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       # taz.de -- Rückzug der Grünen Canan Bayram: „Ich will kein Feigenblatt sein“
       
       > Die Kreuzberger Grüne Canan Bayram wird nicht erneut für den Bundestag
       > kandidieren. Sie sieht die Glaubwürdigkeit der Partei infrage gestellt.
       
   IMG Bild: Canan Bayram im Widerspruch zu ihrer Partei
       
       taz: Frau Bayram, Sie treten bei der Bundestagswahl [1][nicht mehr für die
       Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg an]. Wieso? 
       
       Canan Bayram: Zum einen ist für mich der Kreisverband nicht mehr so im
       Wahlkreis vernetzt, wie ich das von früher aus Zeiten meines Vorgängers
       [2][Hans-Christian Ströbele] her kenne und ich das für meine politische
       Arbeit bräuchte. Auch gab es interne Vorkommnisse, die dazu führen, dass
       ich Menschen mit Migrationshintergrund nicht mehr versprechen kann, dass
       sie mit ihren Problemen kommen können und einen diskriminierungsfreien Raum
       vorfinden. Des Weiteren kann ich in Teilen nicht mehr sagen, was überhaupt
       noch grüne Positionen sind.
       
       taz: In der Politik von Fraktion und Bundespartei? 
       
       Bayram: Auf allen Ebenen meine ich das. Mein Anspruch an Politik ist es,
       aus dem Wahlkreis die Fragen ins Parlament und die Fraktion zu tragen und
       dann die Antworten auch aus grüner Programmatik zu geben. Manchmal finde
       ich da noch Antworten, aber immer öfter tun sich da Widersprüche auf, die
       ich nicht mehr auflösen kann, sodass ich den Menschen nicht mehr erklären
       kann, wofür die Grünen eigentlich stehen.
       
       taz: An welchen inhaltlichen Punkten stoßen Sie sich? 
       
       Bayram: Die Friedenspolitik ist ein Thema, dass ich in der Tradition von
       Hans-Christian Ströbele immer mit meinem Abstimmungsverhalten im Bundestag
       vertreten habe. Seien es [3][Waffenlieferungen] oder rüstungspolitische
       Entscheidungen – ich kann nicht mehr sagen, was die Position der Grünen
       ist.
       
       taz: Die Positionen sind doch eindeutig – es sind nicht Ihre. 
       
       Bayram: Manches, was in der Fraktion entschieden wird, steht im Widerspruch
       zu den programmatischen Grundprinzipien, die wir programmatisch entschieden
       haben. Damit ist die Glaubwürdigkeit der Grünen infrage gestellt. In der
       Konsequenz kann ich dafür nicht mehr mein Gesicht an die Laterne hängen.
       
       taz: In welchen Punkten sind Sie noch enttäuscht vom Kurs der Partei? 
       
       Bayram: Die soziale Frage, zu der auch das soziale Mietrecht gehört, das
       Migrationsthema, es sind sehr viele Themen, die sich auch exemplarisch in
       meinem Wahlkreis widerspiegeln. Was mich besonders stört, ist, dass wir uns
       als Grüne einmal in Politikfeldern wie Innen- oder Kriminalpolitik an
       evidenzbasierten inhaltlichen Lösungen orientiert haben. Mittlerweile habe
       ich den Eindruck, dass wir uns viel mehr [4][an populistischen Diskursen
       beteiligen], statt die eigentlichen Lösungen zu diskutieren.
       
       taz: Das linke Feigenblatt wollen Sie nicht mehr sein? 
       
       Bayram: Bei Abstimmungen etwa zum Sondervermögen für die Bundeswehr oder
       zur Aufweichung des Klimaschutzgesetzes wird gesagt, bei uns stimmen auch
       Leute dagegen. Ich kriege dann haufenweise positive Zuschriften von
       Parteimitgliedern. Aber ehrlicherweise weiß ich, der Umstand, dass ich
       dagegen gestimmt habe, hat faktisch für die Fraktion kein großes Nachdenken
       ausgelöst. Man schmückt sich mit mir als Feigenblatt, aber dafür gebe ich
       mich nicht mehr her.
       
       taz: Stellen Sie auch Ihre Mitgliedschaft infrage? 
       
       Bayram: Ich will auf jeden Fall weiter Politik machen und werde dies auch
       bis zum Ende der Legislatur zum Wohle der Bevölkerung in meinem Wahlkreis
       tun. Aber im Parlament sehe ich das perspektivisch weniger. Da wird mehr
       Disziplin eingefordert als eine offene Debatte geführt. Da sehe ich nicht,
       dass sich im Sinne von grüner Positionierung, Glaubwürdigkeit oder auch nur
       Sichtbarkeit etwas zum Guten wenden kann. Ich will mich weiter in der
       Partei einbringen, um gemeinsam Dinge zu verbessern. Aber ich sage auch
       deutlich: Ich will in den Austausch mit den [5][jungen Mitgliedern treten,
       die gerade aus der Grünen Jugend und der Partei austreten].
       
       taz: Ist es nicht mit der Austrittswelle bei der Grünen Jugend zu spät für
       eine linke Wende bei den Grünen? 
       
       Bayram: Das sind Fragen, denen ich nachgehen will, auf die ich aber noch
       keine Antworten habe.
       
       8 Oct 2024
       
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