URI: 
       # taz.de -- Migrationspolitik der SPD: Der Abschiebekanzler
       
       > Verschärfen, kürzen, abschieben: Olaf Scholz macht Migration zur
       > Chefsache. In seiner Partei bleibt die Kritik an seiner harten Gangart
       > leise.
       
   IMG Bild: Bundeskanzler Scholz Mitte September im usbekischen Samarkand
       
       Berlin/Bremen/Taschkent/Astana taz | Der Mann, der Mitte August an der
       Einbürgerungsfeier im Bremer Rathaus teilnimmt, sieht ergriffen aus. Er
       singt die Nationalhymne mit, tritt anschließend ans Mikrofon. „Ihre
       Geschichten beeindrucken und, ja, berühren mich“, wendet er sich an die
       „lieben Neubürgerinnen und Neubürger“.
       
       Es ist derselbe Olaf Scholz, der knapp [1][einen Monat später im Bundestag]
       aufzählt, was er und seine Regierung alles getan haben, um Asylbewerbern
       das Leben hier so schwer wie möglich zu machen: Abschiebegewahrsam
       verlängert, Durchsuchungen in Flüchtlingseinrichtungen ermöglicht, die Zahl
       sicherer Herkunftsländer ausgeweitet, Leistungen gekürzt. „Das haben wir
       getan.“ Scholz sieht richtig stolz aus, als er gegen die „Sprücheklopfer“
       von der Union austeilt.
       
       Wer hat hier den härtesten Ton drauf, na? Zwischen den beiden Reden liegen
       vier Wochen, zwei Landtagswahlen und mehrere [2][Messerattentate].
       
       Migration ist seither Thema Nummer eins, die Debatte dreht sich immer
       schneller und mit zunehmendem Rechtsdrall. Schon nächste Woche könnte der
       Bundestag das sogenannte Sicherheitspaket beschließen, das unter anderem
       vorsieht, dass Menschen, für deren Asylverfahren eigentlich ein anderes
       EU-Land zuständig ist, in Deutschland keine Sozialleistungen mehr erhalten.
       Das Ziel: die sogenannte irreguläre Migration begrenzen, mehr Menschen
       zur Ausreise bewegen.
       
       ## Zuwanderung als Verwaltungsakt
       
       Scholz macht das Thema zur Chefsache. Schon vor zehn Monaten sagte er im
       Gespräch mit dem Spiegel: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“
       Eigentlich sind für Abschiebungen die Länder zuständig. Nun wird Scholz,
       der oft als zu zögerlich und moderierend kritisiert wird, zum
       Abschiebekanzler.
       
       In der Welt von Olaf Scholz ist Zuwanderung etwas, das sich in
       Verwaltungsakte übersetzen und präzise steuern lässt. Deutschland müsse
       sich aussuchen, wer kommen dürfe, betont er oft. Denen, die fleißig sind,
       will er reguläre Zuwanderungswege eröffnen. Wer nicht bleiben darf, soll
       auch wirklich abgeschoben werden. Subtext: Die sind dann ja auch nicht
       fleißig. In einer perfekt organisierten Scholz-Welt funktioniert das so:
       die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in Kröpfchen, also raus.
       
       [3][Anfang der Woche reiste Scholz nach Usbekistan]. Erstmals seit 22
       Jahren kam wieder ein Bundeskanzler auf Staatsbesuch. Die Usbeken zeigten
       dem Kanzler zunächst das märchenhafte Samarkand, kurz danach
       unterzeichneten beide Seiten ein Migrationsabkommen. Es folgt dem Muster
       ähnlicher Vereinbarungen wie etwa mit Kenia und Georgien: Arbeitsvisa gegen
       die Rücknahme von abgelehnten Asylbewerbern. Nun gibt es in Deutschland
       kaum Usbeken, die ausreisepflichtig sind, gerade mal 200 von 13.700. Das
       Interesse der Deutschen ist ein anderes, es verbirgt sich hinter Artikel 15
       des Abkommens zur „Durchbeförderung“ von Drittstaatsangehörigen.
       
       Gemeint ist die [4][Abschiebung von Menschen nach Afghanistan]. Scholz
       hatte angekündigt, auch wieder nach Syrien und Afghanistan abzuschieben.
       Ende August startete erstmals nach vier Jahren wieder ein Flugzeug mit 28
       afghanischen Straftätern nach Kabul. Organisiert über Katar. Man sei im
       Gespräch mit strategisch wichtigen Schlüsselstaaten, um weitere
       Abschiebeflüge zu organisieren, erklärte Scholz’ Regierungssprecher damals.
       Usbekistan ist einer dieser Schlüsselstaaten, grenzt an Afghanistan und
       pflegt gute Kontakte zu den Taliban.
       
       ## Eine überdrehte Debatte?
       
       So offen die Usbeken für deutsche Arbeitsvisa und wirtschaftliche Kontakte
       sind – zum Reisebüro für deutsche Abschiebeflüge wollen sie eigentlich
       nicht werden. Nicht nur, dass möglichst kein Wort über die Gespräche nach
       außen dringen soll. „Hier herrscht die Auffassung, dass Deutschland selbst
       Gespräche mit den Taliban führen sollte“, berichtet Gulnosa Khusanowa,
       leitende Redakteurin beim privaten Wirtschaftssender Uzreport.
       
       Das wurde auch auf einem Treffen der fünf zentralasiatischen Staaten
       deutlich, an dem Scholz zwei Tage später im kasachischen Astana teilnahm.
       Die Präsidenten Turkmenistans und Tadschikistans lobten die friedliche
       Entwicklung in Afghanistan und forderten die internationale Gemeinschaft
       auf, daran mitzuwirken. Offizielle Zusammenarbeit mit den
       radikalislamischen Taliban, die gerade ein Gesetz erlassen haben, das
       Frauen in der Öffentlichkeit den Mund verbietet? Scholz blieb auf Nachfrage
       skeptisch.
       
       Man kann sich fragen, ob hier nicht überhöhte Erwartungen geweckt werden.
       Oder ob die ganze Debatte über Abschiebungen und Verschärfungen nicht
       völlig überdreht ist.
       
       Im vergangenen Jahr beantragten 330.000 Menschen Asyl in Deutschland, die
       meisten aus gutem Grund. Die bereinigte Schutzquote liegt bei 70 Prozent.
       Von denen, die abgelehnt werden, dürfen viele geduldet bleiben. Die Zahl
       der vollziehbar Ausreisepflichtigen beträgt 51.000; weniger als die Hälfte,
       rund 19.000, sind abgelehnte Asylbewerber, etwa der Mordverdächtige von
       Solingen. Zudem sinkt gerade die Zahl der Asylanträge. Die Zahl der
       Abschiebungen steigt, im letzten Jahr waren es über 16.430.
       
       ## Er will hart bleiben
       
       „Auch wenn der letzte Ausreisepflichtige abgeschoben wurde, ist noch keine
       Wohnung mehr gebaut, keine zusätzliche Pflegestelle besetzt. Wir sollten
       vielmehr über die tatsächlichen Probleme in diesem Land sprechen und
       darüber, wie wir Leute in Arbeit bringen“, findet Rasha Nasr. Sie ist
       Sprecherin für Migration und Integration der SPD-Fraktion und eine der
       wenigen, die sich trauen, den Kanzler öffentlich zu kritisieren.
       
       Mit Bauchschmerzen habe sie seine Rede im Bundestag verfolgt: „Ich war
       erschrocken, mit welchem Enthusiasmus Olaf Scholz die Verschärfungen
       vorgetragen hat.“ Die geplante Streichung von Leistungen für abgelehnte
       Asylbewerber findet sie unmenschlich. „Das könnte noch mehr Leute in die
       Schwarzarbeit treiben oder dazu bewegen, unterzutauchen.“
       
       Die Kritik an Scholz bleibt leise in der SPD. Es gibt einen [5][offenen
       Brief der Jusos] an den Kanzler und die Parteispitze, worin sie sich
       „erschüttert und entsetzt“ zeigen und Abschiebungen nach Afghanistan,
       Leistungskürzungen und Grenzkontrollen widersprechen. Unter den rund 120
       Namen ist keiner, den man kennt.
       
       Politiker:innen, die sich öffentlich gegen Scholz äußern, haben meist
       Migrationshintergrund. So wie Nasr oder auch der Bundestagsabgeordnete
       Hakan Demir, der eine „neue deutsche Härte“ konstatiert, „die die
       Gesellschaft in ‚wir‘ und ‚die‘ spaltet“. Die Regierung versuche zwar,
       Fachkräfte und anerkannte Geflüchtete als Teil der Gemeinschaft willkommen
       zu heißen. „Aber so kommt es in der Gesellschaft nicht an. ‚Die‘, das sind
       dann etwa der syrische Arzt oder die geflüchteten Jugendlichen, die mich in
       der Bürgersprechstunde fragen, ob sie noch dazugehören“, so der Abgeordnete
       aus Berlin-Neukölln.
       
       Sahra Mohamed, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende, hält es für
       fahrlässig, „dass die SPD es zulässt, dass reale Ängste in der Gesellschaft
       nach unten kanalisiert werden und nun Migrant:innen für alle Probleme
       verantwortlich gemacht werden“. Sie könne sich kaum noch mit ihrer Partei
       identifizieren und wolle aus dem Juso-Bundesvorstand zurücktreten.
       
       Ob Scholz die Einwände beeindrucken? Kaum. Er will jetzt hart bleiben.
       
       20 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Generaldebatte-im-Bundestag/!6032782
   DIR [2] /Migrationsdebatte-nach-Solingen/!6032582
   DIR [3] /Scholz-Reise-nach-Kasachstan/!6034152
   DIR [4] /Abschiebung-nach-Afghanistan-und-Syrien/!6030998
   DIR [5] https://asylwende.wtf/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Abschiebung
   DIR Migration
   DIR Olaf Scholz
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Usbekistan
   DIR Kasachstan
   DIR GNS
   DIR Solingen
   DIR Griechenland
   DIR Abschiebung
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Kolumne Einfach gesagt
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Gesine Schwan
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Messer
   DIR Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Prozessauftakt Solingen-Attentat: Angeklagter spricht sich selbst schuldig
       
       Der mutmaßliche Täter Issa Al H. bekennt sich am ersten Prozesstag für
       schuldig. Der IS habe den 27-Jährigen indoktriniert, sagt ein Gutachter.
       
   DIR Zurückweisung an der Grenze: Deutschland verurteilt wegen Abschiebung nach Griechenland
       
       2018 war ein Syrer an der deutschen Grenze zurückgewiesen und ohne
       Asylprüfung abgeschoben worden. Die Richter sahen gleich mehrere Rechte
       verletzt.
       
   DIR Bremen richtet Abschiebezentrale ein: Ausländer raus, jetzt mit Effizienz
       
       Eine „Zentralstelle für Rückführungen“ soll die niedrige Abschiebequote in
       Bremen erhöhen – das könnte mehr Abschiebehaft bedeuten.
       
   DIR SPD-Abgeordnete gegen Migrationspolitik: „Wir teilen eure Wut“
       
       Die Kritik am sogenannten Sicherheitspaket wächst. Nun üben 35
       SPD-Abgeordnete harsche Kritik. Der Kanzler sah seinen Kurs zuletzt
       bestätigt.
       
   DIR Wenn Rassismus plötzlich Pop ist: Hass geht ab
       
       Auf der AfD-Wahlparty in Brandenburg wurde ein Abschiebesong gegrölt – zur
       Melodie eines Hits der Berliner Rapper „Die Atzen“.
       
   DIR Kritik in der Ampel an Sicherheitspaket: Mit Sicherheit gibt’s Ärger
       
       Die Regierung wollte schnell sein. Daraus wird jedoch nichts. Denn es
       hagelt Kritik – von Fachleuten und aus den Fraktionen.
       
   DIR Geflüchtete Afghanin über Migration: „So geht es vielen Immigranten“
       
       Zahra Nazari kommt aus Afghanistan und hat ehrgeizige Pläne, um schnell Fuß
       zu fassen. In der Diskussion um Flüchtlinge vermisst sie die Empathie.
       
   DIR Gesine Schwan über Migrationspolitik: „Nicht die eigenen Werte verraten“
       
       In einem Brief kritisiert Gesine Schwan mit weiteren SPD-Politiker*innen
       die Migrationspolitik ihrer Partei. Die SPD bringe Hetze hervor, warnt sie.
       
   DIR Fraktionsklausur der SPD: Zweifel an Scholz wachsen
       
       SPD-Fraktionschef Mützenich gibt Scholz bei der Fraktionsklausur
       Rückendeckung. Doch die Kritik am Kanzler nimmt zu. Die Hoffnung ruht auf
       Woidke.
       
   DIR Aufarbeitung des Attentats in Solingen: Abschiebungen nur werktags
       
       NRWs grüne Integrationsministerin Josefine Paul erläutert, woran die
       Rückführung von Issa al H. scheiterte. Ein U-Ausschuss soll weiter
       aufklären.
       
   DIR Neues Asylpaket: Ampel verschärft Migrationspolitik
       
       Die Bundesregierung einigt sich auf eine Vielzahl von Maßnahmen. Bestimmten
       Geflüchteten werden die Sozialleistungen komplett gestrichen.