wichtigster
       davon: In einer orbanistischen Quasi-Diktatur will ich nicht leben, also
       muss man alles tun, um sie zu verhindern.
       
       In den Medien spricht man jetzt gerne von „Verlusten“ der Konservativen und
       von einem „Debakel“ der Sozialdemokraten, weshalb viele andere Unterstützer
       von Andreas Babler jetzt erklären, dass schon diese Formulierung eine fiese
       journalistische Verschwörung sei. Schließlich habe man nicht nennenswert
       verloren, die Konservativen schon.
       
       ## Es braucht Selbstreflexion
       
       Ich verfolge diese Verbissenheit mit einer gewissen Fremdscham für die
       eigenen Leute. Denn: 21 Prozent sind natürlich ein Fiasko, und der Umstand,
       dass schon die Wahlen vor fünf Jahren ein Debakel waren, macht es nicht
       wirklich kleiner. Manche glauben gar, es sei ein Erfolg, da man trotz
       „schwieriger Umstände“ das Ergebnis gehalten habe.
       
       Oh mein Gott, wenn ich das höre, will ich gleich versinken. Wenn [2][man
       selbst stagniert, gleichzeitig die Grünen verlieren] – und man alles, was
       man an Stimmen von diesen gewinnt, in gleichem Umfang ins
       Nichtwählersegment verliert, dann ist das, sorry my french, richtig Oarsch.
       
       Wenn wir dieses Geschehen als Fingerzeig nehmen, der nicht nur für
       Österreich ein paar Lektionen bereithält, dann müsste man daran
       herumzugrübeln beginnen: Eine Erwartung war ja, dass man mit einem
       geerdeten, volkstümlichen, vom Habitus her „proletarischeren“
       Parteivorsitzenden und einer energetischen Unterstützerbasis die
       Vertrauensverluste in jenen Milieus ein wenig gutmachen kann, die sich von
       den „abgehobenen“ Progressiven in den letzten Jahrzehnten „verlassen“
       fühlten.
       
       Fakt ist: Man hat hier gar nichts gewonnen und in der „Mitte“ – in eher
       bürgerlichen, konservativen Arbeitnehmermilieus – sogar verloren.
       Ziemlicher Mist. Gewiss: Dass Babler und sein Team von Teilen der eigenen
       Partei teilweise sabotiert wurden, hat dazu auch beigetragen.
       
       ## Alles besser als gar keine Meinung
       
       Das ist übrigens das Blöde an der Realität, das es auch so schwer macht,
       aus Erfahrungen zu lernen: Sie ist multikausal. Sie ist komplex. Es sind
       immer verschiedene Dinge zugleich wahr. Was es erleichtert, dass sich alle
       den für sie bequemsten Aspekt des Wahren herauspicken.
       
       Weil es ein so schwieriges Geschäft ist, sich einer Sache mit Leidenschaft
       zu verschreiben, und weil es irgendwie oft auch uncool ist, für etwas
       einzutreten und dann auch auf Spur zu bleiben, wenn einem der Wind ins
       Gesicht bläst, ziehen manche Leute den Schluss, dass es besser ist, für
       nichts einzutreten.
       
       Das ist natürlich nicht cool, sondern die billigste Haltung überhaupt. Wir
       kennen diesen Typus der neutralen Unberührtheit, der sich die Ironie und
       Sarkasmus in alle Richtungen erlaubt und glaubt, der „Unabhängigismus“ wäre
       auch noch eine intellektuell besonders überlegene Position.
       
       Bei Reinald Goetz habe ich dazu gerade sehr schöne Zeilen in seinem
       Journalband „wrong“ gelesen. „Spießertum“, nennt er diese „Weltdistanz“,
       und „außerdem ist aufregenden Dingen gegenüber die kühle, unaufgeregte
       Reaktion der Souveränität auch ganz einfach FALSCH, defizitär“.
       
       Sie sei „Kompetenzmangel, die Unfähigkeit nämlich, auf Anlässe adäquat zu
       reagieren. Die Machtgeste der inneren Unabhängigkeit interessiert die Welt
       gar nicht, sie schränkt nur die eigene Resonanzfähigkeit ein, das
       weltadäquate Erkennen und Verstehen. Und die Stilisierung dieses Defizits
       zum überlegenen Verfahren verhindert, dass man die Passionen des
       Involvements und der Hitze und deren Schönheit entdeckt.“
       
       4 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Wahlerfolg-der-FPOe-in-Oesterreich/!6036899
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Misik
       
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