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       # taz.de -- Roman über chilenische Militärdiktatur: Im Strudel aus Bildern
       
       > Nona Fernández' packender Roman „Twilight Zone“ über Verbrechen der
       > Diktatur in Chile und ihre Aufklärung beeindruckt durch seine
       > literarische Form.
       
   IMG Bild: Santiago de Chile, 2. September 2023. Eine Frau hält die Fotografie ihres verschwundenen Großvaters bei einer Gedenkveranstaltung
       
       Einbildungskraft ist Arbeit. Im Falle von „Twilight Zone“, einem Roman der
       chilenischen Schauspielerin und Autorin Nona Fernández, ist es sogar
       Schwerstarbeit. Denn sie stellt darin die Mühsal, die Last von Erinnerungen
       an zeitlich zurückliegende Ereignisse dar, genauer, die Aufklärung von
       politischen Staatsverbrechen.
       
       Fernández schildert sie mit der Präzision einer archäologischen Grabung,
       ihr literarisches Schreiben ist Spurensicherung gegen das Vergessen.
       
       Ausgangspunkt ist eine reale Enthüllungsstory, 1984 in dem chilenischen
       Magazin Cauce erschienen. Ein chilenischer Luftwaffenoffizier, Andrés
       Morales, packte damals unter klandestinen Umständen und Gefahr für sein
       eigenes Leben aus und gab zu, Oppositionelle wie den Gewerkschaftssekretär
       José Weibel widerrechtlich gefangengenommen, verschleppt und gefoltert zu
       haben.
       
       ## Schicksale der Verschwundenen
       
       Damit brachte er einen Stein ins Rollen, denn viele Angehörige „der
       Verschwundenen“, wie jene Menschen genannt wurden, die unter damals noch
       ungeklärten Umständen während der Pinochet-Diktatur entführt wurden,
       wussten nichts über das Schicksal der ihnen Nahestehenden, die etwa in
       Kalkminen hingerichtet wurden.
       
       [1][Zehntausende Menschen sind in Chile zwischen 1973 und 1990 der
       Schreckensherrschaft von Diktator Augusto Pinochet und seiner
       Todesschwadronen zum Opfer gefallen.] Die reale historische Aufarbeitung
       jener Gewalttaten und der Verwerfungen von 17 Diktaturjahren dauert bis
       heute an.
       
       Sie beschäftigt die chilenische Politik und Justiz nachhaltig und hat auch
       in der Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. [2][Ersichtlich wird das an
       den Protesten rund um die geplante Verfassungsänderung,] mit der Gesetze
       aus der Zeit der Diktatur rückgängig gemacht werden sollten.
       
       ## Sich einen Reim auf Irrationales machen
       
       Nona Fernández, geboren 1971 in Santiago de Chile, ist mit der
       Ungewissheit, der Angst und der Paranoia der Pinochet-Zeit bestens
       vertraut. Sie macht sich in „Twilight Zone“ einen Reim auf jene Ereignisse,
       für die sie sich aus einer rationalen, humanen Beobachterinnenperspektive
       eigentlich gar keinen Reim machen kann.
       
       Der Herzenstakt ihres Romans ist die Verschränkung verschiedener Zeitebenen
       und seine poetische Form. Ihre Sprache beschönigt nichts, sie ist karg,
       sparsam, aber auch vorsichtig gemeißelt. Um Unsagbares in passende Worte zu
       fassen und das Grauenvolle überhaupt erzählbar machen zu können, nutzt
       Fernández die Repetition als Stilmittel.
       
       „Ich stelle mir vor“, mit diesen Worten hebt die Ich-Erzählerin an, von der
       wir nicht den Namen erfahren – dafür wissen die Leser irgendwann, wie sie
       „Strudel aus Bildern“ konsumiert und wieder vergisst, weitere Bilder
       „aufspürt“ und „durchforstet“. Die Ich-Erzählerin versetzt sich oft in die
       Opfer, stellt sich deren Alltag im Detail vor.
       
       ## Ein Folterknecht packt aus
       
       Wieder und wieder: „Ich stelle mir vor.“ Geschildert werden so auch die
       Beweggründe eines Folterknechts, im Jahr 1984 auszupacken. Rekonstruiert
       werden seine Verbrechen, in die er im Jahrzehnt zuvor verwickelt war.
       
       Diese Vorgänge, nach und nach um Details ergänzt, werden mit der Chronik
       einer chilenischen Jugend in den mittleren und späten 1980ern, vor allem
       der Übergangsphase von der Diktatur in die Demokratie (der transición)
       gespiegelt. Einer Umbruchzeit, als aus der Ungewissheit über die Schicksale
       der Verschwundenen allmählich Gewissheit über ihre Ermordung wurde und
       damit die Wut in der Gesellschaft und der anhaltende Protest gegen die
       Diktatur und die von vielen als zu zaghaft empfundene Demokratisierung
       zunahmen.
       
       Fernández schreibt aus Sicht einer Journalistin und
       Dokumentarfilmregisseurin von heute, die ihren familiären Alltagstrott mit
       dem prekären Alltag von Familien in den 1970ern vergleicht, Familien,
       welche durch die Verfolgung in der Diktatur auseinandergerissen wurden. Wie
       sie Fakten ergänzt, dosiert, Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven
       darstellt, dabei Ereignisse wiederholt, ist atemberaubend zu lesen.
       
       ## Gedenkorte ohne staatliche Unterstützung
       
       Die Form, in die sie „Twilight Zone“ gegossen hat, mischt historische
       Fakten mit persönlichen Beobachtungen, Aussagen vor Gericht mit
       investigativer Recherche. Auch der Kampf um die einsetzende
       Erinnerungskultur ist ein Thema. In Chile müssen Gedenkorte an historischen
       Schauplätzen ohne staatliche Unterstützung auskommen.
       
       Ablenkung, ja sogar Trost stiften US-amerikanische TV- und Poperzeugnisse
       der 1960er und 1970er Jahre, eingängige Popsongs von Billy Joel und
       Sci-Fi-Märchen aus dem Space-Age. Ohrwürmer, die nicht aus dem Gedächtnis
       weichen, genauso wenig wie Erinnerungen an die Diktatur.
       
       Titelgebend ist eine [3][TV-Serie, die in den späten 1960ern auch im
       westdeutschen Fernsehen lief und die Weiten des Weltraums mit den
       Spionagetätigkeiten des Kalten Krieges verquickt]e. Der
       Luftwaffenoffizier, der mit neuer Identität ausgestattet schließlich in
       Frankreich als Lkw-Fahrer arbeitet, erinnert die Autorin an Colonel Adam
       Cook, der in einer Folge von „Twilight Zone“ mit seiner Raumkapsel auf
       einem weit entfernten Planeten im Weltraum notlandet.
       
       Diese vermeintliche Abschweifung trägt zur literarischen Vergegenwärtigung
       von Unrecht bei. Geschichtsbewältigung nimmt bei Fernández eine
       unpathetische und doch beherzte poetische Form an.
       
       14 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /50-Jahre-Putsch-in-Chile/!5957119
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   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=pzz6-BOmbM4&list=PLVlGgp-kfHkAxKTbcgcRVSm7ozJrKkp5y&index=4
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
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