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       # taz.de -- Italienische Zeitschrift „MicroMega“: „Wir wollten nie gefallen“
       
       > Cinzia Sciuto ist Chefredakteurin der italienischen Zeitschrift
       > „MicroMega“. Vor klaren Positionen zu umkämpften Themen scheut sie sich
       > nicht.
       
   IMG Bild: „MicroMega“ verliert Leser wegen ihrer Haltung zum Ukrainekrieg, Demonstration in Rom am 27. Februar 2022
       
       taz: Frau Sciuto, herzlichen Glückwunsch, Sie sind seit Kurzem die neue
       Chefredakteurin von MicroMega, als Nachfolgerin des Gründers Paolo Flores
       d’ Arcais. Wie geht es Ihnen im neuen Job? 
       
       Cinzia Sciuto: Vielen Dank! In der Tat ist dieser Wechsel schon lange
       vorbereitet. Vor zwei Jahren wurde ich schon Co-Chefin, bei MicroMega
       arbeite ich seit zwanzig Jahren. Nur bin jetzt eben ich es, die vor Gericht
       erscheint, wenn wir verklagt werden, also passt gut auf, was ihr schreibt –
       das habe ich den Kollegen zum Einstand gesagt. (lacht) Und dann bin ich
       einfach sehr stolz und enthusiastisch, diese Zeitschrift mit ihrer großen
       Tradition weiterführen zu dürfen, möglichst noch mal 38 Jahre.
       
       taz: In Deutschland haben zuletzt linke Titel [1][wie konkret oder Titanic]
       um ihr Überleben kämpfen müssen. Was sind die Herausforderungen für eine
       linke Zeitschrift in Italien heute?
       
       Sciuto: Wir müssen ganz pragmatisch sein. Die wahre Herausforderung ist es,
       das Geld aufzutreiben, um weiterzumachen. Bis vor drei Jahren waren wir
       Teil einer großen Verlagsgruppe, die unter anderem auch die Tageszeitung la
       Repubblica herausgibt. Das war für uns sehr bequem, denn wir konnten unsere
       Linie verfolgen, ohne allzu sehr auf die Kosten achten zu müssen. Jetzt
       sind wir auf uns allein gestellt, und das ist nicht einfach. Aber ich
       hoffe, dass wir die Aufgabe zusammen mit unseren Lesern stemmen werden –
       denn wir leben ausschließlich vom Verkauf und verzichten auf der Webseite
       auf Werbung. Wir wollen auch im Internet auf der ästhetischen Ebene ein
       hochwertiges Produkt anbieten. Wirklich gelohnt hat sich die Werbung auf
       der Webseite eh nie. Stattdessen setzen wir darauf, dass unser
       Nischenpublikum für höchste Qualität auch online zu zahlen bereit ist.
       
       taz: Was bedeutet es heute, gegen „die herrschenden Konformismen“ zu sein
       und das aufklärerische Element innerhalb der Linken zu betonen, wie es in
       einer Selbstbeschreibung von MicroMega heißt? 
       
       Sciuto: Wir wollten nie gefallen, auch nicht unseren Lesern, im Gegenteil,
       wir gehen den Leuten gern auf die Nerven. Wir verzichten nicht auf die
       großen Ideen und verfolgen die philosophischen Debatten. Gegen Konformismen
       zu sein bedeutet, sich nicht der intellektuellen Faulheit zu überlassen,
       auch nicht der eigenen linken Nische. So haben wir zum Beispiel die
       Tendenzen eines relativistischen, oberflächlichen Multikulturalismus immer
       kritisiert, der nur die bunten Seiten des Zusammenlebens zur Kenntnis nimmt
       und die Herausforderungen, die von patriarchalen, reaktionären Kulturen
       ausgehen, ignoriert. Gerade in Deutschland ist das ein riesiges Problem.
       
       taz: Welches? 
       
       Sciuto: Ich weiß nicht, ob ich hier auf die deutsche Regierung schimpfen
       darf.
       
       taz: Unbedingt! 
       
       Sciuto: Wer glaubt, man könne das Problem des islamistischen Terrors durch
       Grenzschließungen bekämpfen, der hat nun wirklich nichts verstanden. Die
       Grenzen schließen und gleichzeitig mit den radikalen islamischen Verbänden
       kuscheln und ihnen zum Beispiel den Religionsunterricht in den Schulen zu
       überlassen, das ist schizophren und rein symbolisch. Man hat das
       radikal-islamische Milieu viel zu lange ignoriert und gewähren lassen.
       Anstatt sich mit dem Phänomen zu beschäftigen, schiebt man Leute nach
       Afghanistan ab und schränkt die Grundrechte ein. Diese Haltung haben wir
       immer bekämpft und werden das auch weiter tun.
       
       taz: Ihr Laizismus hat aber auch spezifisch italienische, antiklerikale
       Wurzeln? 
       
       Sciuto: Absolut. Unser Hauptziel war immer die Kultur der katholischen
       Kirche. Die katholische Bischofskonferenz etwa ist in Italien ein sehr
       bedeutender politischer Machtfaktor, wenn auch inzwischen abgeschwächt.
       Aber der Kampf gegen die Kirche war nie Selbstzweck. Wenn Imame, Rabbis,
       Sikhs oder Hindus antiaufklärerische Werte vertreten, dann bekämpfen wir
       die genauso; und zwar auch – und da gibt es oft Konflikte mit anderen
       Linken –, wenn es sich um Religionen von Minderheiten handelt. Aber wir
       kämpfen gegen die Ideen, nicht gegen die Menschen. Das ist der
       grundsätzliche Unterschied zwischen Faschisten und Demokraten.
       
       taz: Die Wahrnehmung der Dringlichkeit der multiplen Krisen der Gegenwart
       ist in Italien und Deutschland innerhalb der Linken sehr unterschiedlich.
       Bei Gesprächen in Italien scheint mir die Klimakrise unterbewertet, ja
       ausgeblendet. Kritische Solidarität mit Israel gibt es in der italienischen
       Linken eigentlich überhaupt nicht und auch der Kampf der Ukraine gegen den
       russischen Aggressor findet vergleichsweise wenig Sympathien. Stimmen Sie
       dem zu und wenn ja: Woher kommen diese unterschiedlichen Sichtweisen? 
       
       Sciuto: Das sind in der Tat die drei Hauptthemen, die auch uns
       beschäftigen. Die Klimakrise war bei MicroMega nie adäquat präsent, und
       doch steht sie in perfektem Einklang mit unserer Einstellung zur
       Wissenschaft (ein weiterer Aspekt, der uns in Konflikt mit einem gewissen
       linken Flügel bringt, der oft augenzwinkernd antiwissenschaftliche
       Positionen vertritt). Heute ist die Wissenschaft der beste Verbündete der
       Umweltbewegungen. Die verstärkte Auseinandersetzung damit wird unseren
       neuen Kurs charakterisieren. Das muss auch deswegen sein, weil die Ignoranz
       und Vertuschung der derzeitigen italienischen Regierung und der von ihr
       beherrschten Medien im Zusammenhang mit der Klimakrise kriminell genannt
       werden muss.
       
       taz: Und der Gazakonflikt? 
       
       Sciuto: Was die kritische Solidarität mit Israel angeht, möchte ich
       betonen, dass es auch eine kritische Solidarität mit Palästina geben muss:
       Ein Volk ohne Staat, das mindestens seit 1967 unter Besetzung lebt. Was
       nicht gelingt, ist, sich kritisch mit den Formen auseinanderzusetzen, die
       der berechtigte Widerstand des palästinensischen Volkes unter der Führung
       der Hamas angenommen hat. Wir bei MicroMega verstehen nicht, wie man
       Sympathien haben kann für eine reaktionäre, faschistische Bewegung wie die
       Hamas. Da gibt es gar nichts, was Linke irgendwie faszinieren darf. Wir
       haben keine Ansprechpartner in der Region, das ist das Drama. Entweder sind
       die Leute in israelischen Gefängnissen oder sie sind von der Hamas
       liquidiert worden. In Italien ist es heute sehr schwierig, diese Position
       der rigorosen Opposition gegen die rechtsextreme Politik der Regierung
       Netanyahu zu vertreten und gleichzeitig die barbarischen Methoden der Hamas
       ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Ich finde die Situation der öffentlichen
       Debatte in Deutschland aber noch schlechter.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Sciuto: Kritik an Israel wird hier immer wieder mit Antisemitismus
       gleichgesetzt. Das ist brandgefährlich. Es ist nämlich nicht nur
       berechtigt, die Regierung Netanjahu zu kritisieren. In einer freien
       Gesellschaft muss das gesamte politische Handeln eines Staates kritisierbar
       sein, das dieser seit 70 Jahren vorantreibt.
       
       taz: Wenn wir über Meinungsfreiheit sprechen: „From the river to the sea“
       wäre ein Satz, der bei MicroMega seinen Platz hätte? 
       
       Sciuto: Nein, das könnte nicht in einem unseren Artikel stehen. Ein Artikel
       muss erklären, was beabsichtigt wird, das leistet ein Slogan von der Straße
       nicht. Das Problem ist aber, dass [2][dieses „From the river to the sea“
       als antisemitisch stigmatisiert wird], wenn es von propalästinensischer
       Seite kommt; ausgeblendet wird, dass „From the river to the sea“ exakt das
       Programm der israelischen Rechten ist, was die Vertreibung der
       palästinensischen Bevölkerung angeht. Wir haben es mit zwei faschistischen
       Rechten zu tun. Es gibt aber auch diejenigen, für die „From the river to
       the sea“ für einen föderalen Staat steht, in dem alle Bevölkerungsgruppen
       friedlich zusammenleben können, ein Staat, der dann wahrscheinlich weder
       Israel noch Palästina heißen wird. Alles durch ein vereinfachtes Schema zu
       verflachen, ist niemals ein Beitrag zu einer rationalen Debatte.
       
       taz: Jetzt aber Richtung Ukraine! 
       
       Sciuto: Das war eine wirkliche Zäsur. Wir haben sehr viele Leser und
       Autoren verloren, weil wir von Anfang an den Widerstand der Ukraine gegen
       die russische Aggression unterstützt und mehr Hilfe eingefordert haben. Die
       Überlegung dabei war, dass [3][der unbedingte, oft religiös fundierte
       Pazifismus nicht zur Geschichte der Linken gehört]. Denn die Linke hat
       immer zu den Waffen gegriffen, wenn es sich nicht vermeiden ließ, beginnend
       mit dem antifaschistischen Widerstand in Italien, der ein bewaffneter
       Widerstand war. Nach drei Jahren Krieg fragen wir uns natürlich, hätten wir
       mehr tun können, müssen wir die Strategie überdenken? Wir werden jedenfalls
       nicht nachlassen, die linken Kräfte in der Ukraine zu Wort kommen zu
       lassen, die unsere aufklärerischen Werte unterstützen.
       
       5 Oct 2024
       
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