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       # taz.de -- Lost im ÖPNV: Wehe, du fährst nach Berlin!
       
       > Gerne heißt es, der ländliche Raum sei vom Nahverkehr abgehängt. Eine
       > Pendeltour von Brandenburg nach Berlin zeigt: Das Gegenteil ist der Fall.
       
   IMG Bild: Schienenersatzverkehr und Stau auf der Oberbaumbrücke
       
       Man kennt das ja von der Berliner U-Bahn. Die [1][BVG]-Minute auf den
       Anzeigen ist nicht nur eine grobe Schätzung. Sie ist in den meisten Fällen
       eine arglistige Täuschung. Im Normalfall dauert eine BVG-Minute mindestens
       zwei Minuten. Wenn laut Anzeige die nächste U-Bahn in drei Minuten kommen
       soll, sollte man also mit sechs Minuten plus x kalkulieren.
       
       Das nur als kleiner Hinweis für Touris, die aus Städten kommen, in denen es
       einen funktionierenden Nahverkehr gibt. Und lasst euch auch nicht
       einlullen, dass euch die BVG [2][„liebt“]. Wenn's drauf ankommt, lässt sie
       euch sitzen. Hinweis Ende.
       
       Als ich diese Woche vom Wohnsitz in Ostbrandenburg zum Wohnsitz in Berlin
       pendeln wollte, zeigte die Anzeige auf der Bölschestraße in Friedrichshagen
       6 Minuten Wartezeit an. Die darauffolgende Tram sollte sogar erst in 36
       Minuten kommen. Ich überschlug schnell, was das bedeutet. Auf die erste
       Tram würde ich mindestens 12 Minuten warten müssen. Sollte die nicht
       kommen, was ja inzwischen eher die Regel als die Ausnahme ist, wären es
       sogar 72 Minuten Wartezeit. Das sind eine Stunde und 12 Minuten.
       
       In Friedrichshagen war ich gestrandet, weil die S-Bahn mal wieder kaputt
       war. Die S-Bahn musste ich in Erkner nehmen, weil es wieder
       Schienenersatzverkehr auf der RE 1-Strecke von Frankfurt (Oder) nach Berlin
       gab. Das kennen die Pendler schon: Die Bahn baut, wann und wo sie will, und
       meistens informiert sie die betroffenen Bahnunternehmen wie die [3][Odeg]
       erst kurz vorher.
       
       Von Erkner die S-Bahn nehmen, ist kein großes Ding. Normalerweise teilt
       einem die App des [4][Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg VBB] mit, wann
       die S3 abfährt und wann sie, in meinem Fall am Ostkreuz, ankommt. Leider
       ist die VBB-App inzwischen genauso kaputt wie die Deutsche Bahn, ihre
       Tochter S-Bahn Berlin, die Berliner Verkehrsbetriebe und natürlich deren
       Betreiberin, das Land Berlin mit seinem schwarz-roten Senat. Der hat mal
       versprochen, dass Berlin jeden Tag besser werde. Zuletzt sind bei der BVG
       69 Züge ausgefallen, die U3 verkehrte alle 30 Minuten. In Warschau ist mir
       das noch nie passiert.
       
       ## Gestrandet in Friedrichshagen
       
       An dem Tag, an dem ich von Ostbrandenburg nach Berlin fuhr, schwieg die App
       also. Zwar war von Reparaturen auf der Strecke die Rede, nicht aber von
       einem Schienenersatzverkehr. Erst später dachte ich: Hättest du bloß auf
       den DB-Navigator geguckt. Der ist inzwischen zuverlässiger als die VBB-App.
       Warum der Navigator eines Unternehmens funktioniert, dieses Unternehmen
       aber genauso kaputt ist wie der Senat, darüber will ich jetzt nicht
       nachdenken.
       
       Gestrandet in Friedrichshagen, gab ich der App eine zweite Chance. Die
       Tram-Linie 60, hieß es, würde mich zum Brandenburgplatz bringen, von dem
       ich zuvor noch nie etwas gehört hatte, von dort sollte es mit der Buslinie
       169 zum U-Bahnhof Elsterwerdaer Platz gehen. Dort, in Biesdorf, könnte ich
       in dann in die U5 steigen und mich auf den Weg zum Alexanderplatz machen.
       
       Allerdings zeigte die App die Abfahrt der Tramlinie 60 nicht mit der für
       die BVG üblichen Verspätung an, sondern mit einer – Achtung! –Verfrühung
       von -6 Minuten. Das macht nach Adam-Riese also -12 BVG-Minuten. Die Tram
       wäre weg.
       
       Oder soll ich sagen, die Tram wäre weggewesen? Denn auch die Tram war
       kaputt. An ihrer statt, das zeigte nicht die App, sondern die Anzeige an
       der Haltestelle, sollte ein Schienenersatzverkehrsbus fahren. Eine
       Abfahrtszeit wollte die Anzeige allerdings nicht anzeigen. Da passt es auch
       ganz gut, dass die BVG nicht mehr auf „X“ ist. Manche Diskussionen will man
       einfach nicht mehr haben.
       
       Mittlerweile herrschte auf der Bölschestraße ein Trubel wie sonst auf der
       Piazza Navona in Rom. Eine ganze S-Bahnladung Reisender wechselte von einer
       Straßenseite auf die andere, in der Hoffnung, dort irgendeinen Anschluss zu
       finden. Wäre mein Handy-Akku vor lauter App-Checken nicht fast leer
       gewesen, hätte ich die Szene gerne gefilmt. Man hätte dann gesehen, wie
       Gestrandete und Autofahrer sich eine Straße teilen. Es hatte etwas
       Utopisches, fast schon Heiteres, es erinnerte mich an die „Shared Spaces“,
       von denen Mobilitätswendefreunde immer schwärmten, bevor die CDU damit
       anfing, Berlin jeden Tag besser machen zu wollen.
       
       Plötzlich entdeckte ich auf der Anzeige eine Tram, die Richtung Schöneweide
       fahren sollte und überlegte, ob ich die 45 Minuten Fahrt auf mich nehmen
       sollte. Doch die Tram war nur angezeigt. Natürlich kam sie nicht.
       
       Dann endlich, in der Ferne ein Bus. Auf seiner Stirn leuchtete es
       verheißungsvoll: „S3 SEV“. Die Heiterkeit endete abrupt: Eine ganze
       S-Bahn-Ladung begab sich an der Bushaltestelle in Startposition. Ich hatte
       Glück und bekam einen Platz, musste aber die Alkoholfahne meines
       Sitznachbarn ertragen, der zu seinem Kumpel immer wieder sagte: „Und
       nachher machen alle einen Corona- und Schwangerschaftstest.“ „Hoho“, grölte
       der Kumpel, noch lauter grölte der mit der Fahne über seinen Witz.
       
       ## Dann erloschen die Anzeigen
       
       Ich weiß nicht mehr, wann wir am S-Bahnhof Karlshorst ankamen, es war
       längst dunkel. Auf dem Bahnsteig verkündete die Anzeige: Ostbahnhof in 6
       Minuten, dann wieder in 40 Minuten. Der erste Zug, der abfuhr, nahm die
       Gegenrichtung nach Wuhlheide. Dann erloschen die Anzeigen.
       
       Irgendwann kam sie dann, die S-Bahn. Angeblich bis Grunewald. Natürlich
       fuhr sie nur bis Ostbahnhof. Mir war das egal. Als ich am Ostkreuz
       ausstieg, sah ich, dass die S-Bahn in Gegenrichtung wieder bis Erkner
       rollte. War die Reparatur auf der Strecke etwa abgeschlossen? War meine
       Odyssee völlig umsonst gewesen? Hätte ich nur in Erkner etwas warten
       müssen?
       
       Oder war auch das wieder nur eine Falschmeldung? Gut möglich wäre auch,
       dass der Verkehr wieder normal rollte, die VBB-App aber immer noch Alarm
       schlug.
       
       In Pankow angekommen, schrieb ich meiner Frau, die in Brandenburg geblieben
       war: „Es heißt immer, dass die auf dem Land abgehängt sind. In Wirklichkeit
       geht auf dem Land alles ganz fix. Aber wehe, du fährst nach Berlin!“
       
       21 Sep 2024
       
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