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       # taz.de -- Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Der schwarze Shabbat
       
       > Am 7. Oktober 2023 ermordete die Hamas 364 Menschen beim Nova-Festival.
       > Ein Jahr später leiden Überlebende immer noch an den Folgen dieses Tages.
       
       Um 6.29 Uhr geht die Musik aus. Dann Sirenen, Explosionen, Schreie. Omer
       Hadad und seine Freunde sind erst drei Stunden vorher angekommen, in
       wenigen Minuten soll die Sonne aufgehen – der berauschte Höhepunkt des
       Psytrance‑Raves. Doch als Hadad einen mit Schusslöchern übersäten Fiat
       sieht, fühlt er sich plötzlich stocknüchtern. Ob die blutenden Insassen des
       Autos zu diesem Zeitpunkt schon tot sind, kann er nicht sagen. Er rennt um
       sein Leben.
       
       Sechs Monate nach dem Massaker vom 7. Oktober, das Israel erschüttert hat,
       wird Omer Hadad immer noch von diesen Szenen heimgesucht. Es ist ein warmer
       Aprilabend in Tel Aviv. Der 24-Jährige ist Friseur, er hat gerade
       Feierabend und sitzt auf einem Ledersessel im Salon. Er trägt eine
       militärische Erkennungsmarke um den Hals mit Davidstern – ein
       Solidaritätszeichen für die Geiseln in Gaza. Seine dunkelbraunen Augen
       sehen müde und traurig aus.
       
       Hadad hat noch nicht oft gesprochen, über das, was er an diesem Tag
       erlebte. Und es fällt ihm merklich schwer. Er zeigt ein Video seiner Flucht
       vor Hamas-Terroristen, aufgenommen versehentlich, in Panik: Hunderte
       spärlich bekleidete Menschen fliehen über Felder, Hadad selbst trägt ein
       weißes Outfit, irgendwas zwischen Cape und Bademantel. Schüsse sind zu
       hören. „Wir waren im Überlebensmodus“, sagt er mit schüchterner Stimme.
       
       Eine Freundin stolpert in der Handyaufnahme immer wieder beim Laufen, weil
       sie sich übergeben muss, aus schierer Angst, bevor sie auf dem Boden
       zusammenbricht. „Überall um uns herum lagen Menschen auf dem Boden“, sagt
       Hadad. „Wir dachten, dass auch sie Panikattacken hätten.“ Erst später wird
       klar: Sie sind bereits tot.
       
       Die Entscheidungen, die die größtenteils jungen Menschen in den nächsten
       Minuten und Stunden treffen, bestimmen, ob sie leben oder sterben: links
       oder rechts, sich verstecken oder fliehen, mit dem Auto oder zu Fuß.
       
       Dass Hadad das [1][Massaker beim Nova-Festival] überlebt, ist Zufall. Oder
       etwas anderes. Er schaut nach oben, obwohl er, wie er sagt, nicht besonders
       gläubig ist. Er findet schließlich sein Auto und fährt über die Felder nach
       Netiwot, einer Stadt knapp 20 Kilometer entfernt, die von den Gräueltaten
       vom 7. Oktober wie durch ein Wunder verschont bleibt. Zwei von Hadads
       Freunden schaffen es nicht.
       
       ## 38 Geiseln werden vom Nova-Festival entführt
       
       Israelis nennen den 7. Oktober inzwischen den „schwarzen Shabbat“. So viele
       Jüdinnen und Juden sind seit der Shoah nicht mehr an einem Tag getötet
       worden. Palästinensische Terroristen der Hamas und anderer Gruppen wie
       Islamischer Dschihad und die „Demokratische Front zur Befreiung Palästinas“
       ermorden fast 1.200 Menschen – zwei Drittel davon Zivilisten.
       
       Das Nova-Festival in der Negevwüste, das Omer Hadad und seine Freunde
       besuchten, ist der blutigste Schauplatz des Angriffs. 364 Menschen kommen
       dort ums Leben, fast die Hälfte aller getöteten Zivilisten an diesem Tag.
       Sie werden mit Maschinengewehren, Panzerfäusten und Granaten ermordet. Es
       ist der tödlichste Angriff auf ein Musikfestival aller Zeiten. Auch das
       kleinere Psyduck-Festival, ein paar Kilometer entfernt, wird angegriffen.
       Dort ermorden die Terroristen 17 Menschen.
       
       Von den rund 250 Geiseln, die palästinensische Terroristen nach Gaza
       verschleppen, werden mindestens 38 vom Nova-Festival entführt. Fünf von
       ihnen kommen im November durch einen Deal mit der Hamas frei, die
       israelische Armee befreit weitere vier im Juni.
       
       Ende August werden die Leichen von fünf Festival-Besucher*innen sowie einer
       weiteren Entführten in einem Tunnel unter Rafah gefunden, die kurz zuvor
       per Kopfschuss hingerichtet wurden. Sechs weitere Menschen sind bislang in
       Geiselhaft ums Leben gekommen. 18 Menschen, die vom Nova-Festival entführt
       wurden, hält die Hamas bis heute in Gaza fest.
       
       Der Angriff vom 7. Oktober wird mit einer Raketensalve aus dem Gazastreifen
       eingeläutet. Palästinensische Terroristen brechen durch den Grenzzaun zu
       Israel. Mit Gleitschirmen und Pickup-Trucks erreichen sie das Nova-Gelände
       beim Kibbuz Re’im, wo fast 4.000 Menschen aus über 30 Ländern am jüdischen
       Feiertag Simchat Torah unter freiem Himmel tanzen – eine Zusammenarbeit des
       brasilianischen Universo Paralello und des israelischen Nova-Teams.
       
       ## Viele Besucher stehen unter Drogen
       
       Mit GoPros filmen die Terroristen das Blutbad, das sie dort anrichten. In
       einem Video schießen sie auf eine Reihe Dixi-Klos, in denen sich Menschen
       verstecken, Tür für Tür, als sei das ein Ego-Shooter-Spiel. Eine Dashcam
       auf dem Parkplatz zeigt, wie ein Terrorist einen auf dem Boden liegenden
       Mann, der sich tot stellt, aus nächster Nähe hinrichtet.
       
       In einem Video werfen sie eine Granate in einen kleinen Luftschutzbunker,
       auf Hebräisch Migunit genannt, in dem rund 30 Menschen Schutz suchen. Nach
       der Explosion erschießen sie die wenigen Überlebenden. Einen jungen Mann
       verschleppen sie nach Gaza. [2][Er heißt Hersh Goldberg-Polin] und gehört
       zu den hingerichteten Geiseln, die Ende August in einem Tunnel unter Rafah
       gefunden werden.
       
       Manche Gäste rennen zu ihren Autos und fahren Richtung Ausgang, doch sie
       landen in einer Falle. Terroristen blockieren die Regionalstraße 232, die
       parallel zum Gelände verläuft, von beiden Seiten. Die fliehenden Besucher
       geraten unter schweren Beschuss. Heute nennen Israelis sie die „Straße des
       Todes“, weil hier Dutzende Menschen ums Leben gekommen sind. Bis heute sind
       Brandspuren auf dem Asphalt zu sehen. Ein Denkmal aus Hunderten von
       ausgebrannten Autos erinnert daran.
       
       Viele der Nova-Besucher stehen unter dem Einfluss von Drogen wie MDMA,
       Kokain oder Amphetaminen. Bei Menschen, die LSD genommen hatten, sei ein
       „Überlebensinstinkt“ eingetreten, sagt der Psychologe Ran Sapir, der
       Überlebende des Festivals behandelt hat, im Interview mit der israelischen
       Zeitung Ha’aretz. Eine dachte, sie sei ein gejagtes Tier, das den Jägern
       entkommen müsse. Menschen, die Ketamin genommen hatten, hätten schlechtere
       Überlebenschancen gehabt.
       
       Auch die Terroristen sind im Rausch: Sie haben Captagon-Tabletten dabei,
       die wie Amphetamin wirken und ihnen dabei helfen, lange wach zu bleiben und
       Menschen ruhig und konzentriert abzuschlachten oder ihnen sexualisierte
       Gewalt anzutun.
       
       Viele der [3][bislang dokumentierten Vergewaltigungen] ereignen sich beim
       Nova-Festival. Videos der Erstversorger zeigen tote Frauen mit entfernter
       Unterhose oder blutigem Schritt. Die Hände mancher Opfer sind festgebunden.
       Die Ha’aretz berichtete im April von 15 Überlebenden des Festivals, die
       Vergewaltigungen oder Gruppenvergewaltigungen gesehen hätten, fünf von
       ihnen haben bislang öffentlich darüber gesprochen.
       
       ## Vergewaltigungen und Verstümmelungen
       
       Eine Zeugin vom Festival schildert gegenüber der New York Times, wie
       schwerbewaffnete Männer mindestens fünf Frauen vergewaltigt und getötet
       hätten. Während eine Frau vergewaltigt worden sei, habe einer der Männer
       ihre Brust mit einem Teppichmesser abgeschnitten und diese zu einem anderen
       Mann geworfen. Die Zeugin habe auch gesehen, wie die Männer die Köpfe
       dreier enthaupteter Frauen mit sich getragen hätten.
       
       Viele der bekannten Vergewaltigungsfälle finden am Rande des
       Festivalgeländes statt, beobachtet von Überlebenden, die sich gut
       verstecken konnten. Wie viele Menschen an diesem Tag tatsächlich sexuell
       missbraucht worden sind, ist unklar. Erstversorger der ultraorthodoxen
       Organisation Zaka beerdigen die Leichen aus religiösen Gründen schnell, sie
       werden teilweise mit Lastwagen abtransportiert.
       
       Heute sieht das Nova-Gelände aus wie eine Mischung aus Friedhof und
       Freiluftattraktion. Am Eingang stehen reihenweise weiße Autos in der
       prallen südisraelischen Sonne. Dutzende Menschen schlängeln sich trauernd
       und nachdenklich über die trockene Fläche, von Bäumen umrahmt, die einst
       eine Tanzfläche war. An Stangen hängen die Fotos und Namen der Ermordeten
       mit blau-weißen Israel-Flaggen, die im warmen Wind leicht flattern. Vorne
       steht eine DJ-Pult-Attrappe, um an Kido zu erinnern, einen bekannten
       israelischen Trance-DJ, der beim Anschlag ermordet wurde.
       
       Es sind insgesamt vielleicht 200 Menschen auf dem Gelände – trauernde
       Eltern, eine diplomatische Delegation, eine Gruppe von Soldaten,
       Ultraorthodoxe der Chabad-Bewegung, die in einem Bus Shabbat-Kerzen und
       koschere Snacks verteilen. So viele Menschen, dass sie ein
       Sicherheitsrisiko darstellen. Denn im Gazastreifen, nur fünf Kilometer
       Luftlinie entfernt, tobt der Krieg zwischen Hamas und Israel, am Horizont
       sind leichte Rauchspuren zu sehen. Auf dem Festivalgelände wurden
       inzwischen zwei mobile Migunit-Bunker und eine Luftsirene eingebaut. Wenn
       schon wieder Raketen aus dem Küstenstreifen fliegen, hat man hier nur
       Sekunden Zeit, um Schutz zu suchen.
       
       ## Nicht alle wollen erinnern
       
       Das Nova-Gelände ist zum Denkmal geworden, zur Erinnerung an ein Massaker,
       das für die Menschen in Israel noch immer eine offene Wunde ist. Zwei
       israelische Dokumentarfilme zum Festival sind bereits entstanden: „Black
       Sunrise“ und „#Nova“. Zum israelischen Unabhängigkeitstag im Mai
       produzierte das Büro für Staatszeremonien und Veranstaltungen einen Clip,
       der für Kontroversen sorgte – eine Art Musikvideo mit Tanzsequenzen,
       gedreht am Tatort des Massakers, das Angehörigen der Ermordeten als
       „beschämend“ und „entsetzlich“ empfanden.
       
       Positiver rezipiert wird eine Ausstellung der Festival-Organisatoren mit
       dem Titel „06:29 – The Moment the Music Stood Still“, die im April in der
       Tel Aviver Messehalle Expo eröffnet wurde, bevor sie nach New York und Los
       Angeles wanderte. Sie stellt das Gelände direkt nach dem Massaker nach, mit
       ausgebrannten Autos, Dixi-Klos mit Schusslöchern und den Sachen, die
       fliehende oder verstorbene Besucher*innen hinterließen – Schuhe,
       Sonnenbrillen, Taschen.
       
       Auch beim diesjährigen Burning Man Festival, das von Ende August bis Anfang
       September in der Nevada-Wüste stattfand, wurde der Ermordeten des Nova mit
       einer Kunstinstallation gedacht – einem Nachbau der
       psychedelisch-farbenfrohen Bühne mit den Worten „We will dance again“.
       
       „Das war für uns sehr wichtig“, erzählt Nova-Veranstalter Omri Sasi, der
       beim Angriff über 100 Freund*innen sowie seinen Onkel und Cousin verlor.
       Auf der Nova-Bühne beim Burning Man legte er mit DJ Captain Hook auf, von
       6.29 Uhr bis zum Nachmittag. „Leute haben geweint“, sagt der 35-Jährige,
       der die Nova-Reihe vor drei Jahren ins Leben rief. Auch nächstes Jahr soll
       das Nova beim Burning Man vertreten sein, sagt er. „Wir wollen nicht
       aufgeben und werden weiter tanzen. Der Terrorismus darf nicht gewinnen.“
       
       Doch [4][nicht alle wollen erinnern]. Vor der Nova-Ausstellung in New York
       organisierten im Juni Hunderte antiisraelische Aktivisten einen Protest.
       Sie zündeten Rauchtöpfe und skandierten „long live the intifada“ – es lebe
       die Intifada. Eine Aktivistin begründete die Aktion auf X (ehemals Twitter)
       damit, dass das Nova „neben einem Konzentrationslager“ stattgefunden habe.
       Ähnliche Kommentare waren in den Tagen und Wochen nach dem Massaker in den
       sozialen Medien tausendfach zu lesen. Die Botschaft: Die Opfer des
       Massakers seien selbst schuld.
       
       In der globalen Festival- und Clubszene ist seit dem 7. Oktober Solidarität
       mit den Ermordeten, Verschleppten und Überlebenden des Novas [5][kaum
       hörbar]. Stattdessen fasst die antiisraelische Boykottbewegung BDS dort
       immer mehr Fuß – und die Szene radikalisiert sich immer weiter. Eine
       Benefizparty in New York, nur eine Woche nach dem Massaker, nannte sich
       „Intifada Fundraver“ und warb mit einem Foto, in dem die Hamas mit einem
       Bagger den Grenzzaun zu Israel durchbricht.
       
       Im Februar wurde die Kampagne „DJs Against Apartheid“ gestartet, die
       inzwischen über 3.000 DJs weltweit unterstützen. In dem Aufruf wird die
       Gewalt der Hamas als „natürliche“ und „unausweichliche“ Reaktion
       bezeichnet. Und [6][in Berlin] sieht sich das renommierte Berghain einer
       Boykottkampagne ausgesetzt, nachdem der Club einen DJ auslud, der zuvor
       eine Instagram-Story geteilt hatte, in der die Vergewaltigungen beim
       Nova-Angriff geleugnet wurden.
       
       ## Mit Panzerfäusten beschossen
       
       Über all das kann Yarin Illovich nur mit dem Kopf schütteln. Der 29-jährige
       Israeli ist besser bekannt als der Psytrance-Künstler Artifex. Als die
       Terroristen das Nova-Festival überfallen, steht er am DJ-Pult – er ist der
       Headliner zum Sonnenaufgang. „Das war ein Genozid bei einem verdammten
       Musikfestival“, sagt er via Zoom. „Wäre nicht die jüdische Community hier
       betroffen, wäre zum Beispiel Tomorrowland oder Electric Daisy Carnival
       angegriffen, würde die Welt ganz anders reagieren.“
       
       Anfang September, elf Monate nach dem Angriff. Illovich sitzt zu Hause in
       Kfar Yona, eine Stunde nördlich von Tel Aviv, er trägt ein T-Shirt der
       Fernsehserie „Rick and Morty“. Einige Bookings seien für den international
       tourenden DJ inzwischen weggebrochen, weil Veranstalter [7][aus Protest
       gegen den Gaza-Krieg] Israelis nicht mehr einladen wollen würden, sagt er.
       
       Den letzten Track, den Illovich am 7. Oktober auflegte, der von Sirenen,
       Explosionen und Schreien unterbrochen wurde, hat er inzwischen den
       Ermordeten gewidmet und kostenlos zur Verfügung gestellt. Mit einem
       Spendenaufruf will er die Überlebenden und Hinterbliebenen des Massakers
       unterstützen. „Nova Tribute – The Angel’s Last Dance“, so nennt er nun
       seinen Remix von Pixel und Space Cats „Clear Test Signal“ – ein
       energischer, trippiger Psytrance-Knaller. „Es war für die Ermordeten der
       letzte Moment des Glücks“, sagt er.
       
       Illovich habe seit dem Angriff gute und schlechte Tage. Heute scheint ein
       guter Tag zu sein, er redet offen über das Massaker, bei dem er 70
       Freund*innen verlor. Nachdem er um 6.29 Uhr die Musik ausmachte, sei er
       über Felder geflohen, sei mit Panzerfäusten beschossen worden und habe sich
       fünf Stunden lang hinter einem Auto versteckt, als die Terroristen sich ein
       Feuergefecht mit der Polizei lieferten. Zehn Stunden habe es gedauert, bis
       er endlich in Sicherheit gewesen sei.
       
       Doch je näher der erste Jahrestag rückt, umso schlechter gehe es ihm. Für
       den 7. Oktober 2024 habe er alles abgesagt. „Ich will hier in Israel sein,
       mit meiner Familie, mit Freunden, mit den anderen Nova-Überlebenden“, sagt
       er.
       
       ## Viele Überlebende sind stark traumatisiert
       
       Die psychischen Folgen des 7. Oktober belasten die Überlebenden bis heute,
       viele sind stark traumatisiert. Laut der Tribe of Nova Foundation, einer
       NGO, die von Omri Sasa und den anderen Organisatoren direkt nach dem
       Angriff gegründet wurde, sind drei Viertel der fast 4.000 Besucher in
       psychologischer Behandlung. Die Stiftung plant Wochenend-Retreats und
       vergibt kleine Zuschüsse, um mit den Kosten für Therapien oder
       Rehabilitation zu helfen. Sie organisiert auch ein wöchentliches Treffen
       für Überlebende in einem Park in Tel Aviv.
       
       Secret Forest, ein abgelegenes Resort in den zyprischen Bergen, das von
       Israelis betrieben wird, organisiert kostenlose Therapiewochen für die
       Überlebenden. Bereits 700 von ihnen waren schon dort, auch Yarin Illovich.
       „In den ersten vier Monaten nach dem Massaker wollte ich weder auflegen
       noch ins Studio“, sagt er. Ein fünftägiger Aufenthalt mit über 150 anderen
       Überlebenden habe ihm geholfen, mit dem Trauma umzugehen.
       
       Auch Chen Malca nahm an einen Retreat im Secret Forest teil, nur drei
       Wochen nach dem Massaker. „Es war nicht nur Therapie“, erzählt die
       25-Jährige aus Jerusalem mit mahagonifarbenen Haaren und gelb lackierten
       Nägeln. „Sie organisierten auch eine kleine Party für uns, weil das wichtig
       ist, um eine posttraumatische Belastungsstörung zu verhindern.“
       
       Malca hat nach dem 7. Oktober ihren Job gekündigt und ihre Studienpläne auf
       Eis gelegt, stattdessen spricht sie mehrmals die Woche auf Veranstaltungen
       über das Nova-Festival, das sie nur knapp überlebte. Auf dem
       Festivalgelände erzählt sie regelmäßig ihre Geschichte vor kleinen Gruppen
       – wie sie in Panik fast erstarrt sei, wie sie und ihr Freund mit dem Auto
       nur mit Glück entkamen. Bis heute falle es ihr schwer, darüber zu sprechen,
       sagt Malca. Sie vergisst ständig Wörter und wechselt zurück ins Hebräische,
       wenn sie darüber redet – aus Aufregung, obwohl sie akzentfreies Englisch
       spricht.
       
       Malca sei inzwischen wieder auf kleine Festivals gegangen, das sei wichtig,
       sagt sie, aber auch belastend. „Auf einem Festival sah ich am Himmel
       Drohnen und Menschen, die mit Gleitschirmen geflogen sind“, erzählt sie.
       „Ich hatte eine Angstattacke, wollte aber meinen Freunden, die auch
       Nova-Überlebende sind, nicht zeigen, dass ich in Panik bin, um sie nicht zu
       beunruhigen.“
       
       ## „Viele Suizide“ unter Nova-Besucher*innen
       
       Für manche Überlebende kommen psychologische Angebote zu spät.
       Nova-Veranstalter Omri Sasa sagt, dass der israelische Staat nicht genug
       tue, um Therapieplätze bereitzustellen. „Der Regierung ist nur der Krieg
       wichtig“, sagt er.
       
       Und das hat tragische Folgen. Bei einer Anhörung in der Knesset im Dezember
       sprach Dr. Tzvia Zeligman vom Tel Aviver Sourasky Medical Center, die zum
       Thema sexuelles Trauma arbeitet, von „vielen Suiziden“ unter
       Nova-Besucher*innen. Auf taz-Anfrage konnte sie allerdings nicht sagen, wie
       viele Fälle es genau gegeben hat. In einer weiteren Anhörung in der Knesset
       im April behauptete ein Nova-Besucher, dass sich seit dem 7. Oktober fast
       50 Menschen das Leben genommen hätten.
       
       Das israelische Gesundheitsministerium widersprach dieser Zahl. „Uns sind
       nur wenige Fälle von Selbstmord bekannt. Wir müssen vorsichtig sein mit
       Zahlen, die der Öffentlichkeit Schaden zufügen könnten“, sagte Dr. Gilad
       Bodenheimer, zuständig für die Abteilung für psychische Gesundheit im
       Ministerium, bei der Anhörung. In einer Pressemitteilung des Ministeriums
       im Januar heißt es: Für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2023 gebe es
       weniger Selbstmordfälle als im gleichen Zeitraum in den Jahren zuvor. Auf
       taz-Anfrage will das Ministerium jedoch keine genauen Zahlen geben.
       
       Dass nicht offen über dieses sensible Thema gesprochen wird, hat auch
       Gründe. In Israel ist Suizid ein Tabu, im Judentum ist er nicht erlaubt.
       Eine Beamtin des israelischen Außenministeriums, die unter der Bedingung
       der Anonymität mit der taz sprach, geht von „Dutzenden“ Fällen unter
       Nova-Überlebenden aus, wollte aber keine konkrete Zahl nennen.
       
       Omer Hadad, der Friseur aus Tel Aviv, kennt einen Fall aus erster Hand.
       Eine Frau, die er auf dem Festival kennenlernte, habe er auf einem Treffen
       für Nova-Überlebende wiedergesehen. Er habe sich gefreut, dass sie es auch
       in Sicherheit geschafft habe. „Aber es ging ihr nicht gut.“ Im April habe
       sie sich das Leben genommen, so Hadad.
       
       Auch deshalb fühlt sich das Jahr nach dem 7. Oktober für Hadad und viele
       andere Überlebende an wie der ewige Tag danach. „Ich bin traurig“, sagt
       Hadad im September am Telefon. „Traurig, dass so viel Zeit vergangen ist
       und sich nichts geändert hat – es herrscht immer noch Krieg, die Geiseln
       sind immer noch nicht zurück.“
       
       Zum ersten Jahrestag wolle er mit seinen Freunden, die den Angriff überlebt
       haben, denselben Weg jenes Tages zurücklegen: mit dem Auto die
       Regionalstraße 232 entlangfahren, die Straße des Todes, zum Nova-Gelände.
       Zum ersten Mal seit dem Massaker, seit dem 7. Oktober 2023. Seit dem Tag,
       der Israel für immer verändert hat.
       
       6 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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   DIR 7. Oktober – ein Jahr danach: Chronik einer Tragödie
       
       Der 7. Oktober 2023 hat nicht nur die Geschichte im Nahen Osten neu
       geschrieben. Die Nachwirkungen zu „Ten Seven“ bleiben weltweit spürbar.
       
   DIR Historikerin über Nahost-Konflikt: „Israelis umarmen, Netanjahus in den Hintern treten“
       
       Israels Regierung hat längst die Unterstützung von großen Teilen der
       Bevölkerung verloren, sagt die Historikerin Fania Oz-Salzberger.
       
   DIR Kollektives Trauma nach 7. Oktober: L’Chaim, auf das Leben!
       
       Wie umgehen mit dem tiefen Schmerz und der anhaltenden Bedrohung? Der Autor
       Marko Martin hat Gespräche mit Israelis geführt über ein kollektives
       Trauma.
       
   DIR Antisemitismus in Berlin: Notfalls bis zum Schulverweis
       
       Ein SPD-Abgeordneter fordert ein ganzes Maßnahmenbündel zur verstärkten
       Bekämpfung von Antisemitismus. Er macht sich damit nicht nur Freunde.
       
   DIR Lage in Nahost: Bangen in Beirut
       
       Zwei Soldaten sterben nach israelischen Angriffen im Südlibanon. Derweil
       wächst die Sorge vor einer weiteren Eskalation zwischen Israel und Iran.
       
   DIR Jordanien und der Krieg: Jubel und Sorge in Jordanien
       
       Irans Raketen fliegen auf ihrem Weg in Richtung Israel wieder über
       Jordanien. Das Land befindet sich unfreiwillig mitten in der Konfrontation.