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       # taz.de -- Vorstand über 100 Jahre Rote Hilfe: „Wir müssen jetzt zusammenhalten“
       
       > Seit 100 Jahren unterstützt die Rote Hilfe linke Gruppen. Ein Gespräch
       > mit Vorstand Henning von Stoltzenberg zum Jubiläum in Zeiten des
       > Rechtsrucks.
       
   IMG Bild: Bitterer Scherz: In Sträflingskleidung sammelt ein Aktivist am 1. Mai 1930 Geld für die Rote Hilfe
       
       taz: [1][Vor 100 Jahren wurde die Rote Hilfe gegründet], um staatlichen
       Repressionen gegen Linke etwas entgegenzusetzen. Ist das Jubiläum am 1.
       Oktober für Sie ein Grund zum Feiern? 
       
       Henning v. Stoltzenberg: Natürlich! Wir sind eine bundesweite, linke
       Solidaritäts- und Schutzorganisation. In über 50 Städten leisten unsere
       Ortsgruppen und unsere Unterstützer:innen großartige Arbeit. Wir
       werden von der Bewegung getragen und durch Spenden unterstützt und können
       so ein Gegengewicht zu sich rasant entwickelnden staatlichen Repressionen
       und dem Rechtsruck sein. Das ist ein Grund zu feiern. Obgleich das
       natürlich auch heißt, dass es uns weiter braucht, weil Gesetze verschärft
       werden, weil es massive Polizeigewalt gibt, weil Aktivist:innen aus
       politischen Gründen im Gefängnis sitzen. Dagegen kämpfen wir seit 100
       Jahren an und werden es noch tun, solange es nötig ist.
       
       taz: Wie steht es heute um den Stand der Repression gegen linke
       Gruppierungen? 
       
       Stoltzenberg: Die Repressionsentwicklung bezeichnen wir als rasant. Wer
       hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass die Letzte Generation, die sich
       friedlich auf Straßen setzt, [2][zur kriminellen Vereinigung erklärt] wird?
       Dass die Generalstaatsanwaltschaft München die [3][Internetseite der
       Letzten Generation sperrt], dass bundesweit Wohnungen durchsucht werden?
       Oder die Auslieferung der Antifaschist:in Maja: Klar rechtswidrig! Das
       passiert einfach, obwohl es einen [4][anderslautenden Beschluss des
       Bundesverfassungsgerichts gibt]. Es ist die normative Kraft des Faktischen,
       die sich die Behörden immer öfter leisten, sie tun Dinge einfach. Damit
       wird die Polizei aus unserer Sicht immer öfter zum politischen Akteur.
       
       taz: Sie sagen, die Polizei als Institution verfolgt eigenständige
       politische Ziele? 
       
       Stoltzenberg: Wir beobachten in Antifa-Prozessen, dass Beamt:innen
       teilweise Verbindungen nach rechts haben und ein klares Eigeninteresse
       zeigen, gegen Linke und Antifaschist:innen vorzugehen. Da werden
       [5][Neonazis Sachen zugespielt]. Da verschwindet eine große Anzahl an
       Patronen, die dann später mutmaßlich [6][in den Händen von Rechten wieder
       auftauchen]. Da ist sehr viel im Argen. Man spürt das auch auf
       Demonstrationen, wo manchmal einfach Sachen verboten werden, ohne dass es
       dafür eine Rechtsgrundlage gibt. Wenn man sich nach dieser erkundigt,
       werden Beamt:innen auch frech und sagen, „ich brauch keine“. Was
       natürlich falsch ist, aber sie sagen, „im Zweifelsfall haben wir unsere
       Knüppel und hinterher werden wir sowieso nicht belangt“. Das ist ein
       Problem!
       
       taz: Welche Rolle spielt in dieser Entwicklung die zunehmende
       gesellschaftliche Isolation der Linken? In den letzten Jahren sind
       bürgerliche Parteien und die Bevölkerung spürbar nach rechts gerückt. 
       
       Stoltzenberg: Natürlich gibt es eine starke gesellschaftliche
       Polarisierung. Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass viele Leute
       sich zu uns hin bewegen, weil sie verstehen, dass in Zeiten des Rechtsrucks
       die Solidarität stärker werden muss. Das führt dazu, dass wir mehr Spenden
       bekommen, dass sich immer mehr Menschen entscheiden, [7][der Roten Hilfe
       beizutreten]. Das ist wichtig, denn wir müssen jetzt zusammenhalten, damit
       es uns gelingt, die Verhältnisse perspektivisch wieder zu drehen und wieder
       einen größeren Spielraum, mehr progressive Inhalte und Freiheitsrechte zu
       erkämpfen.
       
       taz: Wächst die Unterstützung und Akzeptanz der Roten Hilfe auch im
       linksliberalen Spektrum? 
       
       Stoltzenberg: Den Eindruck habe ich ganz stark. Klar, nicht immer gefällt
       allen alles, was in unseren Broschüren steht. Aber es gibt eben viele
       Bereiche – der Kampf gegen rechts, der Klimabereich –, wo ein Verständnis
       dafür wächst, dass wir nützliche Tipps anzubieten haben: Geht nicht zu
       Vorladungen, es sei denn, sie kommen von der Staatsanwaltschaft. Verweigert
       die Aussage. Lasst euch solidarische Anwält:innen vermitteln. Das nützt
       ja allen Bewegungen – und deshalb halten wir Vorträge sowohl bei
       Antifastrukturen als auch bei der Grünen Jugend. Und das finden wir super
       so!
       
       taz: Weil es – Sie haben schon die Letzte Generation angesprochen – heute
       schneller geht, mit dem eigenen Aktivismus ins Visier der Behörden zu
       geraten? 
       
       Stoltzenberg: Ja. Heute kann es alle treffen. Du musst nicht mehr klassisch
       militante Aktionsformen wählen. Es kann dich treffen, einfach weil du dich
       mit einem Schild auf die Straße setzt und protestierst. Dann kann gegen
       dich – wie bei der Letzten Generation – eine bundesweite Hetzkampagne
       gestartet werden, die dir vorwirft, [8][du würdest Rettungskräfte
       behindern]. All das stimmt wahrscheinlich gar nicht, aber das kann über
       dich hereinbrechen – und da braucht es dann eine kollektive Verteidigung
       und Zusammenhalt. Das verstehen immer mehr Menschen.
       
       taz: Der Leitspruch der Roten Hilfe ist: Gegen staatliche Repression müssen
       alle zusammenstehen, unabhängig, zu welcher Gruppe man gehört oder welche
       Analyse man hat. Linke sind ja aber sehr gut darin, sich gegenseitig das
       Linkssein abzusprechen. Wie definiert denn die Rote Hilfe, wer zur Linken
       dazugehört? 
       
       Stoltzenberg: Es ist mir nicht möglich, allumfänglich zu definieren, was
       links ist. Entscheidend ist für uns zunächst einmal ein linkes
       Selbstverständnis. Und dann haben wir [9][unsere Satzung, wo einige Dinge
       festgelegt sind]: Das Eintreten für die Interessen der
       Arbeiter:innenklasse, gegen Faschismus, Rassismus, Patriarchat,
       Kriegsgefahr, auch gegen Antisemitismus. Wenn du dich dafür einsetzt, ist
       die Chance, von uns unterstützt zu werden, sehr hoch.
       
       taz: Derzeit zerfleischt sich die Linke vor allem am Nahostkonflikt. Wie
       versucht die Rote Hilfe, in dieser Frage strömungsübergreifend zu bleiben? 
       
       Stoltzenberg: Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt zunächst einmal auf der
       Situation hier in Deutschland. Und da sehen wir, wie diese Proteste, die
       weitestgehend – wenn auch nicht immer – von Gruppen mit linkem und
       fortschrittlichem Selbstverständnis getragen werden, massiv
       [10][angegriffen und niedergeknüppelt] werden. Wie auf Demos verboten wird,
       bestimmte Slogans oder sogar bestimmte Sprachen zu sprechen. In Berlin hat
       der Senat den gewalttätigen Angriff auf Lahav Shapira zum Anlass genommen,
       [11][ein neues Hochschulgesetz] durchzusetzen, durch das auch
       fortschrittliche Kräfte exmatrikuliert werden können – ohne, dass es dafür
       ein richterliches Urteil wegen eines Vergehens bräuchte. Das ist eine
       Ausweitung von Repression, die auch andere soziale Bewegungen treffen wird.
       Heute geht es um Palästinasolidarität, morgen vielleicht darum, dass man
       was gegen die AfD gesagt hat.
       
       taz: Kurz nach dem 7. Oktober hat die Rote Hilfe dem PFLP-nahen
       „Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene“, Samidoun, die
       Solidarität entzogen. Die Berliner Ortsgruppe hat diese Entscheidung
       öffentlich kritisiert. Wo sind in Sachen Palästina-Solidarität die roten
       Linien der Roten Hilfe? 
       
       Stoltzenberg: Bei der Entscheidung, Aktivist:innen zu unterstützen,
       halten wir uns stark an unsere Satzung, die Antisemitismus ausschließt. Bei
       Unterstützungsfällen gucken wir uns deshalb immer den Einzelfall und den
       Gesamtkontext an, bevor wir eine Entscheidung treffen. Das heißt, wir
       teilen natürlich nicht den Pauschalvorwurf des Antisemitismus gegen die
       palästinasolidarische Bewegung, aber wir sind sensibilisiert und gucken
       genau hin. Das führt manchmal – wie mit der Berliner Ortsgruppe – zu
       starken Diskussionen und Kontroversen. Aber das heißt nicht, dass wir nicht
       mehr zusammenarbeiten. Es ist eine fortlaufende Diskussion, die so lange
       nicht abgeschlossen sein wird, wie es die Solidaritätsbewegung und die
       Repression gibt.
       
       taz: Im Interesse der gesamten politischen Linken: Was ist das
       Erfolgsrezept, sich nicht zu zerspalten? 
       
       Stoltzenberg: Ich glaube, wir versuchen, immer das große Ganze zu sehen.
       Dass die Rote Hilfe für alle linken und fortschrittlichen Menschen ein
       unglaublich wichtiger Anker ist, dass wir diese Verantwortung annehmen
       müssen, auch wenn man sich mal über Aussagen ärgert. In der Roten Hilfe
       kommen viele Menschen zusammen, die sich sonst inhaltlich nicht finden
       würden – und die dann feststellen, dass es eben auch geht, zu einem
       bestimmten Punkt zusammenzuarbeiten. Klar, es knallt auch manchmal, aber es
       geht. Das ist aus unserer Sicht ein Erfolgskonzept für linke Arbeit.
       
       taz: Was erwarten Sie, wie wird sich die Repression in den nächsten Jahren
       weiterentwickeln? 
       
       Stoltzenberg: Was ich befürchte – obwohl es gerne anders kommen darf – ist,
       dass die Repressionen gegen die migrantische Linke, vor allem gegen
       Kurd:innen, weiter fortschreiten wird. Zum Beispiel die Tendenz, dass
       Deutschland – wie kürzlich im Fall Kenan Ayaz – auch im Ausland [12][im
       Dienste der Türkei kurdische Politiker:innen verfolgt]. Dann werden
       Wahlerfolge der AfD Proteste gegen rechts auslösen, die erwartungsgemäß
       durch staatliche Repression sanktioniert werden. Es wird um die Erhaltung
       unserer politischen Grundrechte gehen, um fortschrittliche Kultur,
       Interkulturalität, queere Strukturen. Das sind alles Sachen, die in Gefahr
       sind, weshalb wir in den nächsten Jahren unterstützend an der Seite der
       Bewegungen kämpfen werden, so gut wir können.
       
       1 Oct 2024
       
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