URI: 
       # taz.de -- Westbalkan-Gipfel in Berlin: Regionaler Freihandel statt EU-Beitritt
       
       > Die Bilanz von einer Dekade Westbalkan-Gipfel fällt bescheiden aus. Nun
       > soll der EU-Beitritt beschleunigt und der regionale Handel stärker
       > werden.
       
   IMG Bild: Kosovos Premierminister und die Vertreterin Bosnien-Herzegowinas Borjana Kristo (vorne rechts) unterzeichnen den Aktionsplan für das Freihandelsabkommen CEFTA. Mit dabei: Ursula von der Leyen und Olaf Scholz sowie der Premierminister von Montenegro Milojko Spajic
       
       „Die Erweiterung steht ganz oben auf der Tagesordnung“, sagte Olaf Scholz
       am Montag auf dem Westbalkan-Gipfel in Berlin. Der Bundeskanzler war in
       diesem Jahr Gastgeber des Formats, das die wirtschaftliche Integration der
       Westbalkanstaaten in die Europäische Union vorantreiben soll. Zur Region
       gehören Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, dass Kosovo, Albanien
       und Nordmazedonien.
       
       Noch laufe die EU-Integration zu schleppend, sagte Scholz zum Abschluss der
       Konferenz vor der Presse. „Ich hoffe, dass es nicht nochmal zehn Jahre
       braucht, bis alle Westbalkanstaaten EU-Mitglieder geworden sind.“ Bis es so
       weit ist, erklärte Scholz, sollen vor allem der Freihandel und die
       regionale Wirtschaft der Länder gestärkt werden.
       
       Der sogenannte [1][Berliner Prozess begann 2014]. Seitdem findet die
       Westbalkan-Konferenz einmal im Jahr statt.
       
       „Ich denke, der Berliner Prozess hat den Beitritt leider nicht
       beschleunigt“, sagte Ulf Brunnbauer [2][in einem Interview mit der taz]. Er
       forscht an der Universität Regensburg zur Geschichte Süd- und Osteuropas.
       Für die meisten Länder in der Region seien die Konferenzen nur noch eine
       „Pflichtübung“, um etwas internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
       
       In der Tat stehen die EU-Beitrittsprozesse im Westbalkan noch am Anfang.
       Montenegro und Serbien verhandeln mit der EU. Die anderen vier Staaten
       haben lediglich den Antrag auf einen EU-Beitritt gestellt. Der ewige
       Beitrittsprozess sorge für Stillstand in den Balkanländern, sagte
       Brunnbauer der taz. Er diene politischen Führern vor Ort als Ausrede dafür,
       notwendige Reformen anzugehen. Daher sei die Zustimmung zu einem
       EU-Beitritt zuweilen in den Ländern nicht mehr enthusiastisch. „Manche
       haben die Hoffnung aufgegeben.“
       
       Brunnbauer kritisiert, die EU lege Doppelstandards an. Während im EU-Land
       Ungarn keine funktionierende Demokratie mehr herrsche, fordere man vom
       Westbalkan politische Reformen hin zu mehr Demokratie. „Warum gibt es für
       den Westbalkan so eine hohe Erwartungshaltung, wenn selbst EU-Mitglieder
       Demokratieabbau betreiben?“
       
       Ob ein Land der EU beitreten kann, bestimmen die Kopenhagener Kriterien.
       Die wichtigsten Voraussetzungen sind demokratische Ordnung, intakte
       Marktwirtschaft und Akzeptanz des EU-Rechts. Die Länder des Westbalkans
       entsprechen den Kriterien derzeit noch nicht. „Aber das haben Bulgarien und
       Rumänien 2007 auch nicht“, meint Brunnbauer. Statt eine Aufnahme in die EU
       weiter zu verschieben, brauche es Fantasie für neue Beitrittsmodelle.
       
       Eines davon propagiert Olaf Scholz: Er spricht sich für eine gesammelte
       Aufnahme der Länder aus, um gegenseitige Blockaden zu vermeiden. Ein
       anderer Weg ist, den Prozess gradueller zu gestalten. Vor einer
       Vollmitgliedschaft könnte man den Ländern den Zugang zum EU-Binnenmarkt
       ermöglichen. Brunnbauer befürwortet diese Idee, aber merkt an, dass die
       Ökonomien vor Ort „eher klein und unattraktiv“ sind. „Die wenigsten
       Branchen sind konkurrenzfähig genug, um innerhalb der EU oder des
       Weltmarkts zu bestehen.“ Zusätzlich seien die Marktwirtschaften durch
       staatlichen Einfluss korrumpiert.
       
       Angesichts dieser schwierigen Lage soll das Cefta-Freihandelsabkommen
       helfen. Das Central European Free Trade Agreement umfasst seit 2007 nur
       noch die Westbalkanländer sowie Moldawien. Der Abbau von Zöllen und
       Handelshemmnissen sind zentral für mehr Wirtschaftswachstum. Allerdings
       blockierte ein [3][Streit zwischen Kosovo und Serbien] jüngst weiteren
       Fortschritt. Das Kosovo hatte den Import von serbischen Waren an der Grenze
       blockiert. Scholz intervenierte, und das Kosovo hat die Blockade
       mittlerweile aufgehoben. Dafür wird das Land im Rahmen von Cefta als
       eigenständiger Staat anerkannt.
       
       Was von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei dem
       Außenministertreffen des Gipfels als „historischer Schritt“ für die Region
       gefeiert wird, sieht Brunnbauer kritisch. „Es gibt kaum etwas, womit die
       Westbalkanstaaten untereinander handeln können, weil sie so wenig
       produzieren.“ Für das, was sie exportieren können, gebe es kaum Märkte in
       den anderen Cefta-Ländern. Zudem führten die Extraktionsindustrien zur
       Stärkung korrupter Systeme.
       
       An einer Extraktion eines bestimmten Rohstoffs ist der Gastgeber
       Deutschland besonders interessiert. Serbiens Lithium führte zu einer
       strategischen Partnerschaft der beiden Länder. Brunnbauer meint: „Olaf
       Scholz verlagert die negativen Folgen der Klimatransformation in
       semiautokratische Länder. Das erinnert an deutsche Öl-Deals mit Ländern wie
       Saudi-Arabien.“
       
       Statt des [4][Lithium-Deals] betont Scholz auf der Abschlusskonferenz am
       Montag bürgernahe Vorzeigeprojekte. Etwa die Abschaffung von
       Roaminggebühren oder die Anerkennung von Berufs- und bald auch
       Universitätsabschlüssen.
       
       Ob der Berliner Prozess in seiner nächsten Dekade nun wirklich zu mehr
       europäischer Zusammenarbeit mit dem Westbalkan führt, bleibt abzuwarten.
       
       14 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.berlinprocess.de/#about-berlin-process
   DIR [2] /Osteuropa-Experte-ueber-Westbalkan/!6042295
   DIR [3] /Archiv-Suche/!6036163&s=kosovo&SuchRahmen=Print/
   DIR [4] /Lithium-Deal-mit-Serbien/!6027900
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stella Lueneberg
       
       ## TAGS
       
   DIR Westbalkan-Staaten
   DIR Nato
   DIR Lithium
   DIR Kosovo
   DIR Serbien
   DIR Bosnien und Herzegowina
   DIR Albanien
   DIR Montenegro
   DIR EU-Osterweiterung
   DIR Amokläufer
   DIR Kosovo
   DIR Westbalkan-Staaten
   DIR Nato
   DIR EU-Beitritt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Mann tötet zwölf Menschen in Montenegro: Staatstrauer nach Amoklauf
       
       Die Opfer des Amoklaufs in Montenegro sollen Familienangehörige und Freunde
       des Täters sein. Laut der Polizei ist bisher kein klares Motiv erkennbar.
       
   DIR Stromausfälle im Kosovo: Festnahmen nach Explosion
       
       Unbekannte haben einen wichtigen Wasserversorgungskanal im Norden Kosovos
       angegriffen. Serbien bestreitet jegliche Beteiligung
       
   DIR Osteuropa-Experte über Westbalkan: „Die EU setzt Doppelstandards“
       
       Osteuropa-Experte Ulf Brunnbauer über die Lage im Westbalkan und den
       EU-Beitrittsprozess. Deutschland hat besonderes Interesse an Serbien.
       
   DIR Nato-Einsatz im Bosnienkrieg: Die Lehre von Goražde
       
       Schon vor der Kosovo-Intervention hat die Nato im Westbalkan eingegriffen
       und sogar einen Genozid verhindert. Aber der Frieden ist zunehmend
       gefährdet.
       
   DIR EU-Beitritt der Westbalkanstaaten: Dit is Berlin
       
       Erst hielt die EU sie jahrelang hin, nun will sie die Westbalkanländer
       schnell reinholen. Allerdings müssen zuvor alte Konflikte gelöst werden.