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       # taz.de -- Theaterstück „Il Trionfo dei Giganti 2“: Demokratie auf einmal cool
       
       > Für das Stück „Il Trionfo dei Giganti 2“ verwandelt das Staatstheater
       > Braunschweig die Bühne in eine Agora. Die ist lustiger als das antike
       > Vorbild.
       
   IMG Bild: Verängstigte Frauen? Ironisch geht das Stück mit Rollenklischees um
       
       Direkt degradiert: Zur Braunschweiger Uraufführung von „Il Trionfo dei
       Giganti 2“ wird das Publikum gleich im Foyer von der panisch engagierten
       Deborah (Mariam Avaliani) auf den Boden der Tatsachen geholt. Das führt ihm
       die eigene Rolle klar vor Augen: Jeder Besucher bekommt einen
       Statisten-Ausweis umgehängt. Im Theater geht’s halt nicht ohne die
       Zuschauerstatisten, die an den richtigen Stellen zu lachen, zu weinen und
       am Ende begeistert zu klatschen haben. Und in der parlamentarischen
       [1][Demokratie], so viel Überbau muss am Staatstheater sein, sind die
       meisten Bürger auch nur Statisten – statt aktiv gesamtgesellschaftliche
       Angelegenheiten auszuhandeln.
       
       Einerseits fehlen reale Orte der politischen Kommunikation. Andererseits
       hat sich die Utopie von interkulturellen Diskursräumen und
       Beteiligungsmöglichkeiten im Digitalen zur hassgetränkten Dystopie
       entwickelt. Überzeugungen erwachsen scheinbar nur noch im geistigen
       Gefängnis der eigenen [2][Filterblase]. Diesem Lamento setzt das
       Staatstheater Braunschweig etwas entgegen, indem es die Experimentierbühne
       Aquarium für sechs Premieren und eine Gesprächsreihe als Agora herrichtet.
       
       Das antike Vorbild ist legendär. In Athen [3][war die Agora das Zentrum des
       Gemeinwesens]. Der Marktplatz diente der Polis zur Meinungsbildung, zu
       direktdemokratischen Entscheidungen sowie der Volksjustiz. Außerdem war er
       Handelsplatz, ein Ort zum Essen, Trinken, Feiern und für den Götterdienst.
       Da kann das Braunschweiger Theater natürlich nicht mithalten.
       
       Seine Agora ist eher schlicht gestaltet: ein mit Plastikplanen abgehängter,
       weiß grundierten Raum mit zwei Stuhlreihen im Halbrund vor einer kleinen
       Bühne. Über allem glüht eine Sonnenstrahleninstallation. Regisseur Fynn
       Malte Schmidt nutzt das Bühnenbild als Filmset. Sequels von Sandalenfilmen
       sollen gedreht und als aktuell verkauft werden: „Einfache Geschichten,
       starke Parabeln, der Kampf Gut gegen Böse, Demokraten gegen Autokraten“.
       
       Wir Statisten tasten uns erst mal im Licht ausgehändigter Taschenlampen
       durchs unbeleuchtete Szenario. Der Auftrag ist, einen Apfel zu finden, um
       einen Waschbär anzulocken. Der knabbere die Kabel an. Daher die
       gegenwärtige Dunkelheit.
       
       Bald schon ist das gesuchte Obst aus einer Amphore gefischt. Aber viel
       immersiver wird es nicht. Vier Besuchende dürfen noch ein Handtuch als Toga
       umbinden und alle zusammen mal schnell entscheiden, wer „Cut“ beim Dreh
       rufen darf, ansonsten bleibt das Volk halt vor allem stummer Zuschauer.
       
       Wirklich in den Austausch kommen nur die Filmleute. Sie zitieren das
       Gryphius-Sonett „Es ist alles eitel“, räumen zu Jazzmusik endlos Requisiten
       hin und her, singen mal ein Lied und versuchen eine desillusionierte,
       genervte Gesellschaft im Leerlauf darzustellen, in der „Beschweren in
       selbstauferlegter Unmündigkeit zur einzigen politischen Praxis“ erhoben
       wurde. Was ist zu tun? Ein pädagogisch wertvoller Wandel der Figuren ist
       herbeizuzaubern – uns allen zum Vorbild.
       
       Schon entdeckt sich Pamela (Amy Lombardi) als Homo politicus und hält einen
       Impulsvortrag zur Neuorganisation der Arbeit. „Wacht auf, Verdammte dieser
       Erde“ erklingt. Auch wenn es Unsicherheit bedeutet – ab sofort heißt die
       Losung: „Freiheit – endlich heraustreten aus den Schatten der
       Schein-Verantwortung und Teil einer legitimen, demokratischen Form der
       Entscheidungsfindung werden.“
       
       Das Schauspielquintett arrangiert sich in „revolutionärer Pose“ wie auf dem
       Gemälde „La Liberté guidant le peuple“ von Eugène Delacroix. Dann dreht es
       den pathetischen Historienquatsch, für den es engagiert wurde, einfach mal
       selbstbestimmt in trashiger Manier. Mitten in die Euphorie kommt die
       Ansage: „Die Betriebsratssitzung im Ben-Hur-Zimmer beginnt in fünf Minuten.
       Bis gleich.“
       
       Sonst ging dort niemand hin, jetzt werden wohl alle erstmals dabei sein.
       Ja, dies ist ein Muntermacherstück, Verantwortung zu übernehmen,
       Solidarität einzuüben. Ein Lehrstück wie von der Gewerkschaft Ver.di oder
       dem Ensemble Netzwerk verfasst. Aber Ensemble und Regisseur haben es nicht
       in ihrem Auftrag, sondern aus sich selbst heraus geschrieben. So startet
       die große Agora-Idee einer demokratischen Streitkultur mit einer kleinen
       Werbeveranstaltung für betriebliche Mitbestimmung.
       
       Der lässig ironische Umgang mit Rollenklischees des Textes sowie die
       entspannte Verspieltheit, mit der das politische wie auch mentale Befinden
       unserer Republik karikiert wird, lassen den Abend zu einem vergnüglichen
       werden.
       
       7 Oct 2024
       
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