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       # taz.de -- Kinotipp der Woche: Vom Überlebenskampf
       
       > Der Start des neuen Berliner Dokumentarfilmfestivals Dokumentale ist
       > durchaus umstritten. Gute Filme zu Pressefreiheit und Empowerment laufen
       > allemal.
       
   IMG Bild: Szene aus „Of Caravan and the Dogs“ (Askold Kurov and Anonymous 1, DE 2024)
       
       Bäng! Da ist es, das neue Festival für Dokumentarfilme, das schon vom Namen
       nach zeigt, dass es hoch hinaus will. Bei Dokumentale denkt man schließlich
       unweigerlich an das Kronjuwel der Berliner Filmfestivalszene, an die
       Berlinale.
       
       Und prompt gibt es auch Unmut über das vermeintliche Platzhirsch-Gebaren
       des Neulings, worüber unter anderem der Tagesspiegel berichtet hat. Vor
       allem über den Zeitraum, in dem sich die Dokumentale präsentiert, sind
       demnach einige unglücklich. Der Oktober ist bereits voll mit diversen
       Filmfestivals, heißt es, somit könnte eine Kannibalisierung drohen. Und so
       wie die Dokumentale auftritt, könnte es tatsächlich gut sein, dass der
       Oktober in Zukunft vor allem ihr gehört. Vom 10. bis zum 20. Oktober findet
       sie statt, ist also ein vergleichsweise langes Filmfestival. Und es
       verteilt sich nicht nur über zig Kinos in der Stadt, sondern bespielt auch
       eher ungewöhnliche Orte, wie den Club Tresor oder das Zeiss-Planetarium.
       
       Auch das [1][Human Rights Film Fest, das gerade noch läuft], soll nicht
       besonders glücklich darüber sein, dass es eine neue Konkurrenz bekommen
       hat. Schaut man sich etwa den Film „Of Caravan and the dogs“, den der
       russische Regisseur Askold Kurov zusammen mit Anonymous drehte, an, kann
       man die Bedenken auch gut verstehen. Der Film, der [2][oppositionelle
       Medien wie Novaya Gazeta] und die Menschenrechtsorganisation Memorial beim
       Überlebenskampf kurz vor und nach der Invasion der Ukraine durch den
       russischen Imperator Putin zeigt, ist sicherlich astreiner Stoff für das
       HRFF, nun zeigt ihn aber die Dokumentale.
       
       Dadurch, dass der Film bereits Wochen vor dem Überfall der Ukraine in die
       Schilderung der Ereignisse einsteigt, lässt sich noch einmal recht gut
       rekapitulieren, wie rasend schnell Putin Russland in seinem Sinne
       kriegstüchtig gemacht hat, was konkret bedeutet, dass er es in
       Blitzgeschwindigkeit von einer Autokratie in eine Diktatur verwandelt hat.
       [3][Dimitry Muratov], Chefredakteur der Novaya Gazeta, im Jahr 2022
       frischgebackener Nobelpreisträger, versucht, seine Zeitung durch die Zeit
       des großen Umbruchs in Russland zu manövrieren. Dass Putin die Ukraine noch
       massiver als zuvor angreifen könnte, damit hatte man auch hier gerechnet.
       Doch als es dann zur Invasion kommt, ist man auch hier geschockt.
       
       Und dann geht alles ganz schnell. Das Wort „Krieg“ wird vom Staat auf den
       Index gesetzt, fortan darf nur noch von der berüchtigten „Spezialoperation“
       die Rede sein. Überhaupt muss die Zeitung gehörig aufpassen, was sie nun
       druckt. Es wirkt schon fast komisch, wenn ein Redakteur den Text eines
       Korrespondenten redigiert und dabei gut die Hälfte des Geschriebenen rot
       einfärbt, weil er befürchtet, das könne Probleme mit der Staatsmacht
       hervorrufen.
       
       Am Ende hilft bekanntlich auch mehr Vorsicht nichts. Bald entern Polizisten
       in Tarnfleck die Redaktion, schmieren „Z“ an die Wände und machen klar:
       Putin zu kritisieren, geht im neuen Russland nicht mehr.
       
       Den eigentlichen Ton der Dokumentale setzt aber wohl eher deren zwar auch
       politischer, vor allem aber beschwingter Eröffnungsfilm „Sisterqueens“ von
       Clara Stella Hüneke. Die Regisseurin hat für diesen die drei Berliner
       Mädchen Jamila, Rachel und Faseeha eine Zeit lang begleitet, weitgehend
       während der Corona-Pandemie.
       
       Die drei nehmen als Hip-Hop-Crew an dem titelgebenden [4][Rap-Projekt für
       Mädchhen* in Wedding] teil und wollen alle hoch hinaus. Astronautin,
       Biologin, Schauspielerin, davon träumen sie und sicherlich nicht davon,
       einfach möglichst bald einen Typen zu heiraten, wie sich das vielleicht
       ihre Mütter wünschen.
       
       Feministin, das bekommt man hier vermittelt, kann man nicht früh genug
       werden. Den drei Mädchen geht es um gegenseitiges Empowern und um
       Freundschaft. Jungs und Männer spielen hier kaum eine Rolle und sind den
       ganzen Film über weitgehend abwesend. Girlpower geht viel besser ohne sie.
       
       9 Oct 2024
       
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