URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Für Selfies reicht’s gerade noch
       
       > Die Italo-Woche der Wahrheit: Wie der vermurkste Turm von Pisa gnadenlos
       > als Sehenswürdigkeit vermarktet und von Touristen zu Tode geknipst wird.
       
   IMG Bild: Immer hat er dieses schiefe Lächeln im fahlen Gesicht: Pisas Turm
       
       Pisa – wer kennt es nicht, zumindest dem Namen nach? Pisa, die Stadt mit
       dem schiefen Turm. Selten wird ein Ort so sehr verbunden mit seinem
       Wahrzeichen. Zumal es sein einziges ist. Woanders wäre das unvorstellbar.
       Brüssel, die Stadt mit dem Manneken Pis. London, die Stadt mit dem
       Zebrastreifen, den die Beatles überquert haben. Berlin, die Stadt ohne
       Mauer. New York, die Stadt mit den fehlenden Türmen. Und natürlich Wedding,
       der Bezirk mit dem Eiffelturm.
       
       Und dann ist der schiefe Turm auch noch ein Versehen. Da hat kein Bischof
       zum Architekten gesagt: „Bau mir mal einen schiefen Turm neben den Dom,
       damit die Leute sehen, dass Gottes Power so immens ist, dass sie sogar der
       Schwerkraft trotzt.“
       
       Auch die Glocken sind nicht so schwer, dass sich der Turm zur Seite neigen
       müsste und sie aus den oberen Fenstern raus baumelten wie das Gehänge eines
       alten Mannes mit noch älterer Unterhose. Nein, dieser Campanile ist
       schlichtweg Ergebnis statischer Fehlplanung. Wer baut schon einen Turm auf
       morastigem Grund? Na klar, die Italiener! Trinken den ganzen Tag Aperol
       Spritz und schieben sich zwischendurch Pizza Mista und Pasta al Pomodoro
       rein. Da vergisst man schnell mal nachzuprüfen, ob das Bauland überhaupt
       geeignet ist für aufeinandergestapelten Carraramarmor.
       
       Wer kennt nicht die gesammelten Baukatastrophen Italiens? Das kaputte
       Kolosseum in Rom. Das abgesoffene Venedig. Pompeji, die Stadt ohne Dächer.
       Oder das Pantheon, die Kirche mit dem Loch in der Kuppel. Weil irgendein
       cleverer Planer damals im alten Rom dachte: Numquam pluit in Italia. Oder
       zu gut deutsch: It never rains in Italy.
       
       ## Stützen des Bauwerks
       
       Aber alles nicht so arg wie der schiefe Turm von Pisa. Jeder kennt diese
       witzigen Fotos, wo Menschen aus aller Welt so tun, als würden sie das
       Bauwerk abstützen. Das halbe Internet ist voll damit. Und an sämtliches
       offline Gespeicherte wollen wir da gar nicht erst denken. Kaum ein
       Reisender hat sich diesbezüglich zurückhalten können. Unvergessen die
       Szene, als der erste deutsche Italientourist Johnny „Wolle“ Goethe im
       Frühjahr 1788 lässig, so als würde er den Turm mit bloß einem Finger
       stützen, seinem getreuen Leibporträtisten Jo Tischbein am Torre pendente di
       Pisa Modell stand, von 12 Uhr mittags bis 14.45 Uhr am nächsten Tag.
       
       Wie viel Ölfarbe, Tinte, Zelluloid und Speicherplatz für diesen Turm wohl
       schon draufgegangen sind? Irgendwo in der Wüste von New Mexico steht eine
       ganze Batterie an Servern, auf denen allein diese Bilder zwischengelagert
       sind. Deren Kühlung ist bis zur internationalen Raumstation zu hören. Denn
       für die ganzen witzig gemeinten Selfies ist mindestens schon ein kleines
       Atomkraftwerk explodiert – aus purer Fremdscham.
       
       Aber was soll man in Pisa auch sonst machen? Vor allem mit der Handykamera?
       Der Rest dieses Städtchens ist nicht sonderlich selfietauglich. Es sei
       denn, man verlegt sich auf Fotos mit anderen Touristen. Die sind in Pisa
       reichlich vorhanden. Sonst würden die aufgeheizten engen Straßen und Gassen
       wohl ziemlich leer bleiben. Wobei es durch diese Zusammenklumpungen von
       Reisenden sehr leicht ist, sich hier zurechtzufinden. Einfach den anderen
       hinterherlaufen, irgendwann landet man zwangsläufig am schiefen Turm.
       
       ## Alles mit Spritz
       
       Dessen Nähe kündigt sich zusehends an durch die auf Touristen
       spezialisierte Gastronomie, die auf großen Tafeln für sprudelige Getränke
       aller Couleur wirbt: Aperol Spritz, Basilikum Spritz, Limoncello Spritz,
       Campari Spritz, Cola Spritz, Schlumpf Spritz. Dazu das übliche Programm
       Pizza, Pizza, Pasta Pampa mit einem Extraschlag Pronto Pronto. Die nächsten
       Gäste warten schon auf Abfütterung.
       
       Wer es aber geschafft hat, den Anwerbeversuchen der Kellner auszuweichen,
       die jeden Vorbeilaufenden bereits von Weitem wie ihren verschollen
       geglaubten siamesischen Zwilling begrüßen – ciao ragazzi, mangiare,
       mangiare? –, und nicht auf einen der Plastikstühle gedrückt wird, steht
       kurz darauf vor der Wiese mit Turm, Dom und Baptisterium. Und alle wirken
       so, als würden sie denken: Auf den Bildern sieht das Ding viel größer aus.
       
       Um dieser Enttäuschung Herr zu werden und doch noch was aus der groben
       Fehlentscheidung von Reiseziel zu machen, zücken alle ihre Smartphones und
       fangen an, den Turm scheinbar zu stützen. „Mach mal ’n Bild von mir, Hase!
       Das schicken wir dann der Omma, die freut sich. Die hat auch einen krummen
       Rücken.“
       
       14 Oct 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thilo Bock
       
       ## TAGS
       
   DIR Italien
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 
   DIR Tourismus
   DIR GNS
   DIR Messer
   DIR Berliner Bezirke
   DIR Konklave
   DIR Wohnen
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Kolumne Die Wahrheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Im Namen der Melone
       
       Generation Final Cut: Alle Welt hat Angst vor Messermännern. Dabei gibt es
       doch auch ehrenwerte und nette Schnitter, die gern Obstsalat fabrizieren.
       
   DIR Die Wahrheit: Berliner Brot
       
       Die Berliner Bezirksrathäuser kommen wie Regierungssitze daher. Das hat
       nicht nur historische Gründe – und vor dem Schöneberger bäckt man jetzt
       Brot.
       
   DIR Die Wahrheit: Warum ich Papst werden muss
       
       Offener Brief an den Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, Piazza San
       Pietro 666, Vatikanstadt, Rom. Betrifft: Bewerbung zu einem interessanten
       Amt.
       
   DIR Die Wahrheit: Zehn Quadratmeter Zuhause
       
       Auf den eigenen vier Rädern: In der Problemwohnstadt Berlin geht der Trend
       zum flexiblen Wohnen auf dem Parkplatz.
       
   DIR Die Wahrheit: Holidays in Bad Mut
       
       Der neueste Trend in einem Lockdown ohne echten Urlaub: Reisen ohne
       wegzufahren. Kein Grund, im Trüben zu fischen!
       
   DIR Die Wahrheit: Impfen vor acht
       
       Sputnik V ist plötzlich in aller Munde oder wenigstens in allen Armen. Wer
       hätte das gedacht? Ein russischer Kampfstoff für die Deutschen!